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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




November 2007
Gerald Fiebig
für satt.org

Notverkauf aus Diskursmasse

Ein parteiischer Rundblick über
aktuelle Lyrik-Neuerscheinungen

Bella Triste 18

In der aktuellen Ausgabe 18 der Belletristikzeitschrift Bella Triste findet etwas statt, was zumindest die Herausgeber als „Lyrikdiskurs“ bezeichnen. Die Bezeichnung trifft insofern zu, dass Leute, die Gedichte („Lyrik“) publiziert haben, ihre Art, Gedichte zu schreiben, in Form einer nichtlyrischen Textform („Diskussion“?) als allein seligmachende ausgeben.

Nun ist diese Art des poetologischen Streits eine durchaus ehrenwerte, wenn man den Lehren der Literaturgeschichte glauben will, sogar notwendige. In der Art, wie sie in Bella Triste geführt wird, erinnert sie jedoch fatal an die Scheindiskussionen auf der politischen Bühne: als müsste man sich da entscheiden zwischen der Parteinahme für „die 68er“ – das wäre in diesem Zusammenhang das politische, „sozial-realistische“ (Enno Stahl) Gedicht – oder die Bewahrer traditioneller Werte – das wären in diesem Fall die ästhetischen Werte der Frühmoderne und des Symbolismus, namentlich „Autonomie des Kunstwerks“ und „l’art pour l’art“ als quasi naturhaft gegebene Richtwerte (Christian Schloyer).

Dass sich poetologische Diskussionen in politische übersetzen lassen, könnte ihnen ein unerwartetes Maß an Relevanz verleihen. Das wäre ja zu begrüßen. Sobald man jedoch feststellt, dass hier hinter all den sattsam bekannten und zumeist in sich widersprüchlichen poetologischen Auslassungen in erster Linie kookbooks-Autoren (Schloyer, Falkner) gegen Krash-Autoren (Stahl) ausgespielt werden, tritt eine gewisse Ernüchterung ein: Soll die Diskussion über die Zukunft der Lyrik ausschließlich im Zeichen von Marken geführt werden?

Herbert Hindringer: Distanzschule

Vor diesem Hintergrund sinken meine Hemmungen, schlechte Lyriktheorie mit Beispielen gelungener Lyrikpraxis aus einem Verlag zu konfrontieren, der auch meine Bücher veröffentlicht. Es handelt sich um zwei großartige Neuerscheinungen aus dem yedermann Verlag, Distanzschule von Herbert Hindringer, der in zwanzig Jahren in einer Linie mit dem frühen Enzensberger und Fauser genannt werden wird, aber heute noch sinnlicher, witziger und selbstironischer ist, als die es je waren; und in belichteteten wänden von Karin Fellner, die für ihre äußerst kunstvolle und zugleich immens welthaltige Lyrik seit 2005 verdientermaßen diverse Preise erhielt. Beide Autoren belegen, dass in der Generation der „Lyrik von Jetzt“ noch weitaus mehr Talent zu finden ist, als diese Anthologie dokumentieren konnte.

Karin Fellner: in belichteten wänden

Ihre beiden Bücher sind deshalb so interessant, weil sie die Diskussion um „Sprachspiel vs. Wirklichkeitsdarstellung“, wie sie in Bella Triste geführt wird, im Handstreich hinfällig machen: Wer wirklich Gedichte schreiben will und kann, ist selbstverständlich in der Lage, die soziale Wirklichkeit (ganz gleich, wie er sie bewerten mag) zu seinem Material zu machen, sie in seinem Text zu „revolutionieren“ und daraus Funken zu schlagen – gerade weil, wie uns der linguistic turn der Humanwissenschaften lehrt, die soziale Wirklichkeit nur als sprachlich vermittelte zugänglich ist. Die in Bella Triste von Christian Schloyer implizierte These, Lyrik mit Bezügen zum sozialen/politischen Text sei per se ein Rückfall in ein vorkritisches Sprachverständnis, grenzt also an intellektuelle Unredlichkeit. Gleichzeitig ist diese Position auch ganz schön schlapp: Wenn ich als Dichter schon selbst nicht der Auffassung bin, dass ich grundsätzlich jedes Thema zu meinem Material machen kann, müsste ich mich dann nicht gelangweilt von der Lyrik abwenden und mir eine interessantere und/oder besser bezahlte Tätigkeit suchen?

Ulf Stolterfoht: holzrauch über heslach

Auch Ulf Stolterfoht beweist in diesem Herbst, dass entgegen der in Bella Triste (in Nr. 17 leider auch von ihm selbst!) transportierten Klischees die brisanteste und konkreteste soziale Thematik – und gerade die! – zu nicht nur satisfaktionsfähiger, sondern in der funkensprühenden Friktion zwischen Metrum und Gedächtnis geradezu feurig-schöner Lyrik auf der Höhe der Zeit werden kann. Mit holzrauch über heslach legt er einen Text vor, in dem die linksradikale Szene im Stuttgart der Spätsiebziger Thema wird. Eigentlich ein unerträgliches Thema, aber als Dichter von höchster Virtuosität und vor allem von differenziertem Humorverständnis erbringt Stolterfoht den Beweis, dass sich Experiment und Referenzialität eben nicht so kategorisch ausschließen müssen, wie er das in der Theorie tendenziell behauptet.

Der Beweis, dass die von Enno Stahl eingeforderte „Haltung“ und avanciertes Formbewusstsein in der Lyrik zusammengehen, wird also mit den erwähnten Büchern drei weitere Male erbracht. Noch plastischer wird eine solche „Haltung“ allerdings, wenn sie sich nicht nur auf dem Papier, sondern lauthals ausspricht. Dass Lyrik auf Bühnen stattfindet, hat mit Veranstaltungen wie dem Open-Mike-Preis ja auch in Deutschland längst Einzug in den Mainstream gefunden. Umso frustrierender ist es, dass es im „offiziellen“ Literaturbetrieb keine reflektierte Kultur des Lyrik-Vortrags gibt. Das überlässt man getrost den sonst verachteten Slam-Poeten. Einiges abschauen bzw. ablauschen kann sich die deutsche Poesie nach wie vor im anglophonen Ausland. Nicht nur bei den Kombattanten der US-Slam-Szene, sondern auch bei Urgestein der britischen Spoken-Word-Poetry wie Inter Ference.

Inter Ference: Inessential Purchase

Der zeigt mit seiner aktuellen CD Inessential Purchase, dasss kunstvolle, sprachbewusste Lyrik und eine ethische „Haltung“ nicht nur keine Widersprüche sind. Vielmehr macht Inter Ference fundamentale soziale Verwerfungen für seine Kunst produktiv, indem er seine Zuhörer mit den zynischen Denkmustern von Militärs konfrontiert („A Military World Is A Peaceful World“) oder es mit dem Geister-Monolog eines als Säugling verhungerten afrikanischen Kindes schockiert, den dieses an seine Mutter richtet („Baby Talk“). Was bei anderen nur zu fatalem Betroffenheitskitsch geraten könnte, gelingt bei Inter Ference als Gänsehaut provozierendes Sprechdrama, weil seine Kunst in solchen Texten weniger die des Lyrikers ist, sondern die des Dramatikers und Schauspielers, der sich eine Figur erdenkt und sie aus ihrer Gedankenwelt heraus stimmlich verkörpert.Martin Schmidt: Live @ Hoffmann Keller Seine Wandlungsfähigkeit und Bühnenpräsenz im freien Vortrag seiner Texte gewährleisten, dass er beim Sprechen weitaus mehr Dimensionen transportiert als so mancher Dichter auf Papier. Vom 10. bis 14. Januar 2008 wird sich Inter Ference mit mehreren Auftritten in Augsburg und München sich erstmals auch einem deutschen Publikum live vorstellen – wer im Anschluss daran noch weitere Auftritte von ihm buchen möchte, möge sich an den Autor dieses Beitrags wenden: geraldfiebig (at) aol.com. Allen anderen sei seine CD ans Herz gelegt – ein weiterer eindrucksvoller Beweis dafür, dass die Zukunft der Lyrik im akustischen Bereich liegt. Im deutschsprachigen Bereich bietet seinesgleichen in jüngster Vergangenheit nur das Album Live @ Hoffmann Keller Augsburg von Martin Schmidt, neben den oben erwähnten Büchern eine der wohl eindrucksvollsten Veröffentlichungen der deutschen Lyrik im Jahr 2007. Interessanterweise zeichnet sich derzeit eine parallele Tendenz zum akustischen Medium auch für die erzählende Literatur ab mit dem ausschließlich auf vier CDs erschienenen Roman Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt sein Leben. Inwieweit dieser Schritt vom Hörbuch zum Sprechbuch Nachfolger finden wird, bleibt abzuwarten.



Herbert Hindringer: Distanzschule.
yedermann Verlag, Riemerling bei München 2007. 134 S., 10 €.
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Karin Fellner: in belichteten wänden.
yedermann Verlag, Riemerling bei München 2007. 102 S., 10 €.
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Ulf Stolterfoht: holzrauch über heslach.
Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 2007. 128 S., 19 €.
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Inter Ference: Inessential Purchase.
Musiciam.co.uk 2007; CD, ca. 18 €.

Tourdaten Inter Ference:
Do, 10.01.08 – Augsburg, Kresslesmühle
Fr, 11.01.08 – Augsburg, Kresslesmühle (Poetry Slam)
So, 13.01.08 – München, Substanz (Poetry Slam)
Mo, 14.01.08 – München, Café Gap

Martin Schmidt: Live @ Hoffmann Keller.
Speak & Spell 2007, CD. ca. 10 €.
Bestellen: martin.o.schmidt (at) web.de

Peter Kurzeck: Ein Sommer, der bleibt.
Supposé 2007; 4 CDs, 34,80 €.
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