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November 2002
Anne Hahn
für satt.org

Marc Wortmann:
Der Witwentröster
Kiepenheuer & Witsch 2002

Marc Wortmann: Der Witwentröster

348 Seiten, 19,90 EUR
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Zwischen Demenz und Gestank

Marc Wortmann lässt einen neunzehnjährigen Zivi Witwen trösten

„Ich konnte die Witwen an ihrem Gestank erkennen, bevor ich ihre Namen wusste. Jedes Paar Witwenaugen, das mir morgens durch die Bettgitter entgegensah, bedeutete für mich einen bestimmten Gestank. Es gab Witwengesichter, die mir in die Magengrube schlugen, und Witwengesichter, die sträubten mir die Haare auf dem Unterarm. Bei manchen Gesichtern schüttelte es mich, und mir rasten Kälteschauer über den Rücken, andere Gesichter drückten mir auf die Lunge und auf die Atemwege und trieben mich zur Eile an. Und wieder andere Gesichter bedeuteten warmen, süßen Dunst; die waren erst frühmorgens, kurz bevor der Dienst begann, auf die Töpfe gestiegen. Da war noch heißer Urin in der Luft, und wenn ich die Decke zurückschlug, schimmerten frische Tropfen am Nachthemd oder auf der Unterlage oder auf dem Laken.“ Ein Roman, der so direkt und abstoßend beginnt, bewegt den Leser dazu, das Buch entweder sofort in die Ecke zu schleudern – oder, sich fest zu lesen. Mir ist letzteres passiert. Marc Wortmann macht neugierig. Warum steigt da ein Autor in die Tiefen vergreister Hirne hinab, beschreibt minutiös die Erscheinungen körperlichen Alterns, des stinkenden Verfalls?

Zur Handlung: 1985 tritt der 19jährige Jan Oltrogge in einem kleinen Frauen-Altersheim in Hamburg-Altona als Zivildienstleistender seinen Dienst an. Nach den ersten verzweifelten Wochen, in denen Jan versucht, mit dem Tempo der anderen Schwestern beim Waschen und Bettenmachen Schritt zu halten, sondiert er die Lage. Das Problem der alten Frauen ist ihr offensichtlicher Mangel. Verlorene Liebe, ungelöste Geheimnisse. Vergessen. Jan definiert seine Rolle. „Ich bin Witwentröster … Ich habe ausgerechnet: Ich habe über 5000 Jahre hinweg getröstet. Diese 5000 Jahre sind nicht als chronologische Abfolge zu betrachten, sondern als eine Vielzahl von Leben, die nebeneinander existieren.“ Denn 61 Witwen, deren Durchschnittsalter 84 Jahre beträgt, ergeben 5124 Jahre. Doch Jan kann die Mauer des Vergessens und der Schrulligkeiten nicht durchbrechen. Die Witwen erinnern sich nicht. Der Witwentröster lernt, selbst Teil der Vergangenheit zu werden.

Er macht alle möglichen Pläne für die Zukunft, hat die Schule gerade hinter sich, soeben sein Elternhaus verlassen, plant Reisen, ein Studium, vielleicht einige Semester oder ein paar Jahre im Ausland. „Doch wer ein Witwenheim betritt, sollte alle Pläne fahren lassen. Wer ein Witwenheim betritt, sollte nicht darüber nachdenken, dass eine Zukunft vor ihm liegt, denn er wird alle Mühe haben, sich der Vergangenheit zu erwehren.“

Die chronologisch gefassten Kapitel des knapp 350 Seiten starken Wälzers fließen auf das Erlösungsziel zu, das Witwentrösten. Immer länger hält sich Jan bei den alten Frauen auf, befragt sie nach der Vergangenheit, stochert in den Beziehungen zu den Verwandten und den Toten herum. Erweckt Missfallen bei Witwen und Personal. „Der Witwentröster schafft seine Arbeit nicht.“ Wortmann beschreibt den Alltag des Witwenheims mit bissiger Akribie. „Morgens beim Witwenwaschen hatte sich die Witwe Rüther in ihren Ausscheidungen gewälzt …und die Witwe Nemethy hatte drei gestohlene Gebisse auf ihrem Waschbecken liegen …“ Weihnachten naht, und damit der Schokoladensegen. „Die Auswirkung des Schokoladensegens: Die Verdauungssysteme von mindestens 25 Witwen brachen in der dritten Dezemberwoche zusammen. Schwester Therese und Schwester Sabine liefen mit Plastikhandschuhen und Klistieren und Schüsseln mit warmer Seifenlauge durchs Haus … Jeder Einlauf, den sie vornahmen, brachte eine Explosion von Gestank: verhärtete Gebilde, dünnflüssige, alkoholisch riechende Flüssigkeiten, schwarze, blutige, unter Schmerzen zutage geförderte Solitäre … Jahrzehnte der Entbehrung und des Mangels hatten sich an den Darmwänden abgelagert …“

Jan flieht den Gestank und beobachtet. Sylvesternacht schleicht er durch die Flure des Heims, lauscht auf das Stöhnen und Murmeln. Neujahrsmorgen, Jan hat einen Entschluss gefasst. „Am nächsten Morgen stand ich bei der Witwe Neffe im Dachgeschoss und half ihr beim Anziehen. Ich sagte ‚Frau Neffe, jetzt ist Schluss mit dem Versteckspiel!’ ‚Wovon reden Sie?’ fragte die Witwe Neffe. „davon, das Sie Ihren Mangel verstecken. Aber mich täuschen Sie nicht. Jede Witwe hat ihren Mangel.’ ‚Junger Mann, Sie sind nicht ganz dicht!’, sagte die Witwe Neffe. ‚Wir sprechen uns wieder!’ sagte ich.“

Und nun beginnt, über etwa 200 Seiten ausgebreitet, das furiose, märchenhafte Erwecken der Witwen. Der junge Zivildienstleistende schafft, was kein anderer kann oder will. Die Witwen zum Erinnern, zum Aufbrechen ihres Vergessens zu bringen. Sie werden wach, lebendig - und das hat phantastische Folgen. Nein, mehr werde ich nicht verraten, sonst bringe ich Sie um den Genuss eines brillant gestrickten Entwicklungsromans. Marc Wortmann beschreibt die Mannwerdung eines gradlinigen, schwierigen Jugendlichen, der sich einmischt und nicht dem oberflächlichen „wiegehtesunsdennheute“ Pflegeduktus, der Verdummung alter, scheinbar hilfloser Menschen erliegt. Dieses Buch erschüttert, erheitert und verblüfft. Wie ein trauriger und schelmischer Zeigefinger bohrt Wortmann in die Wunden unserer Verwahrungs- und Abschottungsgesellschaft. Sein Held ist kein Held, er handelt und irrt gnadenlos. Lesen Sie selbst!