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5. August 2019
Kirsten Reimers
für satt.org
  Ludwig Lugmeiers Faktenroman »Die Leben des Käpt’n Bilbo«

Ludwig Lugmeier: Die Leben des Käpt’n Bilbo. Faktenroman, Verbrecher Verlag 2017
geb., 250 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-95732-279-1
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Stoff für viele Leben

Ludwig Lugmeiers Faktenroman Die Leben des Käpt’n Bilbo

„Ich glaube, wir haben beide eher zu viel als zu wenig erlebt“, schreibt Jack Bilbo 1953 in einem Brief an die Schauspielerin Tilla Durieux – liest man Ludwig Lugmeiers Biografie und Faktenroman Die Leben des Käpt’n Bilbo, kann man dem nur zustimmen: Die Erlebnisse scheinen ein einziges Leben zu sprengen. Und dennoch hat sich Käpt’n Bilbo weitere hinzugedichtet: Fünf autobiografische Bücher hat er veröffentlicht, doch keines spiegele den tatsächlichen Lebensweg wider, so Lugmeier: Sie seien „Phantasieprodukte, Fiktionen, aus Filmen gewonnen und mit Erlebtem vermischt“. Aber auch im wirklichen Leben hat Käpt’n Bilbo sich immer wieder neu erfunden – ein Mann, der sich in kein Schema pressen lässt.

Jack Bilbo wurde 1907 in Berlin als Hugo Cyrill Kulp Baruch geboren, Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie, die eine von Deutschlands führenden Firmen für Theaterausstattung besaß. Bei den opulenten Abendgesellschaften des Hauses Baruch verkehrten Theaterdirektoren, Regisseure, Maler, Sängerinnen, Schauspieler. Max Reinhard ging dort ein und aus, selbst Kaiser Wilhelm II. war einmal zu Gast.

Hugo Baruchs Leben war von Anfang an bewegt: Seine Mutter, eine Engländerin, lässt sich 1915 nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs u. a. wegen der anti-englischen Stimmung in Deutschland scheiden und emigriert mit ihrem Sohn in die neutralen Niederlande. Nach Kriegsende kehren beide während der Revolution zurück, die Mutter wird in eine Nervenheilanstalt abgeschoben (und 1940 in den Gaskammern der Nazis ermordet), der Sohn überwirft sich mit dem Vater und wird nach New York verfrachtet. Wegen einer Unterschlagung Hugos kommt es zum endgültigen Bruch.

  Ludwig Lugmeier

Ludwig Lugmeier
(Foto © Nane Diehl)

Zurück in Berlin assistiert Baruch dem Regisseur Fritz Lang, ist irgendwie am Dreh von Das Cabinet des Dr. Caligari beteiligt, wird Sparringspartner von Max Schmeling und schreibt unter dem Pseudonym Jack Bilbo Anfang der 1930er Jahre die fiktive Biografie Ein Mensch wird Verbrecher. Unter anderem behauptet er darin, er sei „Gun Man“ von Al Capone in Chicago gewesen – eine Erfindung, die er so oft wiederholt, dass seine Zeitgenossen sie ihm glauben. Das Buch wird ein Bestseller, und das Pseudonym behält der Autor von nun an bei.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 entkommt Jack Bilbo nur knapp den Schlägertruppen der Nazis; er kann nach Mallorca fliehen, wo er seine erste Bar eröffnet. Von nun an nennt er sich Käpt’n Bilbo. Er kämpft im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Anarchisten, flieht nach dem Sieg Francos nach England, wird im Internierungslager für B. Traven gehalten und gründet dort eine Volksuniversität. Nach seiner Entlassung beginnt er zu malen und eröffnet in London unter anderem die Modern Art Gallery, eine der bedeutendsten Galerien dieser Zeit. Dort stellen nicht nur Kurt Schwitters, Picasso, Modigliani oder George Braque aus, es fand auch die erste Ausstellung nur für Künstlerinnen statt.

Da ihm Ende der 1940er Jahre die britische Staatsbürgerschaft verweigert wird, verlässt er Großbritannien mit seiner damaligen Frau auf einem wenig fahrtüchtigen Kahn. Sie tuckern entlang der Küste Frankreichs, bis sie in Sanary-sur-Mer liegen bleiben. Hier eröffnet Jack Bilbo mit seiner Frau Owo ein Restaurant, in dem Prominente ein- und ausgehen.

Als das Geld knapp wird, übersiedeln sie Anfang der 1950er Jahre nach Berlin, wo sie „Käpt’n Bilbos Hafenspelunke“ eröffnen. Unter den illustren Gästen ist unter anderem Henry Miller, der das Vorwort zu Bilbos Buch Rebell aus Leidenschaft schreibt. Die Kneipe ist in Sichtweite seines früheren Elternhauses, doch von der etablierten Familie ist nichts geblieben. Über 80 Verwandte sind während der Nazizeit ermordet worden. Für das beschlagnahmte millionenschwere Vermögen der Familie erhält Bilbo nur eine winzige Opferentschädigung. 1967 stirbt er in Berlin, fast zwei Zentner schwer, leidend an Diabetes und Blutdruckbeschwerden. Seine Beerdigung findet im großen Kreis statt – und doch ist er bald vergessen.

Ein Leben, das in seiner Fülle kaum zu fassen ist. Ein Leben auch, in das sich die Umbrüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingegraben haben. So abenteuerlich sich die Lebensgeschichte liest: Lugmeier romantisiert Käpt’n Bilbo an keiner Stelle. Er zeichnet ihn als Verfolgten und Getriebenen, als einen, der immer wieder bettelarm von null anfängt, sich auch oft selbst im Weg steht, rastlos und haltlos, mehr Überlebens- als Lebenskünstler. Dies spiegelt sich gelungen in Lugmeiers Schreibstil wider: kurz getaktet und mit erzählerischer Wucht. An keiner Stelle geht Lugmeier dem Käpt’n in die Falle, glaubt ihm keine noch so schöne Geschichte, stattdessen hat er sorgfältig recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen, jede Behauptung Bilbos hinterfragt und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Auch darum passt die Bezeichnung „Faktenroman“ sehr gut.

Es ist ein ungemein spannendes Buch über eine ungewöhnliche Persönlichkeit in einem bewegten Jahrhundert – geschrieben von einem Autor, der kaum weniger schillernd ist als seine Hauptfigur: Ludwig Lugmeier war Gangster und Millionendieb, über Jahre auf der Flucht – unter anderem entzog er sich einem Prozess in Frankfurt, indem er durch ein offenes Fenster des Gerichtsgebäudes sprang. Mehrfach war er inhaftiert; während seiner ersten Haft begann er ernsthaft und mit Erfolg zu schreiben. Heute lebt er als Autor in Berlin.