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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




2. Juli 2018
Robert Mattheis
für satt.org
  Saviano

Roberto Saviano, Zero Zero Zero. Wie Kokain die Welt beherrscht. Aus dem Italienischen von Walter Kögler und Rita Seuß. 480 Seiten, gebunden. Hanser Verlag, München 2014. 24,90 Euro
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Smith

Tom Rob Smith, Kind 44. Roman. Aus dem Englischen von Armin Gontermann. 512 Seiten, broschiert. Goldmann Verlag, München 2015. 9,99 Euro
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McCarthy

Cormac McCarthy, Die Abendröte im Westen. Aus dem Englischen (USA) von Hans Wolf. Roman. 448 Seiten, broschiert. Rowohlt, Hamburg 2016. 12,99 Euro
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Alle Titel auch als E-Book lieferbar.

Von Robert Mattheis erschien zuletzt
Dr. Frost, Roman (Kindle Edition)


Hören Sie das Blut in den Adern knirschen?
Die Grausamkeit der Schrift bei Roberto Saviano, Tom Rob Smith und Cormac McCarthy

Seltsam, wie viel grausamer Schrift sein darf als Film!

Ich komme darauf, weil ich neulich Zero Zero Zero las, von Roberto Saviano. Ich lag in einem Hotelbett, im Erdgeschoss eines umgebauten Schlosses, im Urlaub, und ich wollte mich ein bisschen entspannen, auf meine Art, aber nicht auf die Art, die mir da plötzlich geboten wurde: der Mord an Enrique „Kiki“ Camarena. Von dem mal gehört? Er war ein DEA-Agent, der die großen Drogenbarone an der Nase herumgeführt hat. Ein Undercoveragent. Seine Tätigkeit führte dazu, dass sie sehr viel Geld verloren, weil eine geheime Drogenplantage aufflog. Woraufhin die Drogenbarone ihn auf offener Straße und am helllichten Tage von korrupten Polizisten festnehmen ließen und 30 Stunden lang auf einem abgeschiedenen Anwesen folterten. Ich sage Ihnen! Ein Arzt wurde hinzugezogen, der dafür sorgen sollte, dass Camarena die Schmerzen auch wirklich erlebte. Das tat er durch die Gabe von Drogen.

Es gibt Tonbänder von den Folterprozeduren. Die Leute, die sich beim FBI oder bei der DEA diese Aufnahmen anhören mussten, waren mit den Nerven fertig. Sie weinten, sie kotzten, sie konnten selbst nicht mehr. Die Peiniger um Rafael Caro Quintero brachen Camarena jeden Knochen in seinem Gesicht, sie zerschmetterten seine Luftröhre, sie bohrten ihm einen Schraubenzieher in den Kopf. Und dann haben sie ihn mit einem glühenden Eisen rektal geschändet.

Alles das beschreibt Saviano so schockiert wie widerwillig fasziniert. Vielleicht denkt er dabei an all die Dinge, die ihm die Mafia antun könnte, sollte er ihr je in die Hände fallen? Er lebt seit seinem Weltbestseller Gomorrha ja unter Polizeischutz, weil das organisierte Verbrechen ihn tot sehen, Rache an ihm nehmen will für den Verrat; und er empfindet diese Lebensweise im Verborgenen, dieses Dasein als Paniknomade als schwere Last, wie er immer wieder betont.

Jedes Mal, wenn ich daran denke, dass solche Dinge möglich sind, dass sie tatsächlich geschehen in der Welt da draußen, dann … dann frage ich mich schon, welchen Sinn es hat, Rezensionen von Büchern zu schreiben.

Verfilmen könnte man so eine Tortur natürlich nicht. Saviano wälzt sich auch nicht in den Details, aber er schildert doch, ausführlich und mit starkem Sinn für Effekt.

Die 30 Stunden Folter führten erstens zu Kiki Camarenas Tod und zweitens zum Krieg zwischen mexikanischen Drogenkartellen und der DEA. Es gibt Fernsehserien darüber und Filme, Bücher und jede Menge Zeitungsartikel. Auch Don Winslows Thriller Tage der Toten, im englischen Original The Power of the Dog, basiert lose auf dieser offenbar doch wirklich wahren Geschichte. Ich kenne nur die Fortsetzung, Das Kartell, aber als ich in einer Buchhandlung stand, in der ältesten Buchhandlung Deutschlands, glaube ich, und in die Tage der Toten hineinlas, stieß ich gleich auf eine Szene, in der Art Keller, der Held, einem mafiösen Arzt damit droht, ihm eine auf dem Herd zum Glühen gebrachte Eisenstange in den Hintern zu schieben, und als der Arzt vor Schreck ohnmächtig wird, schießt man ihm ins Bein, um ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen.

Das alles ist verrückt, das bringt man nur in der Realität durch die Zensur und in Form von Sprache. Filmbilder dürfen das nicht.

Wo wir gerade bei Weltbestsellern sind. Kind 44 von Tom Rob Smith beginnt mit einer Hungersnot in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs. Der Hunger ist so groß – die Menschen essen Katzen, sie essen Baumrinde, sie essen auch Kinder. Das ist natürlich harter Tobak, und die Verfilmung von 2008 lässt dieses Thema auch konsequent aus. Dabei ist es für den Roman wesentlich — es ist ein Brüderdrama, das hier ausgebreitet wird, der ewige Konflikt zwischen dem cleveren, wendigen, weltgewandten Abel und dem linkischen, kurzsichtigen, ungeliebten Kain. Kain wird in diesem Fall nicht zum Bruder-, sondern zum Kindermörder: zum einen, weil Hunger und Stalin ihm die Wertlosigkeit menschlichen Lebens im allgemeinen und die kalte Mutter die Wertlosigkeit seines Lebens im besonderen beigebracht haben; zum anderen aber auch, weil er mit seinen Mordtaten seiner Sehnsucht nach Abel Ausdruck verleihen kann. Wenn er ein Kind tötet, dann tut er es, weil er Kontakt mit Abel aufnehmen will. Er tötet seine jungen Opfer nämlich auf genau die gleiche Art, wie Abel mit ihm einmal, als sie Kinder waren, eine Katze gejagt hat. Gleichzeitig aber war damals auch jemand auf der Jagd nach Kindern, und er schnappte sich Abel, um ihn, na ja, zu kochen.

Doch das brachte der Kinderdieb dann doch nicht übers Herz. Nicht einmal in der Romanversion der Geschichte. Papier hält einiges aus, aber ein Kind kochen und essen?

Und so wurde aus Abel Leo, der seine wahre Herkunft verdrängte, Agent der Staatssicherheit wurde und eine steile Karriere machte, sich mit Amphetaminen aufputschte für den Kampf gegen das Verbrechen, das es, der offiziellen Ideologie nach, natürlich nur im Westen gab, also nur das Ergebnis von Spionage, Unterwanderung und Sabotage sein konnte.

Faszinierend ist der Roman darin, dass er diese Doppelmentalität – man könnte vielleicht von „Double-bind“ sprechen – zum Leitmotiv macht. In dieser Welt kann niemand niemandem vertrauen, weil niemand je so blöd wäre, die Wahrheit zu sagen; und dass man als Leser dem Autor jederzeit vertraut, mag man als künstlerische Schwäche betrachten, ist aber vermutlich unvermeidlich bei einem Buch, das sich immerhin verkaufen soll und dies auch erreicht hat, und zwar nicht einhundert Mal, sondern einhundert Millionen Mal, in inzwischen sechsunddreißig Sprachen! Da kann ein Erzähler es sich nicht leisten, den Leuten zu viel Skepsis hinsichtlich der Bedingungen des Erzählens aufzubürden, denn das interessiert die allermeisten ebenso wenig wie eine Predigt über die Kürze des Daseins.

Um alle Bedenken sofort abzublocken, fehlt in keiner Kurzvita des Autors die Information, dass Tom Rob Smith in Cambridge studiert hat. Da können wir doch beruhigt sein! Er hat sein Handwerk an einer Eliteuni gelernt ... puh.

Diese Hinweise auf den untadeligen geistigen Stammbaum des Autors sind vermutlich notwendig, um eine gewisse Bodennähe seines Materials zu entschuldigen. Denn der Held, Leo, beweist im Verlaufe des Romans Nehmerqualitäten, um die ihn James Bond beneiden würde — und ich rede von der Daniel-Craig-Version von James Bond! Jede Art von Realitätsnähe fliegt hier über Bord. Seine Widersacher können Leo mit Drogen vollpumpen, bis die Adern platzen, er wird dennoch im überfüllten Viehwaggon, der als Gulag-Transporter dient, einen Weg finden, um vier vierschrötige Feinde mit einem Löffel zu erledigen. Als Nächstes schabt er dann ein vollgeschissenes Abort-Rohr in der Ecke des Waggons aus, lässt sich auf die unter ihm durch Eis und Schnee ratternden Gleise fallen, mit einem letzten Dreh einer tödlichen Drahtfalle am Ende des Zuges ausweichend … schon wirklich Heyne-Stoff. Trotzdem hat Tom Rob Smith einen am Wickel. Man wundert sich, wozu diese ganzen Übertreibungen sein müssen, nimmt sie aber hin, um das Ende dieser Abenteuer zu erfahren.

Im Film geht man mit dem Thema Wahrscheinlichkeit insofern zarter um, als der gerade der Drogenfolter entronnene Leo im Viehwaggon komplett wehrunfähig ist. Diese menschliche Schwäche wird kompensiert durch die plötzlich aufflackernde Kampfeslust seiner Frau, von Noomi Rapace gespielt, die ja schon in der ersten Stieg-Larsson-Verfilmung als Lisbeth Salander zeigen konnte, dass vier vierschrötige Dreckskerle nicht ausreichen, um sie unterzukriegen. Da der Film tendenziell nicht dazu neigt, der Realität größere Treue zu halten als ein Roman, kann man hier eine interessante Beobachtung anschließen: Tom Hardy aus seinem erschöpften, zerschlagenen Zustand des Gemarterten sofort wieder in straßenkämpferisch fitte Boxerstellung zu versetzen, hätte der kalten Logik des zuschauenden Blicks widersprochen. Was man sich als Leser gnädig zusammenreimt als „Ach, irgendwie wird das schon funktioniert haben!“, das erregt Misstrauen und Zorn des Kinopublikums. Indem die Erzählerstimme unter unsere Kopfhaut kriecht, kann sie sich gewisse Freiheiten nehmen.

Kind 44 war unglaublich erfolgreich, und es ist auch ein echter Pageturner, wie ich Ihnen versichern kann, seitdem ich, unter dem Dach eines Restaurants auf der thailändischen Insel Ko Jum sitzend, ausgehungert nach deutscher Sprache, die Lektüre dieses von einem Vorgängertouristen zurückgelassenen zerfledderten Schmökers begann. – Denn was hatte ich mir für die dreiwöchige Reise in den fernen Osten eingepackt? Thank You For Being Late von Thomas L. Friedman, und The Cambridge Companion to Cormac McCarthy – der ja auch wiederum für seine wenig dezenten Stoffe bekannt ist: Man denke an Child of God, die Geschichte von Lester Ballard, einem Zurückgebliebenen mit nekrophilen Neigungen, die jetzt von James Franco verfilmt wurde. – Nicht verfilmt bislang: Die Abendröte im Westen (Blood Meridian or The Evening Redness in the West), laut Aleksander Hemon, Autor von The Lazarus Project und Zombie Wars, „der beste amerikanische Roman der letzten 30 Jahre“, auf jeden Fall aber einer der brutalsten der gesamten US-Literatur. Das Buch basiert auf Original-Dokumenten, Berichten über die historische Glanton-Gang, die ihr Geld mit dem Abschlachten von Indianern verdiente. Kopfgeldjäger, keine zimperlichen Burschen. Selbst Ridley Scott, der immerhin das hyperdestruktive „Alien“ ins Weltall gesetzt hat, scheiterte an der Verfilmung dieser Gewaltballade. Und das, obwohl McCarthy, dessen Prosa mindestens so präzise ist wie eine Kamera, ganz stark dem filmischen Erzählen zuneigt – sein No Country For Old Men liest sich wie ein Film, wenn auch nicht unbedingt wie der Coen-Brothers-Film, zu dem er dann gemacht wurde. Wieder tritt hier in Erscheinung, was wir oben andeuteten: Was ein Autor mit der Phantasie des Lesers anstellen darf, darf ein Regisseur der Netzhaut des Betrachters nicht antun.

Verzweifelt zeigte Cormac McCarthy sich übrigens angesichts des Erfolges seines All die schönen Pferde, verfilmt von Billy Bob Thornton, mit Matt Damon und Penélope Cruz. Ihm behagte es nicht, in der zweifelhaften Gesellschaft der Supermarkt-Bestseller aufzutauchen. Als Oprah Winfrey ihn bei Gelegenheit eines weiteren Erfolgsbuchs fragte, ob es ihn freue, dass Die Straße so viele Leser gefunden habe, erwiderte er: Nein, es sei ihm egal, ob fünf Leute seine Bücher läsen oder fünf Millionen.

Man hatte das Gefühl, im Grunde wären fünf ihm lieber.