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November 2002
Ron Winkler
für satt.org

Jana Hensel:
Zonenkinder
Rowohlt, Reinbek 2002

Jana Hensel: Zonenkinder

176 Seiten, 14,90 EUR
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Die lange kurze Kindheit

Jana Hensel postuliert mit „Zonenkinder“ eine heimatlose Generation

Als 1989 die DDR verpuffte, galt es für die Ostdeutschen, neue Kontinuitäten zu erlangen. Diejenigen, deren Bewusstsein aufgrund ihrer Jugend nicht sonderlich von der Härte des Ordinalstaats kontaminiert war, hatten diesbezüglich sicherlich Vorteile. Dennoch war es unumgänglich, dass unabhängig vom erreichten Status irgendwann Fragen auftauchen würden, inwiefern man vom sozialistischen Alltag geprägt wurde und ohne die Wende (zu dem Zeitpunkt) noch hätte biografisch beeinflusst werden können.

In dem Essay „Zonenkinder“ versucht die in Leipzig geborene Jana Hensel, die Geschichte und mentale Situation dieser, ihrer eigenen Generation zu beschreiben. Zwölf Jahre nach Auslaufen des deutschen Sozialismusmodells blickt die 26-jährige mit aufklärerischem Impuls in eine („eine andere“) Zeit zurück, „die den Geruch eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden.“

Um den Preis, auch falsche Worte zu finden, schreibt die Autorin an für einen Identitätsgewinn all jener, die wie sie mit zwei „halben Leben“ auskommen müssen. Sie habe es gehasst, sich „wie ein Tourist im eigenen Leben zu bewegen“. Dass das Ende der Kindheit passgenau mit dem des ostdeutschen Staates zusammengefallen sei, benutzt Jana Hensel als tragendes Motiv. „Eine ganze Generation entstand im Verschwinden“, schreibt sie griffig, und habe „weder in der DDR noch in der Bundesrepublik erwachsen“ werden können. Den einen Staat gab es nicht mehr, und der andere hielt erst Einzug.

Ein wenig merkwürdig erscheint es schon, wenn trotz der ausgebreiteten Erinnerungsfülle behauptet wird, die 'Zonenkinder' besäßen keine Kindheit mehr, sondern nur noch ein „Museum ohne Namen.“ Wenn man dies dialektisch liest, bedeutet es, dass die westdeutschen ‚Dreizonenkinder’ noch eine Kindheit haben, mindestens aber ein Etikett dafür.

Zum Phantomschmerz um die eine, ungeteilte Kindheit gesellt Jana Hensel das Konstrukt von der verlorenen Heimat, welche sie unlösbar mit der sozialistischen Herkunft verknüpft: „Heimat, das war ein Ort, an dem wir nur kurz sein durften.“ Unterschwellig, bisweilen auch deutlicher ist zu vernehmen, dass die DDR für sie und „uns“ getrost noch zu ihrem Recht hätte kommen sollen. Und sei es jenes Recht, die Kindheit ohne Kontinuitätsbruch auslaufen zu lassen.

Die eigentliche Tragik liegt also gewissermaßen in der fehlenden Systemimmanenz. Ohne die Umstände ihrer Entstehung, meint Hensel, seien weder Kindheit noch Heimat zu haben.

Die bisherigen Routinen des Alltags wurden mit dem Ende der DDR brüchig und überflüssig. Ostdeutsche Räume und Zeit habe man „wegsaniert“, mit pseudo-authentischer Geschichte überlagert und damit „geschichtslos“ gemacht. „Diese übermalten Orte kennen wir nicht, sie sind uns nicht vertraut.“ Zudem geschah Seltsames: „Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren.“

Aus dieser Haltung demonstrativ melancholischer Irritiertheit heraus beginnt die Autorin zu verteidigen, was sie a) kaum kannte, und was b) in moralischer Hinsicht dessen kaum würdig ist. Ihre meist widerborstig ausgeführte Nostalgie legitimiert sich aus dem Defizit an Erfahrung von DDR. „Man lernt die Dinge eben erst dann zu schätzen, wenn sie verschwunden sind.“

Der staunende und nur unbestimmt kritische Blick auf das Verschwinden von Gewohnheiten und Begriffen führt Jana Hensel auch zum Begriff „Fidschi“, einem gängigen Pejorativ für Vietnamesen. „Zu den Fidschis durfte ich nicht länger Fidschis sagen, sondern musste sie Ausländer oder Asylbewerber nennen“. Der Passus ist in zweierlei Hinsicht delikat: Zum einen trauert das Ich der abfälligen, scheinbar korrekten Bemerkung hinterher, zum anderen wird suggeriert, der lässige Zynismus dieses Pejorativs hätte heute keinen Bestand mehr. Im Übrigen stimmt es auch nicht, dass es keine Schimpfwörter für in der DDR lebende Kubaner und Mosambikaner gab, wie Hensel anschließend behauptet, abgesehen von ganz anderen Formen des Rassismus’.

„Zonenkinder“ birgt Pauschalisierungen und Platitüden erheblichen Ausmaßes. Einigermaßen erschreckend ist der Umgang mit Klischees. Die Polen etwa waren „immer zu fünft in einen Polski-Fiat gezwängt“. „Die Tschechen […] aßen immerzu Oblaten und fuhren nichts anderes als Skoda. Der Ungar war elegant, sah gut aus und interessierte sich nicht für den Ostblock.“ Man kann nur hoffen, dass hier Satire hat stattfinden sollen.

Neben Formen eines solchen paraliterarischen Leichthins findet sich wiederholt rhetorischer Edelpathos: „Wenige von uns sind in ihrer Kindheit an der Ostsee angekommen. Aber viele auf dem halben Weg dorthin irgendwo steckengeblieben, weshalb es mir manchmal so vorkommt, als seien wir all die Jahre zum Meer unterwegs gewesen.“

Hensel bedauert in ihrem Wiederaufbereitungstext, dass der Diskurs DDR heute gesellschaftlich kaum eine Rolle mehr spielt. Daraus resultiert bei ihr zum einen Verweigerung, zum anderen aber auch eine trotzige Feindseligkeit - oft ausgedrückt in der Diffamierung der Eltern: ihres Lebensstils, ihrer Mentalitäten und ihrer Ambitionen. Relativ hochmütig wird die eigene Generation als ästhetisch beschlagenere und geistig weitaus mobilere geschildert. Als eine, die den „miefigen Nachwendealltag“ zu reflektieren vermag, wenn es ihr auch nicht gelingt, ihn restlos zu bewältigen.

Das Angebot Westen kommt hingegen idyllisch und weitgehend intakt zum Vorschein. Beobachteter Stil und Abgeklärtheit werden zu Generalismen aufgezäumt. Immer wieder gibt sich Hensel der Annahme hin, westliche Ästhetik sei per se fortschrittlicher und nicht - auch - die Folge gelungener Propaganda. „Der Westen sollte […] unser Freund werden“, heißt es einmal bemüht spöttisch - für die Autorin jedenfalls ist er es schnell geworden.

Stellvertretend für ihre Generation bekundet sie Souveränität in der Adaption bundesrepublikanischer Lebensmuster. Andererseits ist es aber auch nicht unschick, an der 'verlorenen Geschichte' zu leiden. Das Resultat dieser Melange ist flotte Koketterie mit der Tragik eines ahasverschen Daseins.

Differenzen werden munter beiseite gewischt. Beispielsweise haben „wir“ es nie schaffen“ können, „Teil einer Jugendbewegung“ zu sein, klagt Hensel - als ob dies andernorts Gang und Gäbe wäre - und übergeht zugleich, dass es auch im Osten Jugendszenen gab.

Ohne das „schöne warme Wir-Gefühl“ verliefe der enzyklopädische Anspruch des Textes schnell im Sand der Erlebnisse und Bekenntnisse eines heranwachsenden, komplexbeladenen Ichs. Die Wahl des Pronomens allein macht noch keine Generationsfibel. Zudem erscheint das „Wir“ oft divergierend gebraucht. Gilt es zumeist für die zur Zeit der Wende Zwölf- bis Vierzehnjährigen, scheut es sich nicht, bei Gelegenheit auch die einzubinden, die damals bis zu zwanzig Jahre alt waren. Und nur zu gerne würde das „Wir“ in seiner tiefgreifenden Bindungslosigkeit auch folgende Jahrgänge betreffen.

Das großgültige „Wir“ Jana Hensels ist also darauf angelegt, möglichst weit zu reichen. Manchmal greift es aber auch zu kurz. Wenn es etwa heißt, die Friedensfahrt sei (im Sinne des begeisterten Konsums dieses jährlichen Events) „unser wichtigstes sportliches Ereignis“ gewesen, figuriert hier eher ein Volks-Wir denn ein Generations-Wir. Abgesehen davon, dass die Sentenz genau so auch in einem offiziellen Jahrbuch hätte stehen können.

„Zonenkinder“ ist, wie schon der Generationsschuber von Florian Illies, problematisch gerade wegen des gleichschaltenden „Wir“ und dessen hartnäckig behaupteter Mentalität. Das Buch nivelliert unterschiedliche (über)individuelle Konzepte zu einer Sauce, deren Würze die Larmoyanz ist. Das fängt schon bei der Behauptung an, Walentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltall, sei „unser Vorbild“ gewesen, unbedingt also, durchgängig, überall und vielleicht auch in erster Linie. Derart einfach darf man den Gebrauch von Idolen im Sozialismus in einem Text mit soziologischer Ambition nicht etikettieren. Auch die Monotonie der staatlichen Agitation hatte unterschiedliche Ausübungs- und Wirkungsgrade.

Trotz allen raumgreifenden Bestrebens wird mit „Zonenkinder“ bestenfalls eine kulturelle Elite beschrieben. Die auf der Suche scheint nach einem Nest, wo man wirksam, bedeutend und geachtet ist und sein „Wir“ bei Gelegenheit auch einmal ausruhen kann. Oft genug ist in Hensels Schilderung das „Wir“ schmal und traulich wie eine Kleinfamilie.

Die Interessen dieser Generation bleiben ziemlich unklar. Es entsteht jedoch der Eindruck, als sei sie eher von Pseudo- oder Alibi-Interessen geprägt, stets versehen mit einem Hauch blasierter Apathie. Und tatsächlich lobt die Autorin in kaum subtiler Weise die Abstinenz von einer sich in die Gesellschaft verpflichtenden Haltung. Sie selbst hatte sich in ihrem bundesrepublikanischen Leben an Demonstrationen beteiligt, dann aber, dessen überdrüssig, schnell wieder bloß „ein bisschen zugesehen“, wie andere sich politisch betätigten. Wer sich wirklich engagierte, deutet Hensel, hatte „bloß keinen Job abbekommen und zu viel Zeit“. Ihren Argwohn legitimiert sie mit der duldenden Erfahrung eines doktrinären Systems - die hier als politisch aktive Zeit missverstanden wird.

„Zonenkinder“ ist sicher wertvoll darin, Vergessenes aufzurufen. Gelungen ist auch die Darstellung der (kindlich-jugendlichen) Gläubigkeit und später der Fähigkeit, ohne größere ideologische Verluste von Ost auf West umzuschalten. Kaum mehr bloß unangenehm zu nennen sind jedoch die ständigen Störfaktoren: die Unrichtigkeiten und Unsicherheiten (Waren das nun „Knackis“ oder „Assis“ in den Altwarenannahmestellen?), die Ambivalenzen in der Betrachtung (miefiger Nachwendealltag vs. fast liebevoll sagten wir „Zone“), die Versuche der Vereinnahmung oder der Einengung, die penetranten Verweise auf eine nachhaltig provinzielle, bildungslose Herkunft, das eingebrachte ex-post-Wissen, die Aufzählungen, welche das Buch teilweise zu einem Buchstabiertisch der Dingwelt werden lassen, oder die aphoristischen Weisheiten, die dem Text definitorischen Charakter verleihen sollen.

Es bleibt der schale Beigeschmack: Mit einer Bewusstseinsführung wie der in „Zonenkinder“ niedergelegten käme man nirgends in einem Leben an.



(Der Autor dieser Buchbesprechung, Ron Winkler,
gehört zur Generation der am 31.12.1973 in Jena Geborenen.)