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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



April 2002
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Henning Ahrens:
Lauf Jäger lauf
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002

Henning Ahrens: Lauf Jäger lauf
256 Seiten, Tb.
EUR 12,00
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Ein bisschen Unsinn muss sein.
Henning Ahrens Debutroman


Verspürt man nicht auch manchmal dieses scheinbar irrationale Bedürfnis, einfach die Notbremse zu ziehen? Oskar Zorrow folgt diesem Impuls, als er im ICE Richtung Nillberg sitzt und vom Fenster aus einen Fuchs sieht. Dieser Fuchs lockt Zorrow (span. zorro = Fuchs) und Zorrow folgt ihm. Hinein ins Nebelland, wo Morrzow liegt. Morrzow besteht aus einem alten Gutshof mit Herrenhaus, in dem John Schmutz mit drei Freunden lebt. Die vier halten sich dort versteckt, denn sie fürchten Erk, der sie mit seinen übermenschlichen Kräften vernichten will. Deswegen verschanzen sie sich und nur John Schmutz wagt es, Ausflüge ins Nebelland zu unternehmen, wo man sich »zwischen Erinnerung und Vergessen« befindet. In diese Gesellschaft gerät Zorrow hinein. Ein Mensch von geringer Willenskraft, den der »greise Spuk« des Herrenhauses und seiner Bewohner gleichermaßen anzieht und abstößt.

Eine morbide Erotik herrscht in Morrzow. Allabendlich lässt sich Zorrow, mit einem grünen Kleid bekleidet, von John Schmutz vergewaltigen und auch die »nach Fallobst« schmeckenden Küsse einer Freundin Johns, auf deren Händen sich schon Altersflecken breit machen, genießt er nicht ganz freiwillig. Er versucht zu fliehen, aber das Nebelland löscht seine Erinnerung ein ums andere Mal und er kehrt zurück. Bei einem seiner Ausflüge lernt er Hans von Lange kennen, der einst zur Gesellschaft des Herrenhauses gehörte, sich nun aber, auf einer etwas abseits liegenden Insel, im Fischfang versucht und Zorrow mit wirren Reden unterhält: »Nebel! Tyrann und Lüstling. Nebel! [ …] Weber Privat. Prosit, der Untergang, Zorrow! Kreislauf, Gestirne, Abendland, Ende [ …] aufrechte Haltung, Demut und Arbeit - die Rettung [ …] Nebel, Zorrow! Blut und Tränen. Die schmauchenden Rohre, verbogenes Ruder, der ewige Kreislauf. Zorrow [ …] Lu! Dein Busen, die kuschlige Fülle. Nebel! Milch und Zitzen, Gefahren. Der Lustmolch!«

Die Zeit vergeht. John Schmutz tanzt regelmäßig als »der Zeitgeist« verkleidet um den Frühstückstisch um bei den Freunden und Zorrow für ein erbauliches Schaudern zu sorgen. Dräuend schwebt Erk über den Gemäuern. So manche Spur hat er schon hinterlassen. Bevor er aber ganz und gar in seine fürchterliche Erscheinung tritt stößt noch die anmutige Luise, eine alte Freundin Johns zur Kampfgruppe. Seiner erotischen Pflichten entbunden, hält Zorrow nun nichts mehr zurück und er will nun alles wagen, um durchs Nebelland zu entkommen. Luise hingegen wird es sehr schnell zu bunt und auch sie wagt die Flucht. Nun hat die Stunde Erks geschlagen und nachdem der Endkampf vorüber ist, tötet Hans von Lange den letzten Überlebenden. Luise und Zorrow trafen unterdessen im Nebelland auf Clarissa und Piet und ein glückliches Ende erscheint als hoffnungsvoller Streif am Horizont.

Henning Ahrens hat mit »Lauf Jäger lauf« einen Roman geschrieben, dessen groteske Züge zuweilen an Dietmar Daths »Skye Boat Song«, vor allem aber an Georg Kleins »Libidissi« erinnern. Ahrens’ nutzt für die Beschreibung seiner Gegenwelt allerdings die ihm vertraute Landschaft Norddeutschlands, wo alles flach und weit ist, Bäche und Teiche die Wiesen schneiden und Blässhühner ihr Unwesen treiben. Gerade diese Naturbeschreibung sind ihm besonders gelungen. Die Menschen lösen sich in dieser Landschaft fast auf. Tatsächlich sind ihre Persönlichkeiten nur schwach gezeichnet. Auf Psychologie ist in einer solchen Welt auch kein Verlass. Wo Erinnerung beständig gefährdet ist, ist alles möglich. Und Gewalt nichts Ungewöhnliches.

Mit »Lauf Jäger lauf« wendet sich Ahrens gegen die weitverbreitete »Schlichtheit alltagsgesättigter Prosa«, wie er in einer kurzen Nachbemerkung schreibt. Man könnte sagen, dass er sich einer »Poetik des Unsinns« (Winfried Menninghaus) verpflichtet fühlt, wie sie vor allem Ludwig Tieck entwickelt hat. Lose Enden und Widersprüche sind Ahrens dabei erklärtermaßen »Mittel zum Zweck«.. Beachtenswert ist sein Versuch allemal, wenn auch etwas ausufernd. Und der exzessive Gebrauch der Konjunktion »welche(r, s)« (die »Kerze, welche«, der »Nebel, welcher«, »Wie ein Weib sah sie aus, welches«) ist ziemlich enervierend. Verunsicherung bietet der Text schon genug. Und wahrlich originelle noch dazu: »Weder Handhabe noch Wegweiser bot all dies, auch wenn es sich bei den Schlangen, Zorrow begriff es sehr wohl, um poetisch getarnte Züge handeln musste.«