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Alina Herbing, Niemand ist bei den Kälbern. Roman. 224 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Arche Literatur Verlag, Hamburg 2017. 20,00 Euro (auch als E-Book) » Verlag » amazon
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Alina Herbing:
Niemand ist bei den Kälbern
Normalerweise höre ich keine Musik nebenher, während ich lese oder schreibe. Nie. Jetzt aber will ich etwas über Niemand ist bei den Kälbern von Alina Herbing ins Laptop tippen – und dazu muss ich entschiedenermaßen das Küchenradio anknipsen und NDR 1 Niedersachsen dudeln lassen, sonst fehlt mir hier was.
Wer den ländlich-norddeutschen Alltag nicht so richtig kennt, der versteht auch das mit dem Radio nicht so richtig, dass also in solchen Ortschaften, deren Skyline, wenn's hochkommt, aus Kirchturm, Getreidesilo, Windrädern und Biogasanlage besteht, im Hintergrund eines jeden Haushalts, eines jeden landwirtschaftlichen Betriebs permanent irgendein Regionalwelle-Programm abdudelt. Und der versteht auch das mit dem ewigen Likörsaufen nicht; oder das mit dem Rechtsrock, und wie verbreitet es unter den Kids und jungen Erwachsenen ist, den zu hören; oder wie dramatisch sich die Milchpreisentwicklung auf Familienbetriebe mit kleinerer Viehwirtschaft auswirkt; oder wie normal es in so einigen Familien, in so einigen Gegenden ist, Diskussionen lieber körperlich auszutragen, und wie schwierig es das besonders den Mädels macht, da nicht automatisch und ununterbrochen den Kürzeren zu ziehen im Leben.
Und der versteht auch nicht, wie man als Mädel so blöd sein kann, sich, aus einer Laune heraus, zu wildfremden Typen in den Wagen zu setzen und nach Hamburg mitnehmen zu lassen, ganz spontan und direkt vom Feldrand weg, nur um dann schön doof dazustehen, so in Gummistiefeln, irgendwo in Hamburg.
Das verstehe ich wiederum ziemlich gut.
Der Bach, der nahe an meinem Elternhaus vorbeiplätschert, vereint sich mit ein paar weiteren Rinnsalen zu einem Flüsschen, und dieses Flüsschen ergießt sich, etwas weiter weg, in einen richtigen Fluss, und dieser Fluss läuft, in der Ferne, einem großen Strom zu, und dieser große Strom, der mündet schließlich ein ins große Meer. Und die Dorfstraße, an der ich mir als Jugendliche die Beine in den Bauch stand, während ich auf den Schulbus wartete, geht in eine holprige Kreisstraße über, und die führt zur vielbefahrenen Bundesstraße, und über die Bundesstraße kommt man zur Autobahn, und die Autobahn, die bringt einen in die große Stadt. Einfach irgendwo einsteigen, mitfahren so weit es geht, und weg bin ich – ging mir manchmal genauso durch den Kopf.
Aber wenn man vom Dorf kommt, traut man den Auswärtigen nicht, versteht sich, und zu einem von denen ins Auto steigen, einfach so, das täte man nie und nimmer. Zweitens, nur weil man Landkind ist, ist man ja nicht gleich doof, wie das manche Städter gern glauben, und darum plant man seinen Abschied vom Landleben lieber gründlich und nachhaltig, anstatt Hals über Kopf auszubüxen und damit in einen Haufen Schwierigkeiten zu geraten. Und drittens halten Auswärtige auf Durchreise sowieso eigentlich nie im Kuhdorf an.
Christin, Mitte zwanzig, ohne abgeschlossene Berufsausbildung, ist dagegen herzlich egal, was für Schwierigkeiten sie erwarten könnten, als sie sich kurz mal von daheim absetzt, so auf die unüberlegte Tour. Das mag nach Dummheit aussehen, aber was Christin antreibt, ist natürlich die reine Verzweiflung: Wenn man, wie eben Herbings Anti-Heldin, aus einem solchen Niemandsort wie Schattin in Nordwestmecklenburg kommt, dann bleibt einem schlechterdings nichts anderes übrig, als ab und an irgendeinen potenziell lebensgefährlichen Blödsinn zu verzapfen, sonst erlebt man nämlich nichts. Gar nichts. Nie.
Seit Christin bei ihrem Freund Jan und dessen Eltern auf dem Hof eingezogen ist, hilft sie beim Melken und Kühetränken und guckt dabei zu, wie ihre Hände nach und nach schwielig werden. Heiraten, Kinder kriegen, den Hof übernehmen – alles schon vorgezeichnet. Von Quasi-Schwiegervater Frank gibt's ein monatliches Taschengeld und eine Menge giftiger Sprüche. Und ob das zwischen ihr und dem humorlosen, schnell aufbrausenden Jan nun Liebe ist oder bloß, na ja, irgendwas, das fragt sich Christin vorsichtshalber nicht allzu ehrlich. Zwar graust ihr vor dem Leben zwischen Küche und Kuhstall, das ihr da blüht, nur sieht es mit Alternativen ziemlich mau aus. Frisörin hatte sie mal werden wollen, aber ihr Ausbildungsbetrieb ging insolvent; der Vater säuft, die Mutter ist irgendwann spurlos verschwunden. Weit und breit also keine Familie, auf die man bauen könnte, und kein Job in Aussicht. Damit ist Christin in Schattin nicht allein, aber weniger einsam fühlt sie sich darum noch lange nicht. Und während sie in Gummistiefeln durch Ackerboden und Mist stapft, guckt sie den Flugzeugen nach, die von Lübeck aus – einen Steinwurf und eine Welt weit weg – in alle Himmelsrichtungen fliegen.
Dort, wo der Norden besonders strukturschwach ist, ist man schon froh, sich so gerade eben durchschlagen zu können, von Träumen kann da keine Rede sein. In Schattin hat man nach der Wende einfach nicht die Kurve gekriegt: Die Alten trauern den alten Zeiten hinterher – als LPG, da war man noch wer –, und die Jüngeren schmoren in trostlosen Arbeitswelten oder in trostloser Arbeitslosigkeit vor sich hin. Abhängen und Saufen auf immergleichen Schlagerpartys. Die immergleichen Freunde bauen die immergleiche Scheiße; manche haben sich totgefahren. Als Mädchen hat man nichts zu melden, aber anstatt zu rebellieren – besonders dann, wenn wieder mal einer grob zu einem geworden ist – kippt man sich halt noch einen Kirschlikör hinter die Binde. Da kann man beinahe verstehen, weshalb Christin sich einem doppelt so alten, schnauzbärtigen Windanlagentechniker aus Hamburg an den Hals wirft. Die Beziehungs- oder wenigstens Fluchtoption, auf die Christin spekuliert hatte, entpuppt sich allerdings allzu vorhersehbar als Rohrkrepierer. Ziemlich gut verstehen kann man, warum sich Christin mitunter zu boshaften, heimlichen Zerstörungsakten hinreißen lässt. Um Schattin zu verlassen, fehlen ihr die nötigen Mittel. Um sich in diesem grobschrötigen Umfeld zu behaupten, mangelt es ihr an Kraft und Willen. Aber um diese öde, rohe Welt zu sabotieren und ihr auf diese Weise heimzuzahlen, dass sie es wirklich nicht gut mit ihr meint, dafür genügen Christin ein Taschenmesser und ein Feuerzeug, oder ein bisschen Rattengift.
Wenn Christin von alledem erzählt, in ihrer abgestumpften Art, durch die viel Elend, viel unterschwellige Aggressivität hindurchblitzen, wünscht man ihr sehr, dass sie es irgendwie nach draußen schafft, weg aus Schattin. Gleichzeitig weiß man ganz sicher: das wird nix. Sollte sie aber doch davonkommen, dann jedenfalls nicht mit heiler Haut. Ein paar Tage im Hochsommer – länger hält Herbing sich erzählerisch nicht in Schattin auf –: mehr braucht es nicht, um begreiflich zu machen, weshalb Selbstzerstörung in so hundseinsamen, lieblosen Landstrichen wie diesem ein solcher Breitensport ist.
Alina Herbing besitzt die nötige Glaubwürdigkeit, um sich über das Land auslassen zu dürfen: Geboren in Lübeck, aufgewachsen in einem winzigen Dorf im Meck-Pomm der Nachwendezeit – der Autorin des Heimatkollerromans kaufe ich sofort ab, dass dessen Bitterkeit von Herzen kommt. Niemand ist bei den Kälbern schwingt eifrig die Realitätskeule und räumt mit dem florierenden Missverständnis auf, das Leben auf dem Land sei die pure Idylle. Nur hat Herbing hier allzu gründlich geliefert. Es wirkt, als hätte sie eine Checkliste abgehakt: Kühe, Trecker, Windräder, Hunde, Hühner, Alkohol, Freiwillige Feuerwehr, Zeltfeten, überkommene Geschlechterrollen, Esoterikglaube, biedere Wohneinrichtungen, usf. Das Bild eines Fliegenfängers samt daran klebenden Zappelinsekten wird pflichtschuldig als Allegorie des zähen, vergeblichen Sichabstrampelns bemüht, ein Nandu, der aus einer Farm ausgebrochen ist, als Symbol für Freiheitswillen und exotische Unangepasstheit plakativ in die Geschichte hineingepflanzt und am Ende verheizt. Das ist im Großen und Ganzen so ordentlich aufgebaut, so brav nach Lehrbuch installiert, dass sich der Roman auch prima als Lektüre für den Deutsch LK eignen würde. Diese Mustergültigkeit lässt Figuren und Kulissen zumeist blass wirken – eine Blässe freilich, die zum Sujet passt: der quälend dröge Alltag in einem abgehängten Landstrich. Lebendigkeit bricht eher selten durch, aber wenn, dann mit Wucht. Der Roman schafft in diesen Momenten etwas Besonderes: Jenseits der Verschlafenheit, Kleinkariertheit, Beengtheit des dörflichen Alltagslebens, wagt er sich an schmerzhafte Kaltschnäuzigkeit, an beiläufige Brutalität und andere harsche Varianten dörflicher Lebensrealität heran und jagt dabei jeglichen Anflug von Landromantik durch den Schredder. Das ist allemal sehr lesenswert.