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Februar 2005
Gerald Fiebig
für satt.org


Aber das Leben lebt: Perfect Teen
(Niesom n012)

David Lipp: In immer: Love
(Niesom n014)

Gelée Royale: Wir schießen nicht daneben
(Niesom n010)

Marek: It’s These Magic Moments That I’m Living For
(Niesom n013)

   » Niesom
im Vertrieb von Trost

Wiener Postmoderne
Aktuelle Veröffentlichungen des
österreichischen Labels Niesom

Niesom steht für "nihil est omen", lateinisch für "nichts ist ein Vorzeichen" oder irgendwas in der Art. Mit Sicherheit ist der Name irgendein Insiderwitz von Wolfgang Wiesbauer und Jürgen Hofbauer (aus dem Lateinunterricht?), die in diversen Konstellationen auf Niesom veröffentlichen und als treibende Kräfte hinter dem Label vermutet werden dürfen, das offenbar einem recht eingeschworenen Freundeskreis aus hochtalentierten, experimentell arbeitenden österreichischen Musikern als Plattform dient. Versucht man den Namen programmatisch zu deuten, müsste man ihn wohl so lesen: Es gibt keinen gemeinsamen Nenner, auf den Niesom sich festlegen lassen will. Spannend sind die bisher 14 Veröffentlichungen des Ende 2002 gegründeten Labels aus Wien aber allemal – Grund genug, hier einen Blick auf die aktuelle Produktion zu werfen. Um das Fazit gleich vorweg zu nehmen: Die intelligenteste Popmusik des deutschsprachigen Raums wird nicht in Deutschland gemacht. Das letzte Album des Wiener Trios Aber das Leben lebt, das zu zwei Dritteln aus den beiden Labelmachern besteht, hieß The Aesthetics of the Seventies, diesmal haben sie’s mehr mit den Sechzigern: Streckenweise klingt Perfect Teen wie ein verschollenes Dylan-Album, produziert von Brian Wilson. Aber eben nur streckenweise, denn um eine Retro-Hommage handelt es sich bei der CD nicht. An anderen Stellen erinnert die durchwegs von unwiderstehlichen Balladenmelodien getragene – und gelegentlich mit fiesen Lärmgitarrenwänden aufgeraute – Sammlung von 17 Songminiaturen an bestimmte Schaffensperioden von John Cale (die stimmliche Ähnlichkeit ist beinahe schon unheimlich), Tom Waits oder den Nits – alles Künstler, bei denen das souveräne Spiel mit verschiedenen Musikstilen schon immer Methode war. Diese Souveränität kann man bei Aber das Leben lebt in potenzierter Form beobachten, aber sie wirkt nie gezwungen, weil die Intensität der Stücke stets überzeugt, auch wenn es um das abgedroschenste Songthema der Welt geht: die Liebe.

Dieses Thema verbindet Perfect Teen mit David Lipps (Konzept-)Album In immer: Love. Hier werden grammatikalisch deformierte Sprachhülsen ("Machen Du die richtig, / Machen ich die falsch", heißt es in Lipps Duett mit Katharina Grossmann – Ernst Jandl lässt grüßen) in einem kultiviertem Schlagerbariton dargeboten, dem extrem minimalistische, unterkühlte elektronische Arrangements ein Gegengewicht liefern. In diesen Kontrasten kann man tatsächlich, wie es der Covertext von Jürgen Hofbauer suggeriert, eine musikalische Inszenierung des uralten Konflikts zwischen dem Streben nach Liebe und dessen Scheitern sehen. Die Liebesdramen, die die CD vorführt, finden also nicht im Text statt, sondern in der Musik selbst. Die Stilisierung des Künstlers auf den Coverfotos (als Karikatur eines klassischen Komponisten am Flügel) und die Linernotes unterstreichen das extrem hohe Maß an Selbstreflexivität, das der Popmusik der Niesom-Künstler eigen ist, wenn auch meistens in weniger ausdrücklicher Weise. Umso angenehmer, dass die Gefahr, eine Klugscheißer-Pose einzunehmen, von vornherein gebannt wird, indem die Linernotes ihren akademischen Habitus so übertreiben, dass sie sich selbst persiflieren. Denn bei Niesom weiß man: Auch die Selbstreflexion ist ein Stil, den man nicht zu ernst nehmen darf, ohne ins Klischee zu verfallen.

Auf einer ganz ähnlichen Methode wie David Lipps Kompositionen basiert das Stück Sex Machine von der neuen Gelée-Royale-CD Wir schießen nicht daneben: Es besteht nur aus den beiden Zeilen "Ich bin sexuell attraktiv / Glaube versetzt Berge". Man sieht schon, die Selbstironie von Gelée Royale ist um einiges weniger subtil als die von David Lipp, aber umso unterhaltsamer. Abgeklärte Tracks, die das Beste aus verschiedenen New-Wave-Traditionen von Wire bis Einstürzende Neubauten zu nutzen verstehen, werden mit Toyota-Werbeslogans, Peter-Alexander-Zitaten und Reflexionen über die popkulturelle Bedeutung(slosigkeit) von T-Shirt-Motiven betextet.

Ganz ohne Selbstironie kommt hingegen das Album des Songwriters (Christoph) Marek aus, dessen Titel mindestens ebenso programmatisch zu verstehen ist wie der Labelname Niesom: It’s These Magic Moments That I’m Living For. Klar, darum geht es im Leben, in der Liebe und eben auch in der Musik – und zwar unabhängig davon, wie luzide man über Sinn und Unsinn, Möglichkeiten und Begrenzungen des eigenen Musikmachens zu reflektieren vermag. Denn noch der intellektuellste, abstrakteste Musikentwurf wurzelt letztlich darin, dass der Musizierende irgendwann von dieser Magie berührt worden ist und diese immer wieder herzustellen versucht. Deshalb ist dieses in Verzweiflung getränkte Country-Folk-Album mit seinen Anklängen an Colin Oberst (Bright Eyes) und andere Schmerzensmänner aus dem Mittleren Westen, mit seiner schrappeligen Akustikgitarre und dem billigen Keyboardsound, nur auf den ersten Blick ein Fremdkörper im Labelprogramm von Niesom. In Wahrheit wird das aktuelle Niesom-Programm durch diese Magic Moments emotional geerdet. Womit sich einmal mehr die banale, aber nichtsdestoweniger wahre Formel bestätigt, dass sich in wahrhaft großer Kunst Intelligenz und Leidenschaft verbinden.