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12. Januar 2015
Sonja Grebe
für satt.org
  William T. Vollmann, Europe Central
William T. Vollmann, Europe Central. Roman. Aus dem Englischen (USA) von Robin Detje. 1026 Seiten, kartoniert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 14,99 Euro. (Das E-Book ist zum selben Preis erhältlich, die Leinenausgabe kostet 39,95 Euro.)
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Schwarze Zeiten.
William T. Vollmann,
Europe Central

Verursacht ein monolithisches Buch seinen kraterhaften Einschlag im Feuilleton, stehe ich als Schaulustige parat. Mir ist jeglicher Hype völlig egal, ich liebe aber die Vorstellung vom schriftstellerischen Extrem, die sich in monströsem Seitenumfang und Arbeitsaufwand ausdrückt. Sicher, die eigentliche Kunst besteht nicht allein in der Produktion gedanklichen Volumens, sondern auch darin, jenes gedankliche Volumen literarisch zu komprimieren.
Aber auch Vielhundertseiter können sich als Ergebnis sorgfältiger Verdichtung erweisen. Im seltenen Glücksfall also besitzt ein solches Werk dreidimensionale Größe: Enormer äußerlicher Umfang x inhaltliche Tiefe x sprachliche Dichte = literarische Nachhaltigkeit im Kubik.
Im Falle von Europe Central hätten es auch ein paar Seiten weniger getan, zugunsten höherer Konzentration, die ich mir gewünscht hätte. Dennoch eröffnet sich beim Lesen die reinste Spielwiese für Literaturneugier.

Im Original bereits 2005 veröffentlicht, liegt Europe Central seit 2013 in deutscher Übersetzung vor, seit Ende Mai diesen Jahres auch als bezahlbare kartonierte Ausgabe. Es dauerte seine Zeit, bis sich mit Suhrkamp ein Verlag fand, der das aufwändige Projekt verwirklichen mochte.
Mit seiner Übersetzung des Kolosses, die nochmal anderthalb Jahre in Anspruch nahm, sicherte sich Robin Detje ein Plätzchen auf dem Übersetzer-Olymp – gleich neben Ulrich Blumenbach (David Foster Wallace, Unendlicher Spaß) oder Hans Wollschläger (James Joyce, Ulysses) – und wurde auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse konsequenterweise mit dem Preis für die beste Übersetzung bedacht.

William T. Vollmann bezeichnet mit dem Ausdruck „Europe Central“ das deutsch-russische Spannungsfeld im geographischen wie politischen und kulturellen Sinne, bezogen auf einen Zeitraum des 20. Jahrhunderts, dessen Eckdaten der Biographie des Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch entliehen sind: geboren 1906, gestorben 1975.

„Ich halte alle Sinfonien Schostakowitschs für mehrfach eingebrochene Brücken, einen Archipel aus Stahl, der langsam im Fluss versinkt.“

Schostakowitschs Leben und Werk geben dem aus 37 Episoden bestehenden Erzählverlauf eine begleitende Struktur, eine Orientierungslinie.
Vollmann lässt eine Geisterparade aufmarschieren: Die Protagonisten der jeweiligen Episoden sind berühmt, berüchtigt oder anonym (so Vollmann im Quellen-Anhang), bekleiden zentrale Positionen in Kunst und Politik, spielen eine kriegsentscheidende Rolle oder haben ideologische Bedeutung:
SS-Mann Kurt Gerstein, Lenin-Attentäterin Fanny Kaplan, eine Partisanin namens Soja – von der Sowjet-Ideologie zur Märtyrerin erhoben –, General Wlassow, Generalfeldmarschall Paulus, Dichterin Anna Achmatowa, Generalfeldmarschall Erich von Manstein, Marschall Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski, die Richterin und spätere DDR-Justizministerin Hilde Benjamin.
Damit sind nur wenige Namen aus Vollmanns unendlich anmutender Personalliste genannt, die Hauptrollen besetzen oder eine der Nebenrollen in einzelnen oder mehreren Episoden ausfüllen.

Anhand paarweiser Figurengegenüberstellungen versucht Vollmann sich an einer Wesenserkundung des in Dualismen zerrissenen Zentraleuropa von damals.
So arbeitet er die Kontrastschärfe der konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Gewalten heraus, unter deren Einwirkung menschliches Leben zu grauer Masse vermahlen wird. Die weißen Nächte von Leningrad blitzen hell hervor, der Schnee von Stalingrad zeigt sich schneidend weiß und tödlich. Auf bleischwarzer Erde, die der Krieg hinterlassen hat, wachsen silbergraue Grashaare. Das tiefste Schwarz ist jenes der Bakelit-Telefone, über deren Drähte die Mächte der Zeit überhaupt erst ihre kontinentale Reichweite etablieren konnten – diese Leitungen garantierten den Gewaltfluss von der politischen Kontrollinstanz bis in jede kleinste organische Einheit hinein. (Auf die prägende Bedeutung jener neuen Technologie verweist auch der original belassene Titel: Europe Central bedeutet sowohl Mitteleuropa als auch Telefonzentrale Europa.)

Schwarz, Weiß und Grau sind die Signalfarben der Dinge und Vorgänge in Europe Central, und auch die Figuren drücken diesen farblichen Dreiklang aus: Man begegnet Käthe Kollwitz, deren Kunst das Arbeiterleben in scharfkantigem Schwarzweiß zeigt, und deren eigenes Leben, seitdem einer der Söhne im Ersten Weltkrieg fiel, in Grau getaucht bleibt. Kollwitz trifft auf einer Russland-Reise, zu der man die im Arbeiterstaat populäre Künstlerin eingeladen hat, Schostakowitsch und hört dessen Musik, die grau und kalt alle rotbackige Propaganda, mit der sich das Gastgeberland präsentiert, überdeckt. Schostakowitsch wiederum begegnet in einer späteren Episode dem Genossen Stalin, der ihm auf einem von unerträglich grellen Kronleuchtern erhellten schwarz-weiß karierten Fliesenboden gegenübersteht. Offiziere tragen weiße Handschuhe zu Gardeuniformen. Ein junger Komponistenkollege Schostakowitschs heißt mit Namen Schwartz. So finden alle und alles in diesem Roman eine Einordnung in jenes Farbschema. Erst gegen Ende weicht es auf, und eine Abhandlung über den Fortschritt von Farbfilmtechniken deutet einen heraufziehenden Systemwechsel an.

Schostakowitschs Musik funktioniert als eine Vertonung der Farbsprache, die den ganzen Roman durchzieht. Sie wird allerdings nicht nur zur allgemeinen Untermalung der Stimmung verwendet: Vollmann hebt zwei Werke, op. 40 (Cellosonate in d-Moll) und op. 110 (Streichquartett Nr. 8), besonders hervor und leitet ihre Entstehung von konkreten Lebenserfahrungen Schostakowitschs ab, die jedoch nicht belegt sind.
An diesen Stellen werden Vollmanns Hingabe an die eigene überbordende schriftstellerische Imagination und seine enorme Akribie in Sachen Hintergrundrecherche deutlich, und man erahnt den gewaltigen Umfang, den seine schreibbegleitende Materialsammlung gehabt haben muss.

Unter anderem erweckt Vollmann mit Elena Konstantinowskaja eine von der Geschichtsschreibung vergessene Frau literarisch zum Leben und macht sie zur Hausherrin des musikalischen Gebäudes, das Schostakowitsch, der ihr in einer Affäre verbunden war, mit dem Opus 40 errichtete.
Nicht einmal Schostakowitschs Biographen widmen sich Konstantinowskaja in erwähnenswertem Maße, da es schlicht kaum verwertbares Material über sie gibt. Vollmann dagegen investierte einen vierstelligen Dollarbetrag in eine Übersetzung des Briefwechsels zwischen Schostakowitsch und seiner Geliebten aus den Jahren 1934/35.

Mühelos bestreitet die junge Frau, trotz ihrer Eigenschaft als undokumentiertes Phantom, eine mal aktive, mal leitmotivische Rolle über tausend Seiten hinweg; dies verdankt sie der Überzeugungskraft der Vollmannschen Mischung aus Geschichtsrekonstruktion und Fiktion, mit der er sich um eine Erweiterung der Möglichkeiten des Verstehens bemüht. Damit vermittelt sie auch einen wichtigen Gedanken zum Verständnis der Zeit, von der der Roman erzählt: Getragen wird Geschichte in besonderem Maße von den Namenlosen, den Ausgelöschten, den Vergessenen. Was die Überlebenden und was die Dokumente berichten, das ergibt nur unsere lückenhafte Nacherzählung der Geschehnisse, aber es ist nie die ganze Geschichte.