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Dezember 2002
Gabriele Hundrieser
für satt.org

Lutz Rathenow, Heinz Ratz:
Das RR-Projekt. Texte Töne Trasch.
HörZeichen . HörBuchVerlag
Gerichshain 2002
    » www.hoerzeichen.de

Das RR-Projekt. Texte Töne Trasch.

Laufzeit ca. 45 Min.
14,00 EUR
   » amazon

Das RR Projekt:
Texte Töne Trash

Eine HörSpielCD


Trotz der ungemeinen Vorteile, die das Medium Hörbuch als solches mit sich bringt – beim Lauschen einer Geschichte läßt sich aufräumen, bügeln und allerlei sonstiges Tagwerk verrichten –, bleibt doch bisweilen zu fragen, warum sich Menschen sehenden Auges Literatur vorlesen lassen sollten. Bis man dann, und das ist eher selten, auf eine Hörbuchbearbeitung stößt, die die schmutzige Wohnung, die Berge von Wäsche vergessen läßt und unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein solcher Fall ist „Das RR Projekt“.

Hinter den Initialen verbirgt sich nicht etwa ein neu-deutsches Hip-Hop oder Techno-Duo, wie mancher vielleicht vorschnell vermuten mag, sondern vielmehr der 1952 in Jena geborene Autor Lutz Rathenow und das Multitalent Heinz Ratz (süddeutsch für ‚Ratte’), Jahrgang 1968. Zwei Künstler mit Biographien, die – allerdings nur scheinbar – nicht unterschiedlicher sein könnten: Rathenow gehörte zum Dunstkreis der Prenzlauer-Berg-Szene, galt in der DDR als Dissident und hat sich mittlerweile mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen (u. a. Lyrik, Prosa, essayistische Schriften und Kinderbücher) in der deutschen Literaturlandschaft fest etabliert. Ratz, ein Vagabund und Globetrotter, der zunächst das Theater auf bedeutenden und unbedeutenden Bühnen für sich entdeckte, dann auch zur Musik überwechselte und mittlerweile ebenfalls eine Reihe von literarischen Texten publiziert hat.

Heinz Ratz präsentiert nun also unseren Ohren Texte von Lutz Rathenow. Dabei handelt es sich aber nicht um ein Hörbuch im klassischen Sinne, denn in 22 Hör-Stücken singt, liest und spielt – so der Untertitel der CD – der Multikünstler Ratz diese Texte auf eine überaus faszinierende Weise: Obwohl sie ursprünglich aus verschiedensten Werken seit 1995 stammen, werden die Texte von Rathenow in eine akustische Inszenierung überführt, die fast einem Hörspiel gleichkommt. Ratz unterlegt die Texte Rathenows mit musikalischen Effekten, Klangteppichen und -collagen und verwendet dabei eine ganze Bandbreite von Instrumenten, vom E- und Akustik-Bass über Keyboards und Drumcomputer bis hin zum Kinderspielzeug.

Es ist aber vor allem seine Stimme, die das Faszinosum der CD ausmacht. Ratz bedient sich der Texte wie einer Sprachpartitur: Mal ist es Gesang, auf Canto folgt Gezischel und Gelispel, dann wieder wählt er unvermittelt einen protokollarischen Tonfall. Die Stimmen schieben sich ineinander, Worte verhallen in Echoräumen. Textfragmente werden montiert, verfremdet und parallelisiert, um dann sogleich wieder auseinandergerissen zu werden. So z. B. in der Umsetzung des Textes vom träumenden Sisyphos, dem Auftaktstück der CD, in der der schlafende Held den unausweichlichen Fall als einzige Gewißheit erlebt: „Der ewige Sturz. Und die Ahnung, augenblicklich zu zerschellen, wenn ihn sein Flug nicht mehr ängstigt.“ Ratzens Stimme und seine klanglichen Umsetzungen erinnern dabei bisweilen an die literarischen Bearbeitungen von Blixa Bargeld und seiner Gruppe Einstürzende Neubauten – ein Vergleich, den Ratz keineswegs scheuen muß.

Indem Ratz die Texte in unerwartete Sprach- und Klangmuster verwandelt und sie in ein kohärentes Ganzes fügt, erschließen sich auch dem mit Rathenows Werk vertrautem Leser überraschend neue Interpretationswege. Gleich einer Theaterinszenierung, die uns Altbekanntes in einer frappierend neuen Form präsentiert, eröffnen sich mit dieser CD neue Blickwinkel auf scheinbar Wohlbekanntes. Das soeben erschiene „RR Projekt“ bietet deshalb eine wunderbare Gelegenheit, die Texte von Lutz Rathenow ganz neu oder eben einfach nur ganz anders – und ist das nicht schlußendlich dasselbe? – kennenzulernen.

Dabei kann die Wohnung mit der Wäsche getrost eine Dreiviertelstunde warten.