Es ist müßig darüber zu diskutieren, ob Deutschland sich schon seinen ultimativen Wenderoman eingefangen hat. Magdeburg bekam dieser Tage von Anne Hahn eine Langzeitbeobachtung der Jahre zwischen 1986 und 1999. Darauf angesprochen, antwortete sie: "Den Wenderoman gibt es ebenso wenig wie den Holocaustroman, die Schwulenlovestory etcetera. Jeder bastelt an seinem Puzzle, das sich mehr oder weniger hübsch einfügt in das Gesamtbild."
Anne Hahn wurde 1966 in Magdeburg geboren und studierte Kunstgeschichte in Berlin, wo sie heute mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt. Bisher veröffentlichte sie Erzählungen und Reportagen in Anthologien und Zeitschriften. In ihrem Debüt-Roman nimmt sie den Leser mit in die schaurigen Festungsanlagen ihrer Elbestadt, anstatt, wie es bei Provinzliteraten, die in Berlin landen oft der Fall ist, ohnehin Bekanntes über die Hauptstadt zu erzählen. Bei Anne Hahn geht es unaufdringlich und authentisch zu. Liebe im Zeltlager, Zoff im Elternhaus – Sachsen-Anhalt von Unten, na ja, zumindest von innen. Buchtitel und Cover kommen hell und freundlich rüber. "Eine Mogelpackung?" – "Nein, ein schöner Kontrast vom hellen Sommergefühl zu dunklen seelischen Abgründen, wie das Leben selbst." – "Andererseits findet sich auf dem Buchumschlag ohne ersichtlichen Grund kein Autorinnenfoto. Wollte der Verlag nichts zahlen oder glauben Sie an Understatement?" – "Der Verlag möchte seine Leser nicht mit der Schönheit seiner Autorinnen blenden."
Im Buch selbst schwören sich drei Schülerinnen ewige Freundschaft, sie leben sich irgendwann auseinander, ihre Wege kreuzen sich aber immer wieder. Bei Nina, Mo und Katrin geht es um den Ärger mit den staatlichen Behörden, die ihnen die kleinen Späße nicht gönnen, wodurch sie unnötig politisiert werden. Da werden im Jugendklub Punkkonzerte organisiert und blockiert, es wird geliebt und gesoffen, immer am Rande vom herrschenden Verständnis, wie das sozialistische Zusammenleben auszusehen hat. Bald heißt es unumstößlich: sterben oder ankommen, über Baku nach Westberlin. Aus einer Jugendtouristenreise ans Kaspische Meer wird eine Republikflucht, die für ein halbes Jahr im Stasi-Gefängnis endet, zu einer Zeit, als viele DDR-Bürger die Übersiedlung über Ungarn und die CSSR in Angriff nehmen. "Frau Hahn, hinter der Romanfigur Nina verbergen Sie sich. Wer sind Mo und Katrin?" – "Na auch ich, denn ich ist immer eine andere."
Später landet eine Protagonistin erst in Heidelberg, dann in Köln, wo es so ordentlich und traurig ist. Als geeigneter Ort zum Leben kristallisiert sich Berlin-Prenzlauer heraus, denn da es die DDR nicht mehr gibt, kann man es "dort" wieder aushalten. Der Mann fürs Lieben wird gefunden und heißt Martin. Anne Hahn erzählt ihre Geschichten in der Gegenwartsform, flott und sprunghaft, von Sommer zu Sommer, ohne übertrieben zu dramatisieren oder in Nostalgieschmus zu verfallen. Auf die Reaktionen der Lesungsbesucher in Magdeburg befragt, und wie die Menschen dort im ALG-II-Zeitalter zu recht kämen, antwortete sie: "Toll! Erst Stille, dann Zustimmung, später reflexartiger Buchkauf mit Schlangestehen. Und mit dem ALG II lebt es sich überall gleich beschissen, nur liegt in Magdeburg die Problemlösung gleich vor der Nase – die Elbe."