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Dezember 2004 Silke Winzek
für satt.org

Peter Stamm:
In fremden Gärten

Arche Verlag 2003

Stamm: In fremden Gärten

160 S., 18 EUR
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Peter Stamm
"In fremden Gärten"


Meine Regel: Ich lese keine Erzählungen. Sie sind wie ein one-night-stand, ich gehe bevorzugt (literarische) Langzeitbeziehungen ein, vorzugsweise mit Romanen über 400 Seiten, es fällt mir leichter, mich auf ein Buch einzulassen, wenn ich weiß, dass es mich (falls es gut ist) nicht enttäuscht und nach mehr lechzend ohne Aussicht auf vergleichbare Höhepunkte in absehbarer Zeit verlassen kann. Die Ausnahme: Hat es ein Autor mehrfach geschafft, mich durch seine Romane in seinen Bann zu ziehen, gebe ich auch seinen Erzählungen eine Chance. So geschehen im Fall von Peter Stamm. Die Vorläufer "Blitzeis", "Agnes" und "Ungefähre Landschaft" haben mich für diesen Autor sensibilisiert, der eine besondere Gabe hat, den Leser mit sparsamen Worten in die Atmosphäre der Geschichten eintauchen zu lassen. Er schafft es, vergleichbar einem Karikaturisten, mit sparsamer Federführung die treffendsten Facetten einer bestimmten Situation abzubilden. Damit reduziert er seine Geschichten auf das Wesentliche und schafft eine konzentrierte Dichte.

In der ersten Erzählung begegnen wir Regina, einer Frau am Ende ihres Lebens. Wir werden Zeuge ihres allmählichen Rückzuges aus dem Leben, der Tod des Ehemannes, die Entfremdung von den eigenen Kindern, dem eigenen Haus und sich selbst. Auf wenigen Seiten schildert der Autor, was uns am Ende des Lebens erwarten wird: Einsamkeit und Isolation, Unverständnis und Entfremdung.

Henry ist Mädchen für alles, in einer heruntergekommenen, umherziehenden Stuntshow, ein Sonderling unter Außenseitern. Er haust in einem Bretterverschlag, kümmert sich um alle Reparaturen, bewacht die Fahrzeuge und durchbricht jeden Abend in der Show auf ein Auto festgeschnallt eine brennende Bretterwand. Sein Wunsch nach einer normalen Beziehung erscheint angesichts seiner Situation als utopisch. Doch das Unerreichbare passiert: Henry lernt ein Mädchen kennen. Für einen Nachmittag lang scheint alles möglich.

Peter Stamm sucht sich seine Protagonisten nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Oft sind es Außenseiter der Gesellschaft, merkwürdige Typen, ein wenig unheimlich, manchmal unsympathisch aber immer sehr glaubhafte Gestalten in lebensechten Situationen.

Alle Geschichten erscheinen unfertig. Es gibt keine Lösung der Konflikte, dadurch erscheinen die Begebenheiten sehr real, wie aus dem Leben gegriffen und erzählt zu einem Zeitpunkt, zu dem das Geschehen noch in der Schwebe hängt, alles noch möglich ist. Der Ausgang der Erzählungen muss sich in unserem Kopf abspielen. Peter Stamm erreicht dadurch folgenden Effekt: Man setzt sich unweigerlich an die Stelle des Protagonisten und trifft seine eigene Entscheidung, man muss sich mit seinen eigenen moralischen Grundsätzen auseinandersetzen und mit den Schattenseiten des Lebens, wie Alter, Einsamkeit, Ausgrenzung, Fremde und Langeweile.

Zurück bleibt ein indifferentes Gefühl. Kein Bedauern, die Zeit mit dem Buch verbracht zu haben, aber auch eine gewisse Erleichterung, es hinter sich zu haben.