Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Januar 2005
Hajo Mönnighoff
für satt.org


UltraSchall - Das Festival für neue Musik
14. - 23. Januar 2005 in Berlin

Teodoro Anzellotti, Akkordeon
ensemble recherche

17.01.05 Sophiensæle

Sendung der Konzertaufzeichnung:
20.01.2005, 20:03 im DeutschlandRadio Berlin
30.03.2005, 21:04 im Kulturradio des RBB

Zum Thema:
In Nomine
The Witten In Nomine Broken Consort Book

KAIROS 2005

In Nomine

UltraSchall
Das Festival für neue Musik
14. - 23. Januar 2005 in Berlin

Erinnerung an die Revolution war der Titel eines Abends, den Deutschland Radio Berlin und RBB im Rahmen ihres gemeinsamen Festivals UltraSchall in den Sophiensælen veranstalteten. Das Festival für neue Musik findet 2005 bereits zum siebten mal statt und gehört schon längst zu den bedeutenden Orten für gegenwärtige Musik in Deutschland. Eine Sonderstellung nimmt es dabei ein, indem sein Hauptakzent nicht auf Uraufführungen liegt (die es gleichwohl gibt), sondern Kompositionen vorwiegend der letzten fünfzehn Jahre, die sich bereits behaupten haben, das Programm ausmachen. Daneben stehen bereits "klassisch" gewordene Stücke der Avantgarde und – seit 2004 – auch das Musiktheater.
Das ensemble recherche ist seit Beginn regelmäßig zu Gast bei UltraSchall. Ergänzt wurde es in diesem Jahr durch Teodoro Anzellotti.

Sebastian Clarens Potemkin I: Baby-Baby (2004) für Violine, Viola, Violoncello und Akkordeon ist der erste Teil einer Vertonung von Sergej Eisensteins Revolutionsdrama Panzerkreuzer Potemkin. Dabei ist weder eine Duplizierung der Filmhandlung mittels Musik noch eine ergänzende Kommentierung Ziel des Komponisten, vielmehr steht eine Reduktion auf die strukturellen Eigenheiten des Films, eine nicht weiter modifizierte Übertragung der Schnittfolgen auf das Stück im Vordergrund. Die filmische Zeitdramaturgie soll so in eine musikalische übersetzt, das musikalische Material in einer Art perspektivisch behandelt werden, die an den Kameraeinstellungen der Filmvorlage orientiert ist. Die Befreiung von einer engeren inhaltlichen Verknüpfung öffnet dieser Filmmusik auf überzeugende Weise den Weg in den Konzertsaal. Die Aufführung konnte deshalb auch mit einiger Selbstverständlichkeit auf die Vorführung des vertonten Filmteils verzichten. Das bekommt Filmmusik im Allgemeinen nur dann, wenn die mit ihr korrespondierenden Filmszenen aus der Erinnerung heraus ein Minimum an Präsenz erreichen, hier gelang es, ohne weitere Anforderungen an das Filmgedächtnis des Zuhörers zu stellen. Beginnend mit lang gehaltenen Akkordeontönen bewegt sich die Musik wie aus der Ferne langsam in den Vordergrund. Aus dem für alle Instrumente anfangs gleichen, engen Tonraum heraus entwickelt sich nach und nach eine motivisches Geschehen, das stets aus anderen Blickwinkeln präsentiert und räumlich angeordnet wird. Aus einer über weite Strecken klaren, fast durchscheinenden Textur entstehen gelegentlich dichte, sehr in eine Richtung drängende Ensembleklänge, die schnell wieder auseinander driften. Mag auch der politische Inhalt des Films mit dem Anliegen des Komponisten nichts mehr gemein haben und revolutionäres Pathos völlig ausgeklammert sein, es kommt einem doch nicht in den Sinn, hier politische Enthaltung und einen rein ästhetisierenden Zugang zur Vorlage entdecken zu wollen. Vielmehr zeigt sich ein Misstrauen gegenüber aufwendigen, medial vermittelten Überzeugungsanstrengungen, deren mögliche Gestalt hier als Modell vorgeführt wird.
Dass ein filmischer Spannungsbogen auch derart abstrahiert noch seine Wirkung entfalten kann, zeigt neben der unbestrittenen Könnerschaft des Regisseurs, was Sebastian Clarens Stärke bei dieser Komposition ist. Es gelingt ihm eine Spannung über das Gehörte fühlbar zu machen, die sich erwartungsgemäß eher über das Bild mitteilen müsste. Das Strukturgerüst ist mit einem musikalischen Leben gefüllt, das genug Kraft hat, um den fast zwanzigminütigen Bogen ohne Einbrüche zu halten und für den Zuhörer nachvollziehbar zu machen – man sieht dem Abschluss dieses mehrjährigen Projektes mit Erwartung entgegen.

Wenn Erinnerung an die Revolution auch eine Erinnerung an die Mittel ist, mit deren Hilfe revolutionäre Überzeugung sich multiplizieren lässt, dann beleuchtet An-Sprache, Komposition für einen Musiker und seinen Körper (2000) von Robin Hoffmann in konsequenter Weise eines davon: den Körper, dessen Ausdrucksfähigkeit das Ansprechen ermöglicht. Es wäre allerdings eine unnötige Verengung des musikalisch-szenischen Geschehens in diesem Stück, wollte man es nur dabei belassen. Der Komponist bringt den ausführenden Musiker in die Situation, mit seinem Instrument nicht nur innig und wie eine Einheit zu musizieren, er ist eine Einheit mit seinem Instrument, da er ausschließlich seinen Körper bespielt. Indem jede Aktion auf ihn selbst gerichtet ist, demonstriert er die Bedingungen und Modalitäten des nach außen gerichteten Ansprechens umso eindringlicher. Klanglich zeigt sich dies in einer großen Vielfalt an Resonanzgeräuschen der Mundhöhle, die teilweise unter Zuhilfenahme der Hände entstehen, und einer reichen Palette subtiler bis sehr vernehmbarer Hervorbringungen, die mittels Befühlen, Beklopfen und Beschlagen verschiedenster Körperregionen erzeugt werden. Dazu treten Sprachpartikel wie scharfe, explosionsartig vorgetragene Konsonanten oder Gutturalklänge, die sprachlich nicht im Sinne einer durch sie repräsentierten, unterscheidbaren Bedeutung sind, die aber durch die besondere Weise ihrer Artikulation das Moment sprachlichen Mitteilens hervorheben. Eigentlich scheint hier sogar der Ausdruckswunsch selbst mindestens so sehr körperlicher wie geistiger Natur zu sein. Das Bespielen des Körpers erhält dabei eine durchaus rhetorische Dimension, besonders dort wo der Fluss der quasi-verbalen Äußerung unterbrochen und in lautloser Geste beendet wird. Die Wiederkehr einzelner Bewegungen wie insistierendes Schenkelklatschen oder Schlagen auf die Brust unterstreichen nicht einfach den banalen Eindruck, einer gegliederten Rede zu folgen, sie vermitteln vielmehr den Eindruck des Rückgriffs auf sich wiederholende Topoi.
Indem der Zuhörer und Zuschauer den Interpreten und das Instrument Körper als Einheit wahrnimmt, verwandelt sich der Körper von einem Mittel der Darstellung in das Dargestellte, wird dem jeweils Eigenen ein Gegenüber eingeschrieben. Wenn solcherart Dualitäten verschwimmen, lässt sich fragen, wo genau eigentlich der Hörer oder Zuschauer sich befindet, wenn er sich szenischem, musikalischem oder jedem anderen scheinbar nur frontal auf ihn gerichteten Geschehen zuwendet.

Kontrastierend zu den meisten übrigen Stücken des Programms lieferten drei Miniaturen von Brian Ferneyhough den Konzertauftakt und -rahmen. Hervorgehoben sei hier in nomine a tre für Flöte, Oboe und Klarinette (2001), eines von zweiundvierzig kurzen Stücken, die das ensemble recherche als The Witten In Nomine Broken Consort Book veröffentlicht. In nomine steht für die Einbeziehung bereits vorhandener Musik in eine Neukomposition, im engeren Sinne ist hiermit eine englische Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts gemeint, die mit einer Messkomposition aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts beginnt. Ferneyhoughs in nomine gemahnte in seinem Verlauf denn auch wiederholt an den Klang sakraler Chorpolyphonie.

Sein im Vergleich dazu skizzenhafter, sehr kurzer Satz für Streichtrio (1994) eröffnete die zweite Konzerthälfte und schien gerade in seiner Kürze bereits ein Verweis zu sein auf die Konzentration auf den Moment in Isabel Mundrys dreisätzigem traces de moments (2000) für Klarinette, Violine, Violoncello und Akkordeon.
Es sind Fragen der Wahrnehmung, die Isabel Mundry in ihren Kompositionen beschäftigen, in traces des moments ist es die Wahrnehmung des Moments, seine Abbildung im Bewusstsein: "Lebenszeit und ästhetische Zeit kreisen um dasselbe Phänomen, dem ich mich im Alltag nicht entziehen, aber in der Komposition durch Reflektion bewußt annähern kann". Anstoß zu dieser Reflektion war für die Komponistin die Ähnlichkleit eines unveränderlichen, zeitenthobenen Wellenmusters in einem Kiesbeet in Nachbarschaft zu einer stets bewegten Wellenstruktur auf einer Teichoberfläche, die sie in einem japanischen Garten beobachtete. Die Begrenztheit des Moments, gleichzeitig seine zeitliche Spur werden in einem im Verlauf des Stückes wiederholt auftretenden Unisonoimpuls fokussiert, dynamisch, rhythmisch und klangfarblich aufgefächert und zum Ausklang gebracht, an welchen anschließend dieser Dreischritt wieder, zeitlich vergrößert erfolgt. Das Stück gelangt so immer aufs Neue zu einer Innenansicht des Moments. Ein Merkmal der rhythmischen Proportion, ein 3:2-Verhältnis, wird dabei im zweiten Satz in die Vertikale gewendet und damit dem Intervall der Quinte eine formtragende Bedeutung zugewiesen. Isabel Mundry schränkt deren Gültigkeit wieder ein, wenn sie nach ungefähr einer Minute durch einen Akkordeoncluster das Wechselspiel zwischen Determination und Offenheit in den Vordergrund holt. Diese Offenheit steht auf ihre Art in einem Verhältnis zum fest gefügten musikalischen Geschehen, mit Isabel Mundrys Worten: "Die freie Handlung erweist sich als spezifische Relation, und auch sie entwickelt wieder neue Strukturen".

Neue Strukturen auch klangfarblicher Art gewinnt Mathias Spahlingers éphemère für Schlagzeug, veritable Instrumente und Klavier (1977) durch den Einsatz von Klängen, deren Erfahrung tief im Alltag situiert ist, dort aber meist die Bewusstseinsschwelle nicht überschreitet. Zum Einsatz kommen mit den veritablen Instrumenten Haushaltsgegenstände und Klangerzeuger aus weniger als musikalisch wahrgenommenen Bereichen der Lebenswirklichkeit von Backblechen über Bierflaschen bis zu Blechröhren. Das gleichzeitige Erklingen solcher Instrumente zusammen mit dem Klavier rückt das unkontrollierbar Scheinende, das diese unorthodoxe Art der Klangerzeugung mit sich bringt, in einen Zusammenhang, der einer Ordnung zumindest zustrebt, insoweit als die festen Höhen der Klaviertöne einen Bezugsrahmen für das muntere Scheppern und Bimmeln schaffen. Umgekehrt verliert das Klavier passagenweise gerade in dieser Umgebung aus vielen nicht näher bestimmten Tonhöhen und wenig konstanten Farben einiges von seiner Ordnungsmacht. Diese wie auch die traditionelle Frontalsituation des Konzertes werden gehörig auf den Arm genommen, wobei das Publikum freilich "Empfänger" bleibt, der sich gern etwas bieten lässt – und sei es das platschende Geräusch des Schlagens in ein Wassergefäß, das etwas abseits vom restlichen Geschehen, dafür jedoch mit seinen raumgreifenden Auswirkungen direkt vor den Zuschauern zu erfolgen hat. éphemère bewahrt dennoch Abstand zum Klamauk. Unversehens dreht das Stück aus einer heiter-chaotischen Situation ab in einen Moment des Zwangs: 65 mal wird die Kleine Trommel langsam und "so gleichmäßig wie möglich" geschlagen. Es entstehen Momente, in denen das soeben Geschehene verblasst und ein Danach kaum vorstellbar erscheint – ein Eindruck nicht mehr der Ordnung, sondern struktureller Gewalt drängt sich auf, der sich durch ein in die Höhe gehaltenes "Peng!"-Plakat für einen Augenblick zu verflüchtigen scheint, dann aber gleich wieder die Oberhand gewinnt. Vielleicht treffen hier Revolutionsversuch und bizarre Kontrollphantasie aufeinander. Vielleicht leuchtet hier der Deutsche Herbst durch, dessen Jahr auch das der Entstehung von éphemère ist.

Diese überaus kontrastreiche Programm wurde vom ensemble recherche und Teodoro Anzellotti ebenso konzentriert wie spielfreudig dargeboten. Die Oppositionen und das Verbindende zwischen einzelnen Werken greifbar zu machen, dabei aber nicht das jeweils Eigene der Kompositionen aus dem Blick zu verlieren, ist zur Freude der Zuhörer sehr gelungen. Nebenbei war dies ein Konzert, das zeigt, wie wenig unzeitgemäß und wie Gewinn bringend es sein kann, Programme mit komponierter Neuer Musik zu konzipieren.