|
Elisabeth Wandeler-Deck, Visby infra-ordinaire. listen, würfel, finden. Mit einem
Nachwort von Florian Neuner. 118 Seiten, broschiert. edition taberna kritika,
Bern 2018. 16,00 Euro (ISBN: 978-3-905846-48-5) » Verlag
|
Die wiedergefundene Erschütterbarkeit
Elisabeth Wandeler-Decks Visby infra-ordinaire ist ein Lebensbuch
Visby
infra-ordinaire
ist auf den ersten Blick ein Stück der vielgeschmähten Stipendienliteratur. Die
Zürcher Autorin und Performerin Elisabeth Wandeler-Deck macht aus einer
Autorenresidenz indes ein Spiel mit dem Klischee und mit dem Genre der Inselliteratur, nebst allem utopischen und
realpolitischen Potential. Leitende Idee ist das Durchspielen von John Donnes
Sentenz „No man is an island“ anhand eines Aufenthalts auf der Insel Gotland;
der pathetische Glockenschlag („for whom the bell tolls“) aus Donnes Meditation
fehlt in Wandeler-Decks eigenen wohlgestörten und weniger wohlgestörten
Prosameditationen denn auch nicht. Die Sinnbildlichkeit der Insel wird nicht
nur narrativ verhandelt; auch deiktisch wird diese Verinselung dargestellt
durch unterschiedliche Farbgebung der Typographie: Blau, Grün, Rot und Braun
dominieren, nicht von ungefähr an eine geographische Karte oder eine
Ansichtskarte erinnernd.
Neben
dieses showing, eine verschriftliche Diashow (daher vielleicht auch die
Farben), und die Narration treten stark reflexive Passagen, die durchsetzt sind
vom abgeklärten Wissen über die zitierbare Verfügungsmasse (Heldenreise,
Robinsonade, Lebensentwürfe von Existentialismus bis Postmodernismus, Othering
u. dgl. mehr) und mit sympathischem bis kokettem Understatement vorgetragen
werden. Das Projekt behauptet qua Titel, sich unterhalb des Gewöhnlichen
anzusiedeln, und obendrein eine Unterbietung oder aber ein Unterlaufen des Genres
Reiseliteratur vorzunehmen. Die Sprache ist zu Beginn der Narration, bei
Vorbereitung der Reise nach Visby, in der Tat berichtend nüchtern, selten
fallen dialektale Färbungen („es hat Nebel“) auf. Der Einstieg in das Buch ist
allerdings alles andere als ´infra-´, sondern eine Beschreibungs- und
Genauigkeitsüberbietung, die sich immer wieder als kontemplativer Text
zu verstehen gibt und dabei Ansprüche auf Sinnstiftung geltend macht: „Ich
setze mich auf einen Blechkoffer und denke über das Leben nach. 27. Juli.“
Der
Verlauf dieses mit kaum mehr als hundert Seiten doch recht übersichtlichen
Buchs gibt wenig Anlass dazu, dass dieser philosophisch-essayistische Anspruch
aufgegeben wird. Der Titelzusatz „infra-ordinaire“ ergibt denn auch als Hinweis
auf die mit dieser Haltung verbundene Schreibart allemal Sinn. Elisabeth
Wandeler-Deck begnügt sich nicht mit einer Dekonstruktion der o.g. Genres, sie
möchte radikal neu ansetzen; „infra-ordinaire“ verweist explizit auf
oulipistische Vorlagen (Jacques Roubaud und dessen tokyo „infra-ordinaire“),
ohne die Infrarealisten, bei denen die Autorin ebenso viele Aktien hält, zu
erwähnen. Wandeler-Deck zitiert gelegentlich Reiseführer und Broschüren, um
sich den Erwartungshorizonten einigermaßen konsequent zu entziehen. Entstehen
soll Literatur von unten, aus dem Unbewussten; dazu gehört der selbstbewusste
Abgleich mit dem, was andere (von Ingeborg Bachmann über Chris Bezzel bis
Ingmar Bergmann und Italo Calvino) zu den Phänomenen Insel, Städte, Ränder,
Grenzen, Diarien, Utopien, Zeitwahrnehmung zusammengetragen haben; von
Interesse ist so ziemlich alles, was Metonymie begünstigt:
1.1 Spezifikation dazu
1.1.1 Sehr still
1.1.2 (Hier wird weniger an Visby als an die Insel, das
Inselhafte gedacht)
Ein
Unterfangen, das einigen Mut erfordert, denn es entsteht doch ein Werk, das
nicht rhetorisch-planvoll verfährt und komponiert, zugänglich macht, sondern
ein Buch, das den Charakter der Autorin freilegt, indem es ihn auf seine
Spontaneitätsfähigkeit und Widersprüchlichkeit prüft. Nur selten zeigt sie sich
beeindruckt von der eigenen Courage; Wandeler-Deck hat volles Vertrauen zu
ihren Capricen und wird selten von diesen in die Irre geführt. Immer dann, wenn
barockes Ineinandergreifen von Textur und Bild droht, wird die Autorin
eigentümlich kaltblütig schismatisch:
2.1.2 Warum ist es hier schön.
2.2 Spezifizierung dazu (→ Fotos ab DSC02596) es sind die kleinen
Vierecke.
Das
Auffordern zur Spontaneität ist wohl das schönste Beispiel für einen
performativen Widerspruch. Um sich des Verdachts, fremdbestimmt zu handeln, zu
entledigen, braucht es Regeln: WÜRFELN („we will do this by throwing the
dice)“. Es geht aber nicht um die Demonstration einer aleatorischen Methode,
die selbstgenügsam repetiert wird; das Verfahren erhebt Anspruch auf Systematik
und zitiert soziale Praktiken wie die Promenadologie, die sich auf der Schwelle
von akademischer Disziplin und aktionistischem Happening bewegen, der Zugriff
auf diese entscheidende Einflussgröße bleibt jedoch verblüffend klandestin:
3.5.1.1.1 hier ist es schön (Lucius Burckhardt, Erfinder
der Promenadologie)
3.5.1.1.2 Stellen Sie Ihrem Kaffeelöffel Fragen. (Georges
Perec)
Zwei
wesentliche Konstituenten kommen sich in dieser bewusst gestörten Realisierung
der narrativen Abfolge in die Quere: Schrift und Stimme. Im letzten Drittel des
Buchs wird dieser clash in der für Visby infra-ordinaire typisch
beiläufigen Diktion und irrwitzigen Diegese thematisiert und
performativ-poetologisch zugespitzt:
5.1.1 Woran dabei gedacht wird, dazu manches später, also jetzt,
nein, später noch. Viel später.
5.1.1.1 Referenz auf Sprache, also hier wird gesprochen, wenn
gesprochen wird.
5.1.1.1.1 Zitat Visby als wisbüü oder als visbii
gesprochen, das muss doch mal deutlich gesagt sein, ich zitiere die Chorleiterin,
sie spricht uns von den Unterschieden, als eine, die in Stockholm lebt und hier
auf der Insel arbeitet oder umgekehrt, die Grenzen des Wassers und die Grenzen
des festen Landes durchdringen einander, es ist Zeit. Beim Kentern der Tide
kommt es kurze Zeit zu einem Stillstand der Gezeitenströmung. Und da sieht man
kurz auf.
5.1.1.1.1.1 wisbüü
5.1.1.1.1.2 VISBY vis biiiii wisb?
wild wind wissen innen immer ist
ich irgend insel irritieren insistieren nie
niemals nirgends
fisch kissen kiste gries licht
missen wissen nisten sieben
siebte gesiebt innern bissen bist kissen list
liste liste
blister
riss niesen nieseln nieselte
geniessen blind bissen bist
bist bist
blitz trieben stieben hieb
gieben
bringen bürste bücher büchse
rücken zücken stück lücke glück grütze
lüstern früh über üben
Die
akribische Beschreibung zu Beginn des Buchs wird flankiert von einer
akribischen Aufzählung, die einer Aufzählungsmanie weicht, bei der nur gewiss
ist, dass sie sich wohl kaum für den Vortrag eignet. Unklar aber bleibt, ob das
wirklich nur Slapstick ist, wie das sehr gründliche Nachwort, das den Text
gleichwohl nicht übergriffig zu kuratieren versucht, beschwichtigt:
„Die
Listen sind ein Mittel, Chaos in die Ordnung des Protokolls zu bringen. In
Anlehnung an Jacques Roubaud ist der Text in Kapiteln, Punkten und
Unterpunkten, noch dazu in unterschiedlichen Farben, strukturiert, die ihm
etwas Traktatartiges geben; Mimikry an wissenschaftliche Exaktheit, die auf
diese Weise aber gerade aufgebrochen wird.“
Das
Nachwort weist auch treffsicher auf die Tradition, in der diese Schreibart
steht, hin:
„Eine
weitere Methode, Chaos in die Ordnung einer gut geplanten Reise, der zunächst
nichts Abenteuerliches anhaftet, zu bringen, ist die Einbeziehung des Zufalls –
sozusagen traditionsbewußt modern als Coup de Dés.“
Man
möchte, dies ergänzend, auch an die Überlegungen Arthur Rimbauds zur Klangfarbe
von Vokalen erinnern; denkmagisch werden die
Vokale hier einer anthropomorphisierenden Meditation und Wesensschau unterzogen.
Wandler-Deck hat diese spekulative Poetik offenbar aufgegriffen, und ganze
Sätze im munteren Wechsel von grüner, blauer, dunkel- und hellroter, außerdem
brauner und grauer Farbe ausgeführt.
Die
Vermutung, durch die verschiedenfarbige und schnell wechselnde Typographie
werde – neben der geographisch-deiktisch-kalauernden – eine Lesart quer zur
linearen Lektüre angeboten, wird schnell enttäuscht. Auch wird keine Hierarchie
markiert. Das Buch ist deutlich wilder und vitalistischer als die bürokratisch
anmutende Durchnummerierung glauben macht. Will man ausschließen, dass die in
Sachen Architektur versierte Dichterin unter phänomenologische Kaltblüter
geraten ist, so muss man sie sich wohl als eine glückliche Graffitikünstlerin
vorstellen: Beschreiben ist in ihrem poetologischen Kosmos kein metaphorischer,
uneigentlicher Vorgang, sondern wird veranschaulicht. Die leeren Seiten
entsprechen den zu besprühenden Wänden der verwalteten Welt, alle Außen- und
Innenräume, Gegenstände, Stimmungen sind der kapitalistischen Insert-Logik zu
entwenden, über die sich schon Roubaud belustigte.
Vielen
Büchern wird bereitwillig zugestanden, anarchisch zu sein – Wandeler-Decks Buch
ist es in einem ganz präzisen Sinn. Dass sie sich in den Gefilden der
ehemaligen Hanse befindet, ist ihr bewusst; und ohne dass der Name Störtebekers
eigens genannt werden müsste, inkorporiert Visby infra-ordinaire
geopolitischen Aktivismus, der nur die andere Seite von Wandler-Decks
libertärem Habitus ist:
1.1.2.1.2 Die Ostsee mit ihren neun Anrainerstaaten soll
optimal genutzt und gerecht verteilt werden (Nicolas Escach)
1.1.2.1.2.1.1 Insert „Die Ostsee mit ihren neun Anrainerstaaten
soll optimal genutzt und gerecht verteilt werden“
Diese
Freibeuterei geschieht nicht in Erfüllung eines ästhetischen oder ideologischen
Programms. Und es ist weniger die vom Nachwort unterstellte Reflexion auf
„Produktionsbedingungen“ zu beobachten, als vielmehr die sanfte mahnende
Demonstration dessen, dass es sich bei Literatur nicht nur um etwas Schönes
(Belletristik), sondern auch etwas Freies handelt; nicht um einen
Gebrauchsgegenstand, sondern um etwas Immaterielles, das die Leser*in nie dazu
herabwürdigt, Nutzer*in einer fertiggebauten Machination zu sein. Eine
Küchenmaschine beispielsweise kann im Zuge ihrer Nutzung nicht mehr reifen, ein
Buch sollte das sehr wohl.
Es gibt
Stellen, die zunächst auf eine unglaubliche désinvolture der Autorin
hinweisen, in der Art wie sie zuletzt durch Elke Erbs Sonanz geläufig
geworden ist, wo sich die Autorin ebenfalls einer strengen Regel unterwirft,
nämlich ein fünfminütiges Brainstorming zu Papier zu bringen. Wandeler-Deck ist
die Kultivierung eines solchen lyrischen Individualanarchismus völlig ferne; im
Zentrum ihrer Literatur steht die Erschütterbarkeit. Ihr Porträt eines dementen
und inkontinenten Menschen während einer idyllischen Tagesreise muss lesen, wer
den Glauben an eine Literatur mit 360-Grad-Blick noch nicht verloren hat!
Es kann
traurig stimmen, dass solche wegweisende Literatur allenfalls als writer’s
literature goutiert werden wird, und ein größeres Publikum wohl kaum
Kenntnis davon erhält. Noch bedauerlicher ist, dass eine solche, nicht nur
lebenskluge, sondern auch ›akademische‹ Schreibart, die den Einfaltspinsel schwingenden Ansagern des
Literaturbetriebs ein Dorn im Auge ist, ohne öffentliche Förderung (im vorliegende Fall ist es neben dem Stipendium im BCWT ein Werkjahr der Stadt Zürich)
vollständig am Ende wäre. Was so mancher
konservative Kritiker befürworten würde, wäre ein herber Verlust für
eine jede Sprachkunst, die aufs Ganze geht und nicht nur vorgibt, bunt (in
jeder Bedeutung des Wortes) zu sein, sondern es auch manifest ist.
Mit Visby
infra-ordinaire ist Elisabeth Wandeler-Deck ein mutiges Lebensbuch
gelungen; und auch eine Verflüssigung des abendländischen Sinns, die
gelegentliche humorlose Albernheiten verzeihlich macht. Hermann Hesses
Feststellung zur Bedeutsamkeit von Robert Walsers Werk lässt sich unbedingt auf
Walsers Landsmännin transponieren: Wenn Elisabeth Wandler-Deck 100.000
Leser*innen hätte, wäre die Welt besser!