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August 2004
Herbert Hindringer
für satt.org

Sabine Imhof:
Sonntags

Yedermann Verlag, München 2004

Sabine Imhof: Sonntags

10 €   » amazon

"das gedicht ohne ende"
macht den Anfang

Warum Sabine Imhof dicht dran ist, tief zu fallen - darum geht es hier; allerdings nur zwischen den Zeilen, denn vordergründig geht es um "Sonntags", Sabine Imhofs ersten Gedichtband, der mit vier Erzählungen endet; dazwischen stecken mindestens fünf Finger einer Allerhand; der letzte Satz des Buches lautet: "Bei jedem Biss schloss er die Augen". Blablabla.




Sabine Imhof
Sabine Imhof
Foto: Herbert Hindringer


Eines vorweg: ja, ich bin diesem Buch wohl gesonnen. Das liegt allerdings weniger daran, dass ich die Autorin persönlich kenne, sondern daran, dass das Buch mir ebenfalls wohl gesonnen ist (außerdem wollte ich die Imhof damals ja genau aus diesem Grunde kennen lernen: weil ich ihre Gedichte gut fand).
Als ich "Sonntags" zum ersten Mal in Händen hielt (nebenbei bemerkt: Roman Imhof hat den Einband schlicht und wunderbar, sprich schlicht wunderbar gestaltet), habe ich mir folgenden Satz notiert: Sabine Imhof müsste mit diesem Buch endgültig zur größten Dichterin der Schweiz aufsteigen, zumal sie ja schon die größte Dichterin Europas ist!

Ja, Überschwang. Und eine Persiflage auf Bedeutsamkeit. Oder schlicht ein Ventil, weil die Texte von Sabine Imhof so viele Bedeutungsebenen offen legen. Der Leser jedenfalls kann sich darüber und darin sehr talentiert vorkommen und schreibt seine eigenen Empfehlungen - auf Servietten, abgelegte Spielkarten und alte, nicht beglichene Rechnungen. "Sonntags" ist in dieser Hinsicht ein sehr dickes Buch. Und außerdem ist es wie das Leben.

Der Bus fährt rückwärts, der Sonne entgegen. Der Fahrer hat eine Reinigungskassette eingelegt. Sabine Imhof schreibt viel übers Unterwegssein, über den Fortgang der Dinge. Dieses Buch ist ein Rundkurs, der einen immer wieder zum Ausgangspunkt zurückführt: zum Staunen und Wiederlesen. Es ist ein Kreislauf und es sind vor allem die Herzensangelegenheiten, die einen atemlos machen. Sabine Imhof schreibt über die Liebe, als hätte sie diese leibhaftig weggehen sehen. Und dann wieder schreibt sie über die Liebe, als stünde diese sichtbar vor ihr. Trotzdem berichtet sie niemals über das Offensichtliche. Das ist die Kunst. "manchmal / ist ein augenblick / in dem gedichte zu gesichtern werden."

Dort, wo die Wahrnehmung anfängt, beginnt ein Gedicht. Beim Autor, wie auch beim Leser.
Warum lesen Sie Gedichte? Weil sie eine Abkürzung sind? Dann seien Sie gewarnt, die Gedichte von Sabine Imhof könnten zu einem sehr langen Umweg werden. Dabei können Sie aber in jedem Falle sitzen bleiben, denn die Gedichte in diesem Buch wurden dort geschrieben, wo sie auch gelesen werden: im selben Moment. In dem Moment nämlich, da man versteht.

(Was übrigens nicht vorkommt in dem Buch, das sei erwähnt: Politik)

Vor dem Ruhm geht man in die Knie, manchmal noch schnell auf die Toilette oder gar zugrunde. Sabine Imhof geht den Dingen auf den Grund. Versuchen Sie, einen ganzen Tag nur mit den Worten aus diesem Buch zu bestreiten. Sie werden ganz neue Eindrücke gewinnen. Da werden Hände als Hut getragen. Himmelsstücke, die das Verfallsdatum überschritten haben, werden nach und nach zurückgegeben. Schatten kippen von den Wänden. Körper beginnnen zu wuchern, weil sie nicht berührt werden. Anhand des Musters des Bettbezuges wird vorausgesagt, wie viele Nächte den Liebenden noch verbleiben. Haare wachsen nach innen. Und Gedichte über das Alphabet hinaus.

Und hinten, am Ende des Buches, wird schließlich noch Geschichte geschrieben, und zwar in Form von vier Prosatexten, die das einlösen, was die Gedichte ausgelöst haben. Es sind dies Geschichten über Orte, an denen wir alle schon mal gewesen sind. Sabine Imhof hat den Weg zurück gefunden. Dorthin, wo alles klein und eng wird, in und auf die Spitze getrieben. "Du lachst lange. Und laut. Du lachst sonst nie so."

Ich nehme jetzt den Satz über die Größe von Sabine Imhof zurück. Sie ist 1,76 Meter groß. Und sollte sie von dort oben herunter fallen, sie würde uns immer noch etwas hinterlassen: "es reicht // höchstens um / von schränken zu springen / ohne seil // und kurzfristig beten zu lernen."
Meistens schreibt sie über Kleinigkeiten. Und über Verluste. Niemals aber schreibt sie über den Verlust von Kleinigkeiten oder gar die Kleinigkeit von Verlusten.

Letztlich geht es um alles oder nichts in dem Buch. Man könnte aber auch behaupten, es gehe um Aufrichtigkeit und Kühnheit. Oder man könnte sagen, es gehe schlicht um eine Möglichkeit mehr. Aber stattdessen schweige ich jetzt, denn darum geht es in jedem Fall: um kein Wort zuviel. Dieses Buch sollte trotzdem oder gerade deswegen in aller Munde sein. "Bei jedem Biss schloss er die Augen". Es ist leise genug, um endlich still zu sein.