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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



Juli 2006 Michael Stolzke
und Nikolai Wojtko

für satt.org

Uwe Timm: Der Freund und der Fremde
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006

Cover

176 S., 16,90 €
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„Der Freund und der Fremde“
Orpheus und Ohnesorg

Romantische Freundschaft, existentialistische Ferne und die Geschichte einer Generation.

In den Jahren von 1941 bis 1946 malte Pierre Bonnard seine Frau als die „Nackte im Bad“. An diesem Gemälde wird stets das Changieren der sonst so klar zu unterscheidenden Objektgrenzen hervorgehoben. Betrachtet man das Bild eine längere Zeit, weiß man nicht mehr, welche Linien die Frau, die Wanne, das Wasser oder die Wand darstellen. Die Objekte zerfließen, gehen ineinander über und sind permanenter wechselseitiger Verweis im Bild. Es bedurfte noch vier Jahre nach dem Tod Marthe Bonnards im Alter von 72 Jahren, bis Bonnard das Bildnis 1946 fertig stellte. Er strebte kein Abbild seiner betagten Frau an, sondern er malte sie nach einer Fotografie aus dem Jahr 1895 als junge Frau. Auf diese Weise entstand nach dem Tod von Marthe ein Bild, das die Illumination der frühen Liebesbeziehung in der berauschenden Klarheit zerfließender Grenzen festhält.

Der erste Leser

Die meisten Rezensionen von Uwe Timms „Der Freund und der Fremde“ verstehen sich weniger auf das Changieren und eröffnen schwarz/weiß mit einer Bildikone der 68er Protestbewegung. Das Foto zeigt den erschossenen Benno Ohnesorg in einer Blutlache liegend, tot auf dem nackten Asphalt. Der dramatisch inszenierte Blick der Rezensenten auf das prominente Zeitungsfoto verengt jedoch den Horizont von Timms Erzählung. „Der Freund und der Fremde“ ist mitnichten ein politisches Buch für Alt-68er im Vorruhestand. Die literarische Sorgfalt des Autors, das subtile Geflecht aus Analogien, gehen solcher Lektüre verloren. Bereits der Titel der Erzählung deutet an, dass sich jemand nähern will. Timm möchte sich dem Freund erklären. Er lässt die vergangene Zeit aufziehen, versucht rückblickend aus dem Jetzt zu beleuchten, wie er sich dem Anderen anvertraute und dieser zum Freund wurde. Es sind Erinnerungen und diese möchte er so behutsam wie möglich frei legen.

Im Unterschied zum Rezensionskanon beschreibt Timm am Anfang seiner Erzählung nicht die Ikone, sondern ein Bild, das nur in seiner Erinnerung existiert. Ein Bio-Foto sozusagen, dem auch eine Liebesgeschichte folgen könnte, und das damit dem Gemälde Bonnards näher steht als einem Zeitungsfoto.

Dieser erste Blick. Unten der Fluß, der ruhig und grün dahinfließt, die Steinbrücke, auf deren Mauer er sitzt, ein Bein über das andere geschlagen, so schaut er zum anderen Ufer, ein paar Büsche und Weiden stehen dort, dahinter öffnen sich Wiesen und Felder. Ein Tag im Juni, frühmorgens, noch mit der Frische der Nacht, der Himmel ist wolkenlos und wird wieder die trockene Hitze des gestrigen Tages bringen. (S. 7)

Der „Tag im Juni“ ist noch nicht jener 2. Juni 1967, der Benno Ohnesorg zum unschuldigen Mordopfer von Polizei- und Staatsgewalt machen wird. Es ist noch nicht jenes Datum, das ihn durch das Zeitungsfoto zur Ikone werden lässt. Es sind ein früheres Datum und ein Idyll, die den Auftakt der Erzählung als Vorzeichen der befruchtenden Freundschaft der beiden Braunschweiger Kolleg-Studenten Ohnesorg und Timm geben. So findet sich der Leser zunächst in einer Beziehungsgeschichte wieder, die in jenem Moment endet, den das Zeitungsfoto dokumentiert.

Die Freundschaft der namenlosen jungen Männer trägt einen, in der ursprünglichen Bedeutung, romantischen Unterton. Sie diskutieren über Lyrik und moderne Kunst, lesen dieselben Zeitschriften und offenbaren ihre ersten literarischen Gehversuche. „So begann es, dass wir einander unser Geschriebenes zeigten und er mein erster Leser wurde.“ (S. 9) Diese Nähe endet mit der Zeit am Kolleg und mit ihr das Idyll im Schatten des Nazibaus, der das Kolleg beherbergt.

Das geplante gemeinsame Studium in Berlin wird von Timm aufgekündigt, indem er sich gegen gemeinsame Zukunftspläne und für die Universität in München entscheidet. Damit wird er vom Freund zum Fremden und die Freundschaft zum Preis, den Timm für die Entscheidung zahlt, den eigenen Weg zu gehen – mit einem existentialistischen Lebensgefühl und auf absurder Mission. München, Paris und die Distanz zum geteilten und eingemauerten Berlin, wo Ohnesorg, inzwischen verheiratet, Germanistik und Romanistik studiert, zeigen diese Fremde auch geographisch auf. An die Stelle romantischer Freundschaft tritt der existentialistische Gestus des Fremden. Die alles bestimmende Vorstellung der von Albert Camus entliehenen indifférence wird erst der Tod des fernen Freundes durchbrechen. Ohnesorgs Ermordung macht Timm die Fremdheit bewusst. Und wie Ohnesorg bereits sein erster Leser wurde, wird er nun zum Initiator des Schriftstellers Uwe Timm.

Ein Foto im Film im Foto

Die Geburt des Schriftstellers aus dem Tod eines geliebten Menschen. Dieser nahezu archaische Plot, seit Klaus Theweleits "Buch der Könige" wohlbekannt, ist auch Timms „Der Freund und der Fremde“ zu eigen. Nach der romantischen Beziehungsgeschichte ist dies die zweite Ebene der Erzählung. Sie beginnt dort, beim Betrachten des Zeitungsfotos, wo die erste Ebene endet. Doch das Foto ist eigentlich ein Film, eine Geschichte in vielen Bildern hinter dem einen Bild. Ein echter Film der achtziger Jahre erzählt die Geschichte von der Initiation eines Schriftstellers so:

Zorc, der mit einem Vorschlaghammer die Wand zertrümmert: „Findest du nicht, dass ich aussehe wie Sylvester Stallone in Rocky IV?“
Betty, die sich auf einen Stuhl gesetzt hat und auf die Wand sieht, als wäre sie eine Leinwand:
„Nein. Du siehst wie du aus, wenn du schreibst.“
Zorc: „Entschuldige! Ich sehe da keinen Zusammenhang zwischen Bücher schreiben und Wände einreißen.“
Betty: „Eben. Und das wundert mich gar nicht.“
(Zitat aus dem Film, sinngemäß findet es sich im gleichnamigen Buch Zürich 1988. S. 179f.)

Ein französischer Film, der hierzulande derart den Zeitgeist traf, dass die Bücher von Philipp Dijan – die damals noch nicht „zum Film“ hießen – in kürzester Zeit zu Bestsellern wurden. „Betty Blue“ wird oft als die Geschichte einer amour fou zu einer durchgeknallten Frau gesehen. Doch es ist auch die Erzählung eines Schriftsteller-Outings. Betty ist somit nicht nur eine verrückte Frau, sondern ein Wesen, das die Bilder hinter den Bildern sehen kann und damit vorzeitig etwas in Zorc erkennt, was dieser, von einer ohnmächtigen Ahnung gefangen, noch nicht zu wissen wagt.

Zorc ist auf die Initiation durch Betty angewiesen, erst der radikale Einsatz Bettys – neben der indifférence die zentrale Interpretation einer existentialistischen Lebenseinstellung – bringt ihm ein Verlagsangebot. Bezeichnenderweise in jenem Moment, in dem Betty stirbt, genauer: Nachdem der Autor seine Figur im doppelten Sinne losgelassen hat.

Es war eine schreibende Selbstprüfung gewesen, bei ihm wie bei mir. Das Lustvolle für mich war das Zerstören, das Auflösen, das Neu- und Umschreiben. Wortlandschaften, die sich wie durch kleine tektonische Stöße verwandelten, Verwerfungen und Brüche zeigten. (S. 38)

Der zurückblickende Timm kennt den Zusammenhang zwischen „Wände einreißen“ und „Bücher schreiben“. Der in Hollywood gestylten Wucht eines Rocky entsprechen seine „tektonischen Stöße“ in „Wortlandschaften“. Doch Schriftsteller ist Timm noch ebenso wenig wie Zorc – selbst wenn er bereits einen ersten Leser hat. Während Zorc auf Betty verzichten kann, nachdem er durch das Vertragsangebot zum Schriftsteller wird, verzichtet Timm noch vor der Initiation auf Ohnesorg. Diese findet erst später, in Paris, statt. Dort erfährt er vom Tod Benno Ohnesorgs, dort sieht er zum ersten Mal das Foto des Ermordeten, das allerdings die Assoziation eines weiteren Films hervorruft.

Einige Tage danach sah ich sein Foto in einer Zeitschrift, und dieses Wiedersehen war wie ein Schock. [ …] Es hätte in diesem Schwarzweiß eine Einstellung aus dem Film „Der Tod des Orpheus“ von Cocteau sein können, das war mein erster Gedanke beim Betrachten des Fotos, diese Verwandlung. (S. 11 f.)

Über Unterschiedlichkeit zum Gemeinsamen

Der Zorc im Film kann auf Betty verzichten, sie mit seinen Händen aus der Welt schaffen, wie er sie geboren hat, als Zeichen auf dem Papier. Der Timm im Buch hingegen braucht die Zeichen auf dem Papier, um den „Freund“ Ohnesorg wieder in die Welt hinein zu schreiben.

All das [Empörung, Haß und Wut] kam erst danach, in den folgenden Tagen und Wochen, als ich versuchte, über ihn zu schreiben. Ich wollte mir, ich wollte allen verständlich machen, wen man getötet hatte. Wer uns für immer verloren war. (S. 12)

Die Orpheus-Assoziation, die sich beim Betrachten der Fotoikone einstellt, beschreibt die Motivation, die Timm zum Schriftsteller drängt. Es ist ein orphischer Blick zurück, der den Fremden als Freund wiederbeleben soll. Am Ende der Erzählung wird dieser Moment das eigentlich Versöhnliche der Beziehungsgeschichte, aber auch der Initiations-Erzählung ausmachen: "Erinnern führt ins Innere. Im französischen „rappeler“ steckt noch etwas von dem, was der Orpheus-Mythos sagen will, dieses Zurückrufen des Vergangenen, des Toten." (S. 172) Versöhnlich, weil es eben solch ein „Erinnern“ ist, das „Der Freund und der Fremde“ erzählt. Versöhnlich aber auch, weil Timm nun über die Unterschiedlichkeit zum Gemeinsamen zurückfindet und sich nicht mehr romantisch mit dem Freund und Opfer identifiziert, wie noch in seinem Roman „Rot“ von 2001.

Unten liege ich. Der Verkehr steht. Die meisten Autofahrer sind ausgestiegen. Neugierige haben sich versammelt, einig stehen um mich herum, jemand hält meinen Kopf, sehr behutsam, eine Frau, sie kniet neben mir. [ …] alles in Schwarzweiß. Seltsamerweise gibt es keine Farbe, seltsam auch das, der da unten spürt keinen Schmerz. Er hält die Augen offen. (Rot: S.7)

Der Fremde und die Funktionsträger

Diese Versöhnung ist notwendig, damit Timm die Geschichte seiner Freundschaft zu Benno Ohnesorg auch zu einer Erzählung seiner Generation formen kann, ohne den billigen Verlockungen der Ikone zu verfallen. Alternativ entwickelt Timm ein Geflecht aus Analogien, das die autobiographischen Momente, den Tod Ohnesorgs und die politische Revolte der 68er mit dem Existentialismus im allgemeinen und Albert Camus „Fremden“ im besonderen verknüpft.

In Frankreich hatte sich der Existentialismus gegen die überholten Moralvorstellungen der Gesellschaft gerichtet und dann, nach der Besetzung des Landes durch die deutschen Truppen, gegen die Okkupanten, gegen den Faschismus, den deutschen wie den französischen. Vielleicht liegt darin der Grund, warum in Deutschland im Gegensatz beispielsweise zu England die existentialistische Literatur und Philosophie nach dem Krieg eine derartige Bedeutung bekam, es gab eine strukturelle Entsprechung. ( S. 91)

Dabei wird aus der Lektüre des Romans von Camus zunächst eine individualistische Ablehnung geboren. Mehr noch, die starke Betonung des Einzelnen bereitet den Boden für die Trennung der beiden Freunde.

Was uns in „Der Fremde“ ansprach, war die Abgrenzung von all dem, was Konvention war, die Infragestellung der großen Gefühle und Tugenden: Nation, Familie, Heimat, Pflicht, Glaube, Treue. Das hatten wir herausgelesen, die Kühle, den Zweifel, keine Gewissheit, den Wunsch nach Konsequenz, die „Leidenschaft Denken“, das vor allem, sich nicht vorschnell mit Widersprüchlichem versöhnen, keine Lauheit dulden. Bedingungslosigkeit und Gleichmut waren dafür die Vorraussetzung. Die „indifférence“ war der geheime Treibsatz, um sich selbst das Interesse zu geben, „fern“ und „fremd“ zu sein, ein Interesse, das man dadurch – und das war sicherlich ein wenig pubertär – auch von den anderen für sich erhoffte. (S. 64 f.)

Jahre später wir der „Fremde“ auch zum Ent-Schlüsseltext bei der Annäherung an Ohnesorgs Tod.

Zunächst waren es die Versuche, über ihn zu schreiben, um das Zufällige, das Absurde, das in seinem Tod lag, zu zeigen. Unabweisbar drängte sich der Vergleich auf: Meursault, der den Araber erschießt, wird vom Staat zum Tode verurteilt, den Polizisten Karl-Heinz Kurras spricht der Staat frei, mit der Begründung es sei ein „Todesschuß aus putativer Notwehr“ gewesen. (S. 92)

Ohnesorg wird in dieser Analogie zum Araber. Dem Messerblitzen, das Meursault zum Mord provoziert, korrespondiert das von keinem außer vom beschuldigten Polizisten selbst gesehene Messer, das den tödlichen Kopfschuss als Notwehr rechtfertigt. In letzter Konsequenz steht damit der Freispruch wegen „putative Notwehr“ für die indifférence des Staates gegenüber dem Opfer Ohnesorg.

Ohnesorgs Tod durchbricht also nicht nur Timms indifférence. Die Ermordung des unschuldigen Studenten wendet – wie Okkupation und Faschismus 25 Jahre zuvor in Frankreich – philosophischen Protest und Revolte endgültig ins Politische. Ganz konkret sieht Timm im Freispruch für den Polizisten

 … nur noch die Bestätigung dessen, worauf dieser Totschlag aufmerksam gemacht hatte, auf eine Staatsmacht, in der zahlreiche Funktionsträger aus dem nationalsozialistischen Machtapparat agierten. [ …] Die Empörung über diese autoritären bis faschistischen Personen im Staatsapparat führte zu einer Radikalisierung der Protestbewegung. (S. 120 f.)

Das Problem der Absurdität

Nun sind die „Bewegung 2. Juni“, sind Bader-Meinhof und RAF nicht mehr weit. So beobachtet Timm Anfang der 70er Jahre ein „langsam erstarrendes, organisatorisch bürokratisches Denken“, das nur an „die einzig richtige Theorie“ glaubt – jetzt gibt es eine neue „Generallinie“ (S. 160 f.). Solche vorgeblich revolutionäre Radikalität lehnt Timm ab und beruft sich dabei mit Karl Marx auf einen der Hausheiligen der Protestbewegung: „Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist.“ (Karl Marx: Thesen über Feuerbach)

Gegenüber diesen Bedürfnissen blieb die ausgerufene Avantgarde aus Stadtguerilla und revolutionärer Studentenschaft jedoch indifferent, indem sie gewonnene Freiheit gegen „ein repressives Verhalten gegenüber jeglicher Abweichung“ (S. 161) eintauschte. Das macht Benno Ohnesorg, Uwe Timms Freund, zum zweiten Mal zum wehrlosen Opfer, da die neuen Akteure auch in seinem Namen auftreten, sein Tod ihnen das Messerblitzen ist, das Gewalt und Mord rechtfertigen soll.

Timms Text versucht – wie Bonnards Gemälde – den Beginn zu beleuchten. Aber das, was Timm zu diesem Fremden hinzieht, ist eine, zunächst vorausschauende, später rückblickende Sichtweise einer Person, die er nicht kennt, und der er dennoch bis zur Ermordung Ohnesorgs verhaftet bleibt. Es ist jener Gestus, der aus Camus „Fremden“ übergesprungen scheint und eine Beziehung begründet, die den anderen nur als Fremden zum Freund werden lässt:

Er hielt sich in den ersten Tagen ein wenig, doch jeden demonstrativen Gestus vermeidend, von den sich bildenden Gruppen fern. Aus diesem Insichgekehrten sprach nichts Verdrucktes, Zaghaftes, sondern etwas selbstverständlich Unabhängiges. Das weckte meine Neugier und so suchte ich seine Nähe. (S. 8)

Diese Beschreibung auf den ersten Seiten der Erzählung zeigt, wie der Autor Timm etwas wollte, was er ablehnte, als er es erhielt. Sechs Jahre nach diesem Beginn sitzt er in Paris an seiner Doktorarbeit über „Das Problem der Absurdität bei Camus“ als die Nachricht vom Tod des Freundes die späte Erkenntnis der eigenen Verkennung initialisiert. Er hat den Freund wie einen Fremden behandelt, um Schriftsteller werden zu können, doch erst der Tod machte ihn endgültig dazu. Timm unterbricht die Arbeit an der Dissertation, legt die Seiten des Kapitels beiseite, zerreißt sie später sogar (S.9). Die Gewissheit des Absurden, keine Freundschaft auf Indifferenz gründen zu können, verlangt den Literaten und nicht den Philosophen – bei Camus wie bei Timm.

Uwe Timms Erzählung dekonstruiert die Ikone Benno Ohnesorg über die Lektüre des Romans von Albert Camus. Timm selbst macht sich so wieder zum „Freund“ des Toten, der ihn zum Schriftsteller werden ließ.