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24. Januar 2022
stefan heuer
für satt.org
 

Zusammen waren wir leichter als jeder für sich allein

Manchmal muss man einfach nur abwarten.

Es ist schon einige Monate her, dass ich »Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde« zur Rezension erhalten habe, und natürlich hätte ich es sofort lesen können – nun aber kann ich dies tun, während ich zeitgleich das neue ABBA-Album höre.

Wobei: Bei Ben Schneider, dem Hauptprotagonisten von Andreas Heidtmanns Debütroman, könnte ich mit der von Björn Ulvaeus & Co. begleiteten Lektüre nicht punkten. Ganz im Gegenteil, denn Ben und seine auf Deep Purple, Jimi Hendrix und die Rolling Stones stehende Clique verachten die schwedische Gruppe als reine Zumutung und Provokation, als »Erfindung für Kleinbürger mit Plüschgarnitur und zu viel Ohrenschmalz in den Gehörgängen.«

Ben lebt mit seiner Familie (Vater, Mutter, älterer Bruder) im (fiktiven) Lippfeld, einem Dorf im Nirgendwo des Ruhrgebiets: Es herrscht die typische »Langeweile zwischen Clubraum und Eiscafé, zwischen Baggersee und verwaisten Bushaltestellen, zwischen Vätern, die Rasen mähten, und Müttern, die Obstkuchen buken, es war unser Los, nichts, was den anderen gefiel, erträglich zu finden und alles zu mögen, was ihnen missfiel, ... während wir am Schwanenteich hockten, sommerabendelang Bier und Wein tranken und rauchten und uns ausmalten, wie wir der Monotonie und dem Mief entkämen, ... den schlagerbestückten Musicboxen und dem rituellen Leerlauf der Feiertage.«

Ben ist 14. Susanna, das in der Bungalow-Siedlung des Dorfes wohnende Objekt seiner erwachenden Begierde, ist ein knappes Jahr jünger. Ihr Vater war einst als Schlagzeuger mit Christian Anders (ehemals erfolgreicher Schlagersänger, B-Movie-Darsteller und Besitzer eines vergoldeten Rolls-Royce, der nach Beendigung seiner Sangeskarriere ins esoterische Fach wechselte und zuletzt vor allem mit verschwörerischen Umdichtungen seines größten Hits »Es fährt ein Zug nach Nirgendwo«aufgefallen ist) im Studio und auf Tour und hat sein Leben an den reichlich genossenen Alkohol verloren, weshalb Susanna der allabendlichen Sauferei am Schwanenteich nichts abgewinnen mag. Zwischen Ben und Susanna herrscht ein von Schüchternheit dominiertes Anschmachten – was Ben jedoch nicht daran hindert, seine Gedanken und seine Zunge von Zeit zu Zeit zu anderen Mädchen wandern zu lassen.

»Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde« begleitet die beiden als poetischer Episodenfilm und ist Zeuge eben jener Ereignisse, die wohl beinahe jeden Menschen fortgeschrittenen Alters an seine eigene Jugend zurückdenken – bzw. zurückfühlen lassen: die Schulkameraden (Streber, Labertaschen und Schleimer inklusive) und das morgendliche Abschreiben der Hausaufgaben im Schulbus, die Eigenarten der Lehrer und deren Spitznamen, die erste Liebe und die damit einhergehenden Eifersüchteleien, die musikalische Sozialisation.

Erfreulicherweise ist das Buch keine bloße Aneinanderreihung dummer Schulstreiche und sonstiger Anekdoten a la »Lümmel von der letzten Bank», sondern hat auch seine ernsten und ruhigen Passagen und Töne: seien es die vom Vater erzählten Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg (den dieser als Kind bzw. junger Teenager erlebte) oder der überraschende Tod eines Mitschülers und dessen an Ben gerichteter und wirklich zu Herzen gehender Abschiedsbrief. Und schließlich der Suizid des Vaters eines Freundes, der dazu führt, dass dieser Freund und sein älterer Bruder das Haus, in dem sie wohnen, nicht halten können und ihnen droht, auf die Straße gesetzt zu werden. Gemeinsam mit den anderen beschließt Ben, den Brüdern zu helfen, was mit harmlosen Plakaten gegen Spekulantentum am Haus beginnt und dank zahlreicher Joints und aufstachelnder Musik schnell außer Kontrolle gerät …

Das alles verströmt bewusst den Zeitgeist der 1970er Jahre, sei es durch die vom Schlager bestimmte Musikszene, BRAVO-Starschnitte von Sweet, Perlonkittel, das Abhalten von Engtanz-Partys in vertäfelten Partykellern oder das in die Luft gehende HB-Männchen. Die Musik indes bildet den alles umspannenden Rahmen und fungiert als identitärer Ruhepol, als der eigene Anker in der Welt, gerade in bewegten Zeiten. Und tut dies auch im Gegensatz, denn trotz seiner Affinität zu lauter Rockmusik erhält Ben Klavierunterricht und spielt schließlich sogar am Essener Folkwang Konservatorium vor, um kurz darauf tatsächlich eine Zusage zu erhalten: »Keine Formulare, keine Loblieder, aber im weiteren Verlauf ein Hinweis auf eine Einführungsveranstaltung. Okay, ich ging in den Garten, jubelnd, wenn das innere Rumoren Jubel war, und kickte im Überschwang zwei, drei Kohlköpfe um, als seien es perfekt platzierte Bälle auf einem Elfmeterpunkt.«

Coming of age – nicht, dass dies alles zuvor noch nie beschrieben worden wäre, aber man kann es eben so oder so machen, schlecht oder gut, gewöhnlich/statisch oder lebendig, und Andreas Heidtmann macht es ohne Frage gut und lebendig. Die Charaktere sind glaubhaft, die Dialoge erfrischend ungestelzt. Ein liebevoller Blick auf die Melancholie der Jugend und ein schönes Sinnbild für die Bedeutung von Solidarität in Zeiten des erwachenden Individuums.