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Oktober 2007
Stan LaFleur
für satt.org

Guy Helminger:
Morgen war schon

Aus verschiedenen, teils merkwürdigen Gründen spüre ich eine ebenso enge wie brüchige Vertrautheit mit Orten und Personen in Guy Helmingers „Morgen war schon“, dem ersten offiziellen Roman des Autors, der vor zwei Jahren mit „Etwas fehlt immer“ bereits einen Erzählband vorgelegt hatte, dessen einzelne Episoden so kunstvoll miteinander verwoben waren, daß die Genrebezeichnung „Roman“ genausogut gepaßt hätte: Ein fantastisches Panorama einer Nachbarschaft voller abgründiger Spinner, die neben sich herleben, bis ihre Wege sich kreuzen, was bisweilen zu abstrusen, bizarr-zärtlichen, gerne auch gewalttätigen Ausbrüchen führt.

Guy Helminger:
Morgen war schon

Roman. Suhrkamp 2007


Guy Helminger: Morgen war schon. Roman

332 S., 19,80 Euro
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Nun aber das neue Buch. Direkt die erste Szene spielt sozusagen vor meiner Haustür, auf dem Parkplatz der Galopprennbahn in Köln-Weidenpesch. Das bewegt. Nicht jeder Roman beginnt vor meiner Haustür. Die Handlung breitet sich von der Rennbahn aus per Taxi über das Kölner Straßennetz, vertraute Orte überwiegen und, als seien sie aus meinem Umfeld, das Schnittmengen mit dem des Autors besitzt, zusammengesetzt, kommen mir auch einige Protagonisten geradezu persönlich bekannt vor. Als erster Feltzer, cholerisch veranlagter Taxifahrer, der, wie eigentlich alle Figuren, auch aus dem Vorgängerband stammen könnte: Jede und jeder hat einen Schuß weg, nur diesmal etwas begründeter, trägt still sein persönliches Desaster mit sich herum, und redet, falls überhaupt, überwiegend an den anderen vorbei. Feltzer, das muß für „Pfälzer“ stehen, ist meine erste Assoziation – und tatsächlich, gut hundert Seiten später wird sie bestätigt, als nur eine von vielen scheinbar nebensächlichen Seltsamkeiten, die dem Plot als Staffage dienen. Mal sind sie für den Handlungsfortgang wichtig, mal ohne jeden Belang. Weiter im Text taucht ein gewisser Werner Wiese auf - vor gut einem Jahr veröffentlichte ich das Gedicht: „selbstportrait als werner wiese“. Lustiger Zufall, meint Helminger. Nein, denke ich, das kann kein Zufall sein. Die Straßen und Plätze von Sülz, Kwartier Lateng, belgischem Viertel, die Galerie hinterm Hauptbahnhof, der Parkplatz unter der Mülheimer Brücke, die Rock`n`Roll-Spelunke Low Budget, die nachts torkelnde, glückliche Gestalten ausspuckt: Das alles kenne ich so gut, daß ich mich beim Lesen selbst von hinten durch die Zeilen laufen sehe.

Auf der anderen Seite: Ist das natürlich nicht meine Geschichte. Oder nicht ganz. Je wilder Helminger seine Szenen zeichnet, je eher ich geneigt bin zu urteilen, daß er nun aber wirklich anfängt zu übertreiben, desto eher fliegen mir Erinnerungen zu, die besagen, daß letztlich all das scheußliche Verhalten und Mißverstehen, alles Schaffen und Nichten, von dem hier erzählt wird, sich absolut im Rahmen des Realen bewegt und dazu noch halbwegs moderat.

Wovon die Geschichte handelt, ist ohnehin weitgehend irrelevant vor der Tatsache, daß nie mehr als zwei Personen gleichzeitig in einer ernsthaften Relation zu stehen scheinen, „Morgen war schon“ handelt von Konflikten, die der Mensch mit sich selbst austrägt und derjenigen Person, der ihm oder ihr gerade am nächsten zu stehen scheint, was sich erfahrungsgemäß jederzeit aus kaum getrübtem Himmel ändern kann. Es ist ein deutscher Fatalismus, der die Triebkraft des Buches ausmacht und ein solcher läßt sich nirgendwo besser einfangen als in seiner rheinisch-realen Ausprägung, auf den Straßen Kölns.

Helmingers Drei-Generationen-Konfiguration und das tragische Ende um ein Neugeborenes bilden nur den Rahmen für seine Portraits von einer Reihe abgründiger, familiär oder freundschaftlich verbundener Einzelschicksale, die nahezu aus dem Vorgängerbuch in dieses herüber gewachsen scheinen, wie die lyrischen Betrachtungen des Lichts und eine Erzählhaltung, die den Leser immer wieder aufschrecken und wünschen läßt, die Handlung jetzt lieber selbst in die Hand zu nehmen - als wenn es dadurch wirklich anders kommen könnte.

„Etwas fehlt immer“ war mein Buch des Jahres 2005. „Morgen war schon“ ist eine schöne Bestätigung dafür. Wo ersteres für mich eine Sensation war, ist letzteres deren Ausschlachten mit nunmehr bekannten, leicht verfeinerten Mitteln, das heißt ein exzellenter, überaus empfehlenswerter Lesegenuß, der der täglichen Höllenfahrt des Alltags die passendsten Spitzen aufsetzt.