In München steht ein globales Dorfwirtshaus
Heiner Links neues Buch mein jahrtausend
Heiner Link heißt nicht erst so, seit man auf seine Website
www.heinerlink.de verlinken kann, sondern bereits seit 1960. Seit dem 1997 erschienenen Roman
Hungerleider hat der Münchner Autor einen Erzählband und ein Drama veröffentlicht sowie zwei Anthologien herausgegeben (darunter 1997 die viel diskutierten
Trashpiloten).
Die Texte, aus denen sein neues Buch mein jahrtausend besteht, wurden allerdings erstmals im Internet veröffentlicht. Vom 13.05.1999 bis 01.05.2000 begleitete Link den Übergang ins neue Millennium mit Glossen in Wort und Bild. Unter vielem anderen zitiert er mit Gedichten bedrucktes Klopapier, verwechselt Michael Schumacher vorsätzlich und böswillig mit Jan Ullrich, interviewt Freddy Quinn, analysiert auf dem Speicher gefundene alte BRAVO-Hefte seiner Mutter und Konfirmandenfotos von sich selbst, collagiert Rolf-Dieter-Brinkmann-Texte und Toilettenpapierwerbung vom Beginn des 20. Jahrhunderts und erzählt fragmentarische Geschichten aus seinem Alltagsleben - das sich ja gerade dadurch definiert, dass es immer fragmentarisch bleibt, keinen zielgerichteten Plot kennt und das einzige Leben ist, das es gibt.
Diese Assemblage von bitteren Banalitäten und Parodien aller möglichen Sprachschablonen, von Goethe über den Quelle-Prospekt bis Rainald Goetz, hält Link dem monumentalen Diskurs (vulgo: Brimborium) entgegen, mit dem auf allen medialen Kanälen das neue Jahrtausend herbeigeredet wurde - als hätte sich mit dem 01.01.2000 etwas Weltbewegendes geändert. Bekanntermaßen haben aus dieser Datumshysterie ja auch prominente Literaten Kapital geschlagen, die anlässlich der Buchveröffentlichung von Links gesammelten Internet-Texten und -Bildern nochmal zur Rechenschaft gezogen (vulgo: abgewatscht) werden: Das ganze Projekt lässt sich im Rückblick als Parodie auf Rainald Goetz' Internet-Tagebuch KRANK verstehen, das sich ja nur aus dem bereits vorhandenen Bekanntheitsgrad seines Autors 'rechtfertigen' konnte (während man bei Link für seine Online-Gebühren offenbar ganz gut unterhalten wurde). Und der Titel mein jahrtausend ist selbstverständlich eine schulterzuckende Replik auf Günter Grass' Anspruch, [S]ein Jahrhundert vermöge einen substanziellen Beitrag zur Geschichtsdeutung zu leisten.
Nun ist es ziemlich leicht (wenn auch nicht unbedingt falsch), einen so etablierten Autor wie Grass allein schon seiner Etabliert wegen zu kritisieren. Bei Link darf man hinter einer solchen Geste allerdings ein tiefsitzendes Misstrauen gegen Erzählungen vermuten, die psychologisch 'schlüssige' Figuren durch eine 'nachvollziehbare' Handlung hindurch zu einer wenn auch nur ästhetisch begründeten 'Lösung' führen. Die "Hungerleider" und "Sandflohhändler", die Link in seinen früheren Büchern zu Wort kommen lässt, erleben keine Handlung, sondern einen stream of (un)consciousness, der manchmal eher ein Bierstrom ist, sie werden von allem möglichen (Sexgier, Geldmangel, Sprachfetzen, Familienalltag, dummen Mitmenschen und schlechter Politik) so sehr affiziert, dass sie sich nie schlüssig werden können; in ihrer Sprache überlagern sich so viele Bedeutungs- und Assoziationsebenen, dass es sofort in labyrinthische Verwicklungen führen würde, wenn man alle 'nachvollziehen' wollte - was für uns Nicht-Dichterfürsten durchaus der Alltagswirklichkeit entspricht, in der es bedeutungsvolle 'Lösungen' ja seltener gibt, als man sich das vielleicht wünschen mag.
Im Gegensatz zu anderen vielgehypten Online-Literaturprojekten setzt sich Heiner Links album, roman nicht dem Vorwurf aus, nur aus Trendgründen für das Medium Internet zu schreiben. Denn der - im Vergleich zu einem Roman ganz bewusst fragmentarische - Charakter von Heiner Links Internet-Prosa setzt die Ästhetik seiner früheren Arbeiten durchaus konsequent fort. In der parallel zum album ebenfalls auf www.heinerlink.de und nun hier in Buchform erschienenen öffentlichen Korrespondenz mit seinen Autorenkollegen Helmut Krausser, Norbert Niemann und Georg M. Oswald formuliert Link sein Credo in Abgrenzung von deren eher 'erzählpositivistischen' Ansätzen, indem er Oswalds Meinung referiert, "daß der surfiktionale Diskurs von links nach rechts, von vorne nach hinten usw. etwa in gerader Linie hin auf einen Plot gezeichnet verläuft. Dabei", so Link, "ist doch evident, daß er Konturen der Sprache und des Materiales folgt, sich gewissermaßen an den Kurven der Sprache projiziert. Alles Material ist frei verfügbar, insofern entwickelt sich zwangsweise eine unvorhergesehene Gestalt des Textes."
Die Banalität des Prolligen, so der Titel der gesammelten Korrespondenz, die man auch als gemeinsames Tagebuch der Zeit vom 28.06.1999 bis 06.05.2000 bezeichnen könnte, löst diesen Anspruch vielleicht sogar in noch höherem Maße ein als das album, insofern hier mehrere Menschen ihren jeweiligen Alltag einbringen: "Wir haben [ …] zu [mehreren] geschrieben. Da jeder von uns mehrere war, machte das schon eine Menge aus. Dabei haben wir alles benutzt, was uns einfiel, das Nächstliegende und das Fernste" (Deleuze/Guattari), als da wären: das Sortiment des HL-Marktes in München-Sendling im Vergleich zu dem des SPAR in München-Pasing, die Spritzweite des Seifenspenders auf Oswalds Gästeklo im Vergleich zur "größten medizinisch bestätigten Reichweite einer Ejakulation", Links Lieblingsgedichte und -getränke, die Silvesternacht und der Neujahrsmorgen, das Münchener Nachtleben und der Schwarzwald, Norbert Niemanns Selbstanzeige bei der CIA und der Stand der Germanistik auf den Cocos-Inseln und vieles mehr.
Fazit: Neben vielen amüsanten, anregenden, gut gehopften und zwei anrührenden Splittern (nicht 'Gedankensplitter' - igitt! -, sondern Splitter im Auge der Leserin, von denen Adorno fand, sie seien die besten Vergrößerungsgläser) findet man in diesem Buch auch eine tröstliche Gewissheit: Schon 1999, als viele noch den Versprechungen des "globalen Dorfes" (Marsall McLuhan) im Internet hinterherrannten, gab es offenbar Leute, die darauf hinwiesen, dass ein solches Dorf ohne "globales Dorfwirtshaus" (Felix Wenzel) keinen Wert nicht hat. Mit diesem Buch hat sich Heiner Link dort endgültig "ein messingschild mit [s]einem namen am stammtisch" (Wenzel) verdient.