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Januar 2005
Christina Mohr
für satt.org


Tocotronic:
Pure Vernunft darf niemals siegen

L’Age d’Or 2005
Tocotronic: Pure Vernunft darf niemals siegen
» amazon

Pure Vernunft
darf niemals siegen


These Boys were Tocotronic

Zuerst mal das Konkrete: Tocotronic sind jetzt zu viert, der Tour-Keyboarder Rick McPhail ist nun festes Mitglied und spielt die zweite Gitarre. Das bekommt den Toco-Songs sehr gut, der Band gelingen Intros, die an Echo and the Bunnymen oder gar die Smiths erinnern, zum Beispiel auf der Singleauskopplung "Aber hier leben, nein danke" (VÖ 24.1.05) und hymnisch angelegte Melodien wie in "Höchste Höhen" . Dirk von Lowtzows Stimme klingt so gut wie noch nie, reif und sonor, der schrammelige Hamburger-Schule-Sound hat sich zu exquisiter Qualität verdichtet.

So, und jetzt wird es problematisch. Ich werde mich nicht in den Reigen derer einreihen, die erzkonservativ und verstockt ihre alte Lieblingsband wiederhaben wollen und auf dem Umstand herumreiten, dass sich Tocotronic verändert haben, nicht mehr die Alten bzw. Jungen von damals sind, bla bla bla. Nachzulesen bei Amazon, Intro und in vielen anderen Foren. Dennoch wirft die Platte Fragen auf, von denen man nicht unbedingt dachte, dass sie von Tocotronic kommen könnten.

Tocotronic befinden sich in einer Orientierungsphase, noch ist unklar, wohin die Reise gehen wird. Anders als März, die ihre aktuelle Platte ebenso lapidar wie selbstbewußt "Wir sind hier" genannt haben, suchen Tocotronic nach einem Weg und stecken in einer Zwischenwelt, im Reich der Schatten und der Untoten; schon das Cover drückt diese Uneindeutigkeit aus: die Band halb im Wald, halb Mann, halb Baum, zwischen Style und Esoterik. Von Zerrissenheit zeugt auch der Text von "Aber hier leben, nein danke", dessen Titel sicherlich wieder Karriere als T-Shirt-Aufdruck machen wird.

Ich mag die Wolken und den Wind
Ich mag das Licht, das du mir bringst
Wenn Du Dich um mich bemühst
Wenn der Wahnsinn flammend grüßt
Wenn die Träume Funken sprühen
Und die weißen Blumen blühen
Ich mag die Engel, kurz vor dem Fall
Diamanten aus dem All
All das mag ich
All das mag ich (Volker Lechtenbrink läßt grüßen! Anm. cm)
Aber hier leben, Nein Danke

Toco im Zwiespalt, im Zwielicht, zwischen Innen und Außen, Drinnen und Draußen, Ratio und Romantik: "Aber hier leben, nein danke!" ist weniger Protestsong (gegen den Staat etwa oder "Eure" Welt, etc.pp), sondern vielmehr Ausdruck einer Nicht-Haltung, erstmal schauen, mal ausprobieren (den Wahnsinn, die Auflösung, das Hippieidyll). Die blaue Blume der Romantik blüht hier unschuldig-weiß und kann noch alle Farben annehmen. Zu stark ist der Einfluß des Urbanen, der doch nicht aufgegeben werden will. Auch wenn in den Songs Tiere, Wald und überhaupt viel Natur vorkommen, starten Tocotronic keine ökologische Revolution, kämpfen nicht für Karl den Käfer. Es scheint nur, als seien sie des Tagesgeschehens überdrüssig, Sprachrohr einer Generation sind sie nicht mehr und wollen es – in Gesellschaft von Wir sind Helden und Mia. – auch nicht sein. Und entfliehen ins Universum, selbst Seattle scheint zu eng und zu nah und vor allem zu sehr als konkreter Ort.

Tocotronics große Qualität lag eindeutig in der Miniatur, im Pizzaessen mit Mark E. Smith, dem Verachten von Kleinkunst und Freiburger Fahrradfahrern. Das Konkrete war ihr Metier, und viele erkannten sich in den Texten, den Frisuren, den Trainingsjacken, dem intelligenten Slackertum, das nie wirklich Punk war, aber Rebellion und Aufbegehren wieder zu selbstverständlichen Aufgaben der Jugendkultur machte, wie es Epigonen à la Sportfreunde in tausend Jahren nicht fertigbringen werden. Tocotronic waren das Ideal der deutschen Indieband, gut aussehend, jung, intelligent – eine Boygroup, deren Poster man nicht verschämt in die Innenseite der Kleiderschranktür pinnen mußte. Doch die Zeiten von Tick, Track, Tocotronic sind vorbei, das zeichnete sich schon auf ihrem "weißem Album", der schlicht "Tocotronic" betitelten Platte von 2002 ab. "Hi Freaks" war das vielleicht letzte Aufkeimen von Humor und "This Boy is Tocotronic" war Definition und Abschied in einem.

Der Weg vom Konkreten ins Allgemeine und Abstrakte ist weit, beschwerlich und auf "Pure Vernunft" häufig kaum nachzuvollziehen. Ich wollte zwar vermeiden, den Namen "Blumfeld" ins Feld zu führen, merke aber jetzt, dass dies schier unmöglich ist. Zu auffällig ist die Nähe zu Blumfeld beispielsweise im Song "Alles in Allem", mit dem ein ähnlich universales, ewiggültiges Stück wie "Jenseits von Jedem" geschaffen werden wollte. Aber Diestelmeyer wirkt im Vergleich mit Lowtzow ungleich freier, souveräner, ja, unbeschwerter – und an JDs poetische Virtuosität wird DvL so bald nicht herankommen. Geblieben ist das Talent für den Slogan, den griffigen Songtitel wie zum Beispiel "Keine Angst für Niemand" oder "Cheers for Fears". Aber dem Slogan Fleisch auf die Rippen zu zaubern ist harte Arbeit. Den Satz "Pure Vernunft darf niemals siegen" hätte auch Novalis schon dick unterstrichen, doch Dirk vL gehen hier die Pferde bzw. Einhörner durch:

Pure Vernunft darf niemals siegen
Wir brauchen dringend neue Lügen
Die uns durchs Universum leiten
Und uns das Fest der Welt bereiten
Die das Delirium erzwingen
Und uns in schönsten Schlummer singen
Die uns vor stumpfer Wahrheit warnen
Und tiefer Qualen sich erbarmen
Die uns in Bambuskörben wiegen
Pure Vernunft darf niemals siegen

La la la la la la la la la la la la la la la la la
La la la la la la la la la la la la la la la la la

Wir sind so leicht, dass wir fliegen
Wir sind so leicht, dass wir fliegen

Hm. Ich glaube, dass sich Dirk von Lowtzow von seinen letztjährigen Ausflügen ins Fantasy- und Kunstmetier nie wirklich erholt hat. Das von ihm gelesene H.P. Lovecraft-Hörbuch "Pickman's Modell" und die Märchenstunde in der Frankfurter Schirn mit Jonathan Meese (Meese und Lowtzow lasen Märchen vor, spielten dazu Gitarre und improvisierten live neue Geschichten ) müssen tiefgreifende Veränderungen in seinem Denken und Empfinden bewirkt haben. Vielleicht hat Meese auch interessante Drogen offeriert (ich sag nur "Diamanten aus dem All"), und einen neuen Kosmos eröffnet. Ist ja auch in Ordnung, man muss nur damit umgehen können, alles eine Frage der Dosierung.

Der letzte Song der Platte, "Ich habe Stimmen gehört" ist programmatisch:

Alles wird umgeweiht
In eine Herrlichkeit
Jetzt bin ich bereit
Ich fürchte nichts, weit und breit
Ich werde frei sein und gehen
Zur nächsten Station

Tocotronic müssen "durch den Spiegel gehen" (wie im Song "Gegen den Strich"), um nicht als Zombies durch die Rockwelt zu wabern. Bin gespannt auf die nächste Station.