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Juli 2005 Silke Winzek
für satt.org

Ian McEwan:
Saturday

Diogenes Verlag 2005

Ian McEwan: Saturday

472 S., Hc, 24,90 €
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Ian McEwan:
Saturday

Voller Spannung wurde das neuste Werk von Ian McEwan, Jahrgang 1948, erwartet. McEwan veröffentlicht seit knapp 30 Jahren Romane, die von Leser- und Kritikerschaft gleichermaßen wohlwollend aufgenommen wurden. Ende der Neunziger erhielt er für "Amsterdam" den Booker-Preis. Der ganz große Wurf gelang ihm allerdings erst 2001 mit der Veröffentlichung von "Abbitte", ein Roman von der Sorte, den man nicht aus der Hand legen möchte, voll Suchtpotential, genial, packend, mitreißend und zum heulen schön. Nun also sein Nachfolger, den man an dem Vorgänger messen wird.

"Saturday" - der Titel verspricht, was der Roman hält. Es geht um einen Tag im Leben eines Neurochirurgen. Der 15. Februar 2003 ist der Tag der größten Friedensdemonstration in der Geschichte Londons. Henry Perowne ist 48, glücklich verheiratet, lebt in London, hat 2 talentierte erwachsene Kinder, Daisy, eine Dichterin und Theo, ein Blues-Musiker. Er liebt seine Arbeit und hat darin Erfolg. Hin und wieder, z. B. wenn ihn die Blues-Musik seines Sohnes rührt, stellt er sich die Frage nach einem alternativen Leben, "ein Leben nach dem Herzen", jenseits von Disziplin und Verantwortung einer medizinischen Karriere. Im Grunde genommen lebt er aber im Einklang mit sich selbst. Der Samstag bringt dann außer dem geplanten Squashspiel, dem Einkauf, der Rückkehr seiner Tochter und einem Familienessen bei dem Enkeltochter und Großvater miteinander versöhnt werden sollen, noch einige unliebsame Überraschungen … Am Ende wird nicht nur sein Mercedes mit einigen Beulen und Schrammen davonkommen.

Der Roman schafft es, ein Abbild unserer Zeit zu reproduzieren. Das Leben des Einzelnen ist mittlerweile in den Metropolen von persönlichen Nöten und Ängsten genauso geprägt, wie von der Bedrohung durch Terrorismus und Kriminalität. Haben diese Gefahren wegen ihrer Abstraktheit auf das Leben noch vor einigen Jahren kaum Einfluss genommen, so hat sich das nach dem 11. September geändert. Die Gefahr ist fassbar geworden und hat sich im Leben des Einzelnen als konkrete Angst manifestiert. Dabei passt sich die jüngere Generation an die neuen Gegebenheiten besser an. So heißt es über Theo: "Seine Initiation vor den Fernsehbildern der einstürzenden Türme war heftig gewesen, doch passte er sich schnell an. Seitdem überfliegt er die Zeitungen nach den neusten Entwicklungen, als seien sie Hitlisten. Internationaler Terror, Sicherheitskordon, Kriegsvorbereitungen- sie sind das Gegebene, die Wetterlage. So sieht die Welt nun mal aus, als er erwachsen wird." Henry liest dieselben Zeitungen mit "morbider Besessenheit", sich verbissen an die Hoffnung klammernd, dass es sich um eine vorübergehende Krise handelt. Die Angst vor dem Terror ist ständig präsent und gelangt bei dem geringsten Anlass an die Oberfläche, ein mysteriös abgestürztes Flugzeug reicht, um bei Henry die innere Alarmbereitschaft und die Angst vor Al Kaida zu aktivieren.

Der Roman spielt in der Zeit unmittelbar vor dem Irakkrieg. Er fängt die Stimmung in England, das Argumentieren für und wider den Angriff ein. England tritt nach außen als Mitglied der "Koalition der Willigen" auf, die Bevölkerung aber ist gespalten, das Spannungsfeld geht bis in die einzelnen Familien. So liefern sich auch Henry und seine Tochter erbitterte Diskussionen. Henry, der Ältere und Erfahrenere zaudert dabei, sich auf eine Seite zu stellen, er findet es von Seiten der Kriegsgegner moralisch zweifelhaft, das unmenschliche System von Saddam Hussain in ihr Kalkül nicht einzubeziehen, scheut sich aber auch davor, sich auf die Seite der Kriegsbefürworter zu schlagen. Seine Tochter erwartet von ihrem Vater, dass er Stellung bezieht.

Neben dem politischen Stimmungsbild charakterisiert McEwan eine englische Familie in drei Generationen, ihre Beziehungen zueinander, ihre Auseinandersetzungen und Reibereien, ihre Anhänglichkeiten und Ähnlichkeiten. Es gibt jede Menge Probleme, und trotzdem funktioniert diese Familie auf eine anrührende Weise. Die Eltern kümmern sich liebevoll um ihre doch schon erwachsenen Kinder. Henry besucht regelmäßig seine demenzkranke Mutter, die familiären Beziehungen werden auf eine fast altmodische Weise liebevoll gehegt und gepflegt. In der kleinsten Einheit Familie ist die Welt in England noch in Ordnung. Das gibt Hoffnung, lässt das politische Chaos aber umso drastischer erscheinen. Die Lage ist komplex, die Situation ist uns über den Kopf gewachsen, wir sind hilflos, machtlos und ratlos. Eine Entscheidung zwischen "Richtig" und "Falsch" ist in politischer Sicht für den Einzelnen kaum zu leisten. Die Katastrophe kann, ohne beeinflussbar zu sein, jederzeit über uns herein brechen. Und trotzdem werden wir weitermachen, unsere Leben führen, privates Glück und private Schicksalsschläge erleben und gleichzeitig hoffen, dass kein Desaster geschieht.

McEwan ist Perfektionist in Reinkultur wenn es um die fachlichen Hintergründe seiner Romane geht. Für den vorliegenden Roman hat er zwei Jahre in einer neurochirurgischen Praxis hospitiert, immer wieder Gespräche mit einem Neurochirurgen geführt. In einem Interview hat McEwan gesagt, dass er den Beruf des Protagonisten ausführlich darzustellen wollte, da diesem Bereich im Roman allgemein zu wenig Beachtung geschenkt wird, obwohl sich viele Menschen über ihre berufliche Tätigkeit definieren. So lesen sich Teile des Romans wie Abhandlungen aus einem einschlägigen Fachbuch. Der Leser taucht in die Atmosphäre eines OP´s ein, die schlagenden Schwingtüren, das Geräusch der Holzklogs auf dem Boden, er steht mit am Tisch und verfolgt detailliert die einzelnen Operationsschritte. Dabei schafft der Autor es auch in diesen Passagen den Spannungspegel zu halten, der Leser kommt nicht in die Versuchung die entsprechenden Abschnitte zu überblättern.

McEwan ist ein bemerkenswerter Roman gelungen. Er ist packend, spannend, eindringlich, und zu keiner Zeit langweilig, obwohl er über weite Strecken die Arbeit eines Neurochirurgen beschreibt und zu keiner Zeit von Liebe handelt. Den sich selbst auferlegten äußeren Rahmen eines Tages füllt McEwan bravourös aus. In England wurde der Roman als Hommage an "Mrs. Dalloway" von Virginia Woolf gepriesen. McEwan hat sich von einem guten Autor zu einem der besten zeitgenössischen Schriftsteller entwickelt.