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April 2006 Dirk Martschin
für satt.org

Ror Wolf:
Gesammelte Fußballhörspiele

Intermedium Records, München 2006

Cover

4 CDs, 241 Min.
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„Im Kopp habbe“

Zu den Gesammelten Fußball-Collagen Ror Wolfs
oder Eine runde Sache in eckiger Form

Es gibt drei Bücher für den Fußballfan, der lesen kann: „Alle unsere frühen Schlachten“ von Javier Marias, „Fever Pitch“ von Nick Hornby, „Poetik des Fußballs“ von Gunter Gebauer – und ab jetzt auch vier CDs, in die er tunlichst reinhören sollte.

Die WM 2006 in Deutschland wirft allerorten ihre Schatten voraus. Neben vielem, was die Welt nicht braucht, insbesondere im Merchandising-Sektor, findet sich überraschenderweise tatsächlich das ein oder andere, welches einen zweiten Blick, eine intensivere Beschäftigung lohnt. Darunter zähle ich „Ror Wolf. Gesammelte Fußballhörspiele. Zehn Radiocollagen aus vergangenen Tagen & Das langsame Erschlaffen der Kräfte“, veröffentlicht von intermedium rec. Bemerkenswert schon allein deshalb, weil man dankenswerterweise bei der Aufmachung auf den Löwen ohne Unterleib und Höschen und ähnliche Entgleisungen des Geschmacks verzichtet hat. Es finden sich auf den vier CDs zehn Hörspielcollagen aus der Zeit, als der Ball noch „schwarz-getüpfelt“ war. Eine elfte wurde für die Zusammenstellung aus noch nicht verwertetem Material eigens eingespielt. Es ist nicht nur, aber auch die Wiedererweckung des Fußballs der siebziger Jahre in authentischen Äußerungen, eben des Jahrzehnts, von dem jeder deutsche Fußballfan heute weiß, dass es die goldene Ära des deutschen Fußballs war und wohl noch lange sein wird. Grund genug, sich ihr intensiver zu widmen.

Die Zusammenstellung beginnt mit dem Stück „Die heiße Luft der Spiele“. Ein nüchtern klingender Erzähler erinnert sich an Mannschaften und Spiele zurück bis in die 20er Jahre. Man lauscht den Kommentaren der Trainingskiebitze am Riederwald, welche sich wie ein roter Faden durch das Werk ziehen, und den nüchternen Anweisungen des Trainers vor einem Spiel, erfährt von technischen Schwierigkeiten einer Radio-Übertragung, vernimmt Äußerungen zu der Frage „Müller oder Seeler“, meint unmittelbar neben einem aufgebracht schreienden Fan zu stehen und wird schließlich mit einem Fußballerleben im Zeitraffer konfrontiert. Für den Fußballfan ist der ruhige Erzähler jemand, dem er sofort Vertrauen entgegenbringt und zuhören möchte, denn die Berichte und Erfahrungen, Erlebnisse und Geschehnisse der alten Zeit sind von jeher Bestandteil dessen, was die Faszination des Fußballs für jede neue Generation ausmacht.

Auf die Herren, die das Training kritisch und mit dem Sachverstand des Alters und der Erfahrung begleiten, gehe ich an anderer Stelle deutlicher ein. Wenn man die im Studio nachgesprochenen Äußerungen zu der vor 36 Jahren brandaktuellen Frage „Müller oder Seeler oder beide oder keiner“ hört, dann kann man sich eines Anflugs von Ironie nicht erwehren. Genauso verbissen und humorlos wird zur Zeit über Lehmann oder Kahn gestritten. All das und etwas mehr in nicht ganz einer Halbzeit - 42 Minuten. Auch wenn es vielleicht etwas überfrachtet wirken mag, so gewinnt man doch einen Eindruck vom Kommenden, denn alle Versatzstücke werden sich in dieser oder jener Form auf den folgenden Stücken wiederfinden. Erkennbar ist hier bereits der elegische Unterton, der dem Gesamtwerk innewohnt, besonders ausgeprägt in den Sequenzen 4 („Die alten Zeiten sind vorbei“) und 8 („Heinz, wie ist deine Ansicht“), und der von Anbeginn verdeutlicht, dass es hier nicht um das konsumgerechte Bedienen der leicht zu befriedigenden Bedürfnisse unserer heutigen Spaßgeneration geht.

Das zweite Hörspiel, „Die Stunde der Wahrheit – Eine gekürzte Fassung“, gibt die Atemlosigkeit der guten alten Radioreportage wieder, untermalt und geschnitten mit Fan-Gesängen und Fußballer-Interviews. Es gibt sie noch immer, ein Relikt für jene, die Premiere nicht bezahlen wollten oder Samstagnachmittags ihre Autos waschen. Was hat sich geändert? Im Kern nichts – Kontinuität ist eine Basis des Fußballs, der Tradition liebt und lebt. „Rückblick auf große Tage“ lässt, wie der Name schon sagt, die WM 1974 in 22 Minuten akustisch an uns vorüberziehen. Besonders hier kommt Wehmut auf …

In der Collage „Die alten Zeiten sind vorbei“ verspricht der Titel weniger als das Stück hält. Erneut dominieren die bereits erwähnten Trainingsbesucher und -kommentatoren die Szene. Es geht um das Schicksal auch guter Fußballer, dem Vergessen anheim zu fallen, darin die (be-)klagende Stimmung von „Heiße Luft“ thematisch konzentriert aufnehmend. Fünfzehn Minuten wird es uns erlaubt, Ausführungen von Sprechern zu lauschen, die selbst vielleicht bereits vergessen sind, hier aber so echt und unmittelbar klingen, wie es in der heutigen Zeit kaum noch produziert und gesendet wird. Ältere Herren allesamt, eine unbestimmte Zahl, die in Rede und Gegenrede, Widerrede und Monolog frisch und frei, vor allem unzensiert und nicht glattgebügelt wirken. In diese Betrachtung möchte ich das Stück „Expertengespräche“ mit einflechten – hier werden durch dieselben Personen die Anforderungen an einen guten Fußballer definiert. Doch wie werden diese Themen sprachlich gelöst? Das ganze klingt wie eine Mischung aus Godot und Badesalz … Zahlreiche redundante Äußerungen, Wort- und Satzwiederholungen, Halbsätze ohne zum eigentlichen inhaltlichen Klimax je zu gelangen. Vergleiche, die in ihrer scheinbaren Abwegigkeit an die Sonette der Metaphysical Poets des 16. Jahrhunderts erinnern – wenn auch nicht immer in ihrer Tiefe, so doch in ihrer Kühnheit. All das mag man verlachen und abtun als „Geschwätz“. Ich glaube, vieles davon entspricht tatsächlich in großem Maße den Gesprächen, die alle Fußballfans immer und überall führen. Gebauer schreibt in seiner eindrucksvollen „Poetik des Fußballs“, dass es in der Welt des Fußballs keine objektive Erinnerung gibt: „Wenn man dessen Geschichte und geglaubte Größe darstellen will, muß man die emotionale Sprache und typischen Ausdrücke der Liebhaber des Spiels aufnehmen“.

Hier sei gesagt, dass die Sprache des Fußballfans nicht unbedingt grammatikalisch korrekt ist, noch sind seine Darlegungen stets kohärent und wohl strukturiert. In beiden Stücken begegnen wir Beispielen, in den der Hörer selbst die sinnstiftende Verknüpfung einzelner Äußerungen zu leisten hat. Aber kommunikativ wirksam ist diese Sprache allemal. Das Thema bringt die Menschen zum Reden und Zuhören, ungeachtet der sozialen Stellung, der politischen Überzeugung und des Lebensalters. Wenige Themen können das derart bewirken. Man wird kein Fußballfan, weil man Rhetorik anwenden kann. Aber viele werden Rhetoriker, weil sie nicht Fußball spielen können. Ich lauschte diesen älteren Herren gerne.

„Schwierigkeiten beim Umschalten“ wirkt heute wie eine zärtliche Reminiszenz an den stellenweise altväterlichen Stil damaliger Kommentatoren und den heute beinahe unvorstellbaren Tücken der Technik. Im siebten Stück „Merkwürdige Entscheidungen“ steht natürlich der Schiedsrichter im Mittelpunkt. Doch nicht zuletzt das Publikum wird hier Träger der Dynamik dieses Exkurses, denn die Reaktionen auf die Entscheidungen sind hautnah eingefangen. Wie bereits anfangs im ersten Stück und dann noch einmal in „Erschlaffen der Kräfte“, wähnt man sich auf der Tribüne, mittendrin, ungeschützt, während das Publikum lautstark und eindeutig sein Missfallen kundtut. Hier hören wir die andere Seite der bereits erwähnten emotionalen Sprache. Da es beim Fußball darum geht, den Gegner nicht nur zu besiegen, sondern zu demütigen, wie Gebauer richtig feststellt, ist das Publikum entsprechend aufgepeitscht. In der bereits erwähnten „Poetik des Fußballs“ wird konstatiert, dass „das Publikum in der Kurve am weitesten vom bürgerlichen Geschmack entfernt [ist] … In seiner Parteilichkeit ist dieses wohl hemmungslos ungerecht [ …] Lärmschlagen heißt: Einfluß nehmen“. Es klingt, als habe der Autor diese Tonfetzen von Ror Wolf im Kopf gehabt, als er seine Ausführungen niederschrieb. Der Fan ist, wenn er es für erforderlich hält, gnadenlos direkt und ordinär. Er ist unangepasst, intolerant und weit weg von der ansonsten gewollten und überall eingeforderten political correctness. Die leutselige Lyrik des alltäglichen Lebens ist seine Sache am Spieltag nicht.

Im neunten Stück „Der Ball ist rund“ hören wir die Collage eines Spielberichts, komponiert aus Einspielungen und Originalmitschnitten, die im Aufbau erneut dem ersten Stück, aber auch dem elften „Erschlaffen der Kräfte“ ähnelt. Eingangs verlesen Damen alle möglichen Trikotkombinationen, und man fühlt sich natürlich sofort an die aktuelle Diskussion erinnert, ob Deutschland in Rot-Weiß auflaufen soll. Man weiß inzwischen, wer im Trikot von Österreich spielt, spielt auch wie Österreich. In neunten und elften Stück werden wir im Rahmen dieser komprimierten Spielberichterstattung bombardiert mit einem verbalen Schnellfeuer darüber, was man mit einem Ball anstellen kann. Es scheinen eintausendundeins Adjektive zu geben, den Zustand eines Spielfeldes zu beschreiben und die Bespielbarkeit des Platzes zur Sprache zu bringen oder eine Aktion zu schildern. Beide Stücke stehen da wie ein Thesaurus der Fußball-Metaphorik. Die Pointe im „Ball ist rund“ ist, dass das Spiel am Ende nicht stattfindet. Collage zehn widmet sich Cordoba und stellt den deutschen Kommentar dem österreichischen gegenüber. Dadurch gewinnt selbst dieses berüchtigte Spiel eine neue Form der Existenz, die es nachträglich fast erträglich macht.

Ror Wolfs Collagen sind nicht leicht verdaulich und nicht konsumentengerecht aufbereitet. Wolfs Collagen sind Verdichtung und somit die dichterische Darstellung der Faszination Fußball in all ihren Facetten – den tragischen wie den komischen. Der Fußballenthusiast wird nicht in schallendes Gelächter ausbrechen, wenn er Ohrenzeuge der bekannten Phrasen und scheinbar leeren Worthülsen wird – er assoziiert damit Spielszenen, die er als Muster für immer und ewig abgespeichert hat. Das Gejohle und Schreien der Massen, die Macht der Zuschauer, evozieren Situationen, die er selber schon durchlebt hat – es überwiegt hier und da der Wunsch, das Gehörte auch im Bild zu sehen oder zumindest das Ergebnis zu erfahren.

Der zeitliche Abstand wird durch die Universalität des Fußballs fast aufgehoben. Heute hat man zwar 48 Kameras, die jeden Stollen im Gegenwinkel aufnehmen können – doch wir wissen immer noch nicht, ob es Abseits war oder der Ball hinter der Linie, so wie wir auch heute noch nicht wissen, was im Faustischen Sinne die Welt zusammenhält, obschon wir inzwischen auf dem Mars suchen. Deshalb sind diese Collagen das Immer-wieder-Gleiche im Immer-wieder-Anderen.