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November 2005 Patrick Baumgärtel
für satt.org

Ernst Augustin: Eastend
C.H. Beck, München 2005

Umschlagmotiv

328 S., 22,90 €
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Münchner Literatur
und Münchner Fußball
Wie der kluge Schriftsteller Ernst Augustin einen Roman schreibt, der keiner ist.

Glaubt man einem – hier etwas verkürzten - Wort Heimito von Doderers, ist es ein Zeichen literarischer Qualität, wenn sich die Nacherzählung des Inhalts eines Romans derartig wunderlich anhört: Eigentlich pflegt der – geht man nach der Kritik - mediokre Münchner Schriftsteller Almund Grau (eine Anspielung auf den großen schottischen Fantasten Alasdair Gray?) mit seiner Lebensgefährtin Kerrie ein allzu inniges Verhältnis, doch eines Tages kommt diese mit den folgenden Worten nach Hause: „Kniepelchen, ich habe einen Gedanken: Wir gehen in die Gruppe.’“ Also gehen sie in die Gruppe im Zentrum für Encounter und Gruppentherapie, obwohl Almund von vornherein weiß: „soweit ich unterrichtet war, nahmen diese Gruppenerfahrungen bisweilen Ausmaße griechischer Tragödien an und endeten mit der Zerschmetterung aller Teilnehmer. Mit der vollständigen Zerschmetterung.“ Er ist es dann auch, dem am frühesten nahegelegt wird, in Zukunft besser nicht mehr zu kommen. Dass er es dennoch tut, ist der Beginn seiner persönlichen Odyssee. Er verliert Kerrie in einem Augenblick allgemeiner psycho-physischer Annäherung an den schon erfahrenen Gruppenteilnehmer Silvi. Nach ein paar Reisen und einem Selbstmordversuch in den Bergen, der allein am heraufziehenden Föhn scheitert, entschließt sich Almund Grau zu einem neuen Leben. Er fliegt nach London, wohnt einige Zeit in einem heruntergekommenen Asyl für Obdachlose, Behinderte und Ausländer, rettet einem obskuren Immobilienmakler das Leben, bedingt sich von diesem drei Wünsche, kauft ihm günstig ein Haus ab und wird zum Psychotherapeuten Almond Gray. Als solcher kehrt er etwa acht Monate später nach München zurück, sucht die alte Gruppe auf, bei der er sich – jetzt ja ein Experte - für die einst erlittene Schmach revanchiert; Kerrie jedoch kann er nicht finden. Nachdem er sich aufgrund des Streiks der öffentlichen Verkehrsmittel eine Schneise durch die Industriebrachen Ostlondons, vorbei auch an seiner unwirtlichen Bewohnerschar, geschlagen hat, gelangt er halbtot vor seinem Haus an – und nun erfüllt sich sein dritter Wunsch, und Kerrie öffnet wunderbarerweise die Haustür.

Was immer von Doderer gemeint haben mag, die Abwegigkeit eines nacherzählten Plots stellt natürlich an sich noch kein hinreichendes Kriterium für literarische Qualität dar, gilt doch spätestens seit dem Modernismus in der Kritik ein Formprimat. Was die Situation differenzieren hilft und unseren Roman nicht ganz so schrullig in der Ecke stehen lässt. Denn man muss es sagen: Hier hat ein kluger Schriftsteller ein mäßiges Stück Arbeit geleistet.

Es herrscht kein Zweifel daran, dass der Ernst Augustin der frühen achtziger Jahre (es handelt sich hierbei um eine Neuauflage des 1982 bei Suhrkamp erschienenen Buches) es beherrscht, atmosphärisch dichte und gleichzeitig fantastisch anmutende Beschreibungen des damaligen Londoner Eastends und seiner Bewohner zu liefern, die in ihrer Spannung, Dramatik und Düsternis an deutsche Schauermärchen oder die englische Gothic Novel erinnern. Jeder Strich sitzt, wenn er die dunklen, kalten und hässlichen Korridore urbanen Lebens auf eine Leinwand pinselt, die Bilder einer um das reine Überleben kämpfenden Menschheit wiedergibt: „Dies ist eine Straße Londons, die morgens um drei von unsichtbaren Körpern beheizt wird und die ihren besonderen tropischen Geruch aus den tiefgelegenen Bahnhöfen von Aldgate und Liverpool Street bezieht. Aus zwei Etagen, wenn man will Jemand der überraschend, vom Shoreditch kommend, auf den Houndsditch stößt, sieht in einen Krater hinab, in dem tief unten die Drei-Uhr-Züge fahren unter Brandwolken von Dampf, Bierdunst und Brateiern (Qualm von Brateiern). Während hingegen jemand, der von unten herauf, vom Bahnhof zum Houndsditch, hochsteigt, diesen wie eine seltsam auf Eisenträgern ruhende Oberwelt betritt, eine, die um diese Zeit schwer schläft, nur leise angerührt vom Klingklang der Frühzüge, und --- wie ein großer mürber Balkon gleich abstürzen wird."

Es herrscht kein Zweifel daran, dass der Autor auch die glücklichen – ja, utopischen - Seiten der Beziehung Almund – Kerrie in ein literarisch feines und überaus zartes Licht zu tauchen vermag. Die privaten Liebesphantasien des Paares, Geschichten, die sie „fast gleichzeitig erfunden hatten", sind herzzerreißend und wunderschön. In den „Hühnern von Antiochia“ beispielsweise sinnen sie über ihre Beziehung im nächsten Leben als Hühner: „O ja, nun erinnerten wir uns, wie wir beide schwankend und beide mit roten Augen nach unten hängend uns erkannt haben. O ja, in diesem Hühnerleben nur einmal und ganz kurz, nur so lange, wie der fette Bauer an dem dürren Bauern vorübergezogen ist, haben wir uns mit unseren gefolterten Augen angesehen". Oder angesichts der Möglichkeit der Schrumpfung eines Partners auf die Größe eines Schrotkorns machen sie Folgendes aus: „Es sollten Papierblättchen ausgelegt werden [ …], denn auf der weißen Fläche eines Papiers konnte sich selbst ein stecknadelkopfgroßes Wesen bemerkbar machen, und es war auch gar nicht so sehr der Einfall als dessen unbedingte – planvolle – und verläßliche Durchführung, zu der wir uns verpflichteten. Heute und für alle Zeit. Selbst im schwersten Fall. Einer Ehescheidung."

Keinesfalls herrscht Zweifel daran, dass hier ein begnadeter Komiker am Werk ist, der es streckenweise vermag, noch die scheinbar banalsten Dinge zu Gegenständen kosmischen Gelächters werden zu lassen. Im Stile von Roman Polanskis The Fearless Vampire Killers wird auch noch die extremste Situation in eine absurd-komische Form gegossen, ohne Angst vor Zotigem. Doch schießt Augustin dann – wie in dem genannten Filmwerk, was es nicht besser macht, und hier beginnen nun die Probleme – über das Ziel hinaus und die Witze werden zum Selbstzweck, teilweise flach, albern, Lückenfüller, Schenkelklopfer. Ein Woody Allen mit ungekürztem Skript. Dass Kerrie einem miesen Kritiker ihres Mannes einen Kugelschreiber in den „Arsch“ stößt oder dass Almond den Kauf seines Hauses in einem chinesischen Restaurant mit Rattenbällchen krönt, gehört zu den weniger komischen Pointen des Buches, das hierin jedoch sein eigentliches Problem offenbart: das Fehlen eines tragenden inhaltlichen und ideellen Bogens, der die Verbindung der einzelnen Szenen leistet. Worum geht es in diesem Buch? Zuerst versucht der Autor sich über diese Leere hinwegzulachen, dann greift er zum Mittel des plötzlichen Einbruchs des Magischen. Das mögen seine Verteidiger entweder wörtlich nehmen oder als postmodernen Kunstgriff, der die Redundanz von in sich geschlossenen Erzählungen offenlegt. Im ersten Fall scheitert dies aber an der Künstlichkeit des Überbaus und im zweiten Fall: ist denn jede Aneinanderreihung von – wie gesagt durchaus gelungenen Einzelszenen – schon ein Roman? So ist Eastend nur ein gut und leicht zu lesendes, durchaus komisches Buch über Psychogruppen in München, das Londoner Eastend, die Liebe und ein wenig Magie. Ungefähr so also, wie der FC Bayern in der letzten Zeit spielt: unkonzentriert, oberflächlich, ohne große Anstrengung und ohne rechte Willensstärke schießt man in der 80. Minute ein Tor und geht als Sieger vom Platz. Aber gewinnt man so die Champions League?