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Mai 2004
Michael Braun
für satt.org

Lyrikpreis Meran 2004

Der Wettbewerb wurde vom 13. bis 15. Mai 2004 ausgetragen.

Der Lyrikpreis Meran wurde im Jahr 1993 vom mittlerweile verstorbenen Dr. Alfred Gruber (Literaturförderer) und vom Bürgermeister Merans, Franz Alber, ins Leben gerufen. Die bisherigen sechs Ausgaben fanden 1993, 1994, 1996, 1998, 2000 und 2002 statt.

Organisiert und ausgeschrieben wird der Preis von der Kurverwaltung Meran und vom Kreis Südtiroler AutorInnen im Südtiroler Künstlerbund.

Teilnahmeberechtigt sind deutschsprachige und deutschschreibende Autorinnen und Autoren, die mindestens einen eigenständigen Lyrik- oder Prosaband veröffentlicht haben (nicht Eigenverlag).

Weitere Infos: Kreis Südtiroler AutorInnen im Südtiroler Künstlerbund Weggensteinstraße 12, 39100 Bozen, Tel. 0471 – 977037 oder E-Mail: info@kuenstlerbund.org oder Kurverwaltung Meran Freiheitsstraße 35, 39012 Meran, Tel. 0473 – 272016 oder E-Mail: info@meraninfo.it

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Lyrik.Log
Die wöchentliche Gedichtanthologie herausgegeben von Ron Winkler

Die Schneebeere
als Gewissheit:


Lyriker in Meran


Man muss sich die zentralen Akteure des Lyrikpreises Meran als glückliche Menschen vorstellen. Das hat zunächst etwas mit der Geographie des weltberühmten Städtchens im idyllischsten Winkel Südtirols zu tun. Wer hier an einem Lyrik-Event teilnimmt, der bringt auch ein gewisses Levitationsbedürfnis mit, hoffnungsfroh gestimmt vom blendenden Licht des Südens. Der Ort des Lyrik-Geschehens selbst, der von einem pompösen Kronleuchter dominierte "Pavillon des Fleurs" im Kurhaus Meran, tut ein übriges, um allzu grimmigen Kritizismus zu dämpfen. So wunderte man sich auch nicht über die Begeisterungsbereitschaft einiger Juroren, die sich zu immer neuen Gipfelpunkten schwang. "Das ist Dichtung, die mich glücklich macht", konstatierte Jurorin Ulla Hahn angesichts der Gedichte des Preisträgers Michael Donhauser – und es ist dieser stets euphoriebereite Zugriff auf Gedichte, der die Meraner Veranstaltung zu einem der beliebtesten Lyrik-Events im deutschsprachigen Raum hat aufsteigen lassen. Statt erbitterter textkritischer Schaukämpfe um Gedichte findet man hier eine Produktionsstätte interpretatorischen Feinsinns vor. Auch bei der siebten Auflage des Preises beugte sich eine hochkarätig besetzte Jury (Kurt Drawert, Ulla Hahn, Hans-Jürgen Balmes u.a.) in ausdauernden Diskursen über die Gedichte von neun Kandidaten – und nur punktuell war an der Solidität der Urteile zu zweifeln.

So hatte der Schweizer Lyriker Andreas Neeser das Pech, ein von poetischer Bedeutungsschwere gleichsam umzingeltes Wort wie "Meridian" zum Titel eines Gedichts zu erheben. Ursprünglich nur eine Bezeichnung für die virtuellen Liniennetze, die sich über unsere Erdkugel ziehen, löst das Wort "Meridian" bei Verwendung in zeitgenössischen Gedichten einen Deutungsreflex aus, der dem Autor nur zum Nachteil gereichen kann. Weil Paul Celan 1960 seine berühmte Büchner-Preisrede mit dem Titel "Der Meridian" geschmückt hatte, wurde nun Neeser entgegen gehalten, seine auf Aussparung und Konzentration bedachten Gedichte könnten sich mit Celans Bildgenauigkeit nicht messen.

In einem anderen Fall traute die Jury ihrem Lob für Matthias Göritz nicht, der es als einziger Autor gewagt hatte, aus der mitunter ängstlichen Traditionsergebenheit seiner Kollegen herauszutreten und eine Poetik der Offenheit und des fragmentarischen Subjektivität zu realisieren. Göritz´ Mut, sich wie sein Vorbild, der radikale Formzertrümmerer Rolf Dieter Brinkmann auf poetisch noch unvermessenes Gelände zu wagen, "aus der (lyrischen) Sprache und den Festlegungen raus", wurde nicht honoriert – denn die Preise gingen an die Favoriten.

Die Dichterin Silke Scheuermann, die seit ihrem 2001 veröffentlichten Debütband "Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen" als neues lyrisches "Fräuleinwunder" umraunt wird, erhielt etwas überraschend "nur" den kleinen Förderpreis der Kurverwaltung Meran (2100 Euro). Eine "außerordentliche Imaginationsbegabung" (Kurt Drawert), eine verblüffende Raffinesse bei der Anverwandlung mythologischer Figuren (Medusa, Arachne, usf,) wurde Silke Scheuermann zwar konzediert. Indes stößt das Balancieren ihrer Figuren zwischen "Wunderland" und existenziellem Abgrund seit ihren phänomenalen Erfolgen auf zunehmendes Misstrauen.

Der zweite Förderpreisträger Jan Wagner (Alfred-Gruber-Preis, 3100 Euro) betreibt ganz subtil die Revitalisierung einer ästhetizistischen Poetik. Da werden fast demonstrativ "fin de siècle"-Motive aufgerufen – aber dann folgt eine ernüchternde Wendung in die Gegenwart und unter dem Idyll lugt das Grauen hervor.

An den zyklisch verwobenen Gedichten des Hauptpreisträgers Michael Donhauser (Meraner Lyrikpreis, 8000 Euro) faszinierte die Inständigkeit, mit der in einer herbstlichen Landschaft die "Schönheit" und Vergänglichkeit der Dinge aufgerufen werden. Donhauers lyrische Protagonisten waren schon immer Fußreisende, die im Gleichmaß des Gehens durch die Landschaft ihr Versmass zu finden hofften. Mit großer Emphase näherten sich auch seine preisgekrönten Gedichte den Phänomenen der Natur, von denen sich das Ich eine metaphysische Erlösung erhofft:

Das Sehnen und Sagen, es wehte durch/ die Fluren, ich suchte und wieder jene / Schneebeere als Gewissheit, die Schlehe / und den Holunder, in der Weite, in dem / Schwellen, Atmen, dem Heben wie von Armen, vollen, weichen, als wäre noch / und getragen so der Himmel, …..

Ein vom Geflüster der Natur ergriffenes Ich wäre noch vor einem Jahrzehnt als schwerer Systemfehler der Dichtung moniert worden. In Michael Donhausers Dichtung erhält dieses naturempfindsame Ich wieder ein poetisches Existenzrecht.