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November 2001
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Christof Hamann:
Seegfrörne. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2001

184 Seiten, Sondereinband
DM 32,00
EUR 16,36

Christof Hamann:
Seegfrörne. Roman.

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Eine Blasenentzündung.
Christof Hamanns „Seegfrörne“


Höfe, Hauptfigur des Romans „Seegfrörne“ von Christof Hamann, soll eine Chronik der „Seegemeinde“ schreiben, von ihren Anfängen, bis ins Jahr 1963, dem Jahr der letzten Seegefrörne, was heißen soll: dem Jahr, als der Bodensee, an dem die Seegemeinde liegt, zum letzten Mal vollständig zufror. Höfe, 52 Jahre alt, kommt aus dem Norden für ein Jahr an „die Riviera Deutschlands“, bezieht ein Zimmer bei Frau Müller und ein Büro im Rathaus, macht sich schnell mit den Bewohnern des Ortes bekannt und stößt im Archiv der Gemeinde zuerst auf Zeitungsberichte über den Tod eines jungen Mannes, Robert Teiler sein Name, während der Seegfrörne 1963. Er soll im Eis eingebrochen und ertrunken sein. Sein Leichnam wurde niemals gefunden. Hier liegt gleich das erste Problem des Romans: Man weiß nicht, warum sich Höfe für diesen Teiler interessiert und warum sein Interesse den ganzen Roman über nur auf ihn gerichtet ist. Leider weiß man als Leser auch nicht, warum man sich für Höfe interessieren sollte. Man erfährt nichts über ihn, außer Sachen wie: „Die Zweisamkeit mit einem nicht allzu großen Hund stellt sich Höfe als etwas Wünschenswertes vor.“ Vielleicht geht es dem Roman also um die Seegemeinde im allgemeinen, denkt man sich, wenn schon nicht um den einzelnen Bewohner. In der Seegemeinde wird noch ein „urtümlicher alemannischer Dialekt“ gesprochen. Eine Kostprobe: „Im Eschpasinger Eck do wont de Mehle Neck, der streckt de Arsch zum Fenster raus, mo mont es wär'n Weck, s'isch kon Weck, s'isch kon Weck, s'isch de Arsch vom Mehle Beck.“ Bei solchen Liedchen wundert man sich auch nicht mehr über allgemeinere Charakteristiken wie die folgende: „Das ist die Seegemeinde. Der Gestank von ranzigem Fett und Hundescheiße.“ Es ist außerdem der Ort einer muffigen Deutschtümelei, gestern wie heute. Es ist der Ort, wo man Selbstmord begeht. Auf die Frage Höfes, warum sich Teiler umgebracht haben könnte (als dieser Umstand noch nicht sicher ist), erhält er die Antwort: „Was weiß ich? Aus Lebensüberdruß. Aus Langeweile. Wegen der Kälte. Wegen der Seegemeinde.“

Auch die Seegemeinde ist ein Ort, über den man eigentlich nichts erfahren möchte. Und erschreckenderweise scheint Höfe fabelhaft in diesen Ort zu passen: „Das ist meine Geschwindigkeit sagt sich Höfe, während sein Urin nach unten tröpfelt.“ Die Geschwindigkeit des Ortes ist auch die des Romans: In kurzen, abgehackten Sätzen schreitet er voran, mit der Schwerfälligkeit einer Blasenentzündung, bei der man immer wieder zur Toilette rennt, mit dem Wasserlassen aber nicht so recht zurande kommt. Warum bin ich für die paar Tropfen überhaupt aufgestanden? fragt man sich, warum lese ich überhaupt dieses Buch? in dem alles leblos ist, in dem alles still steht, wie der See während der Seegfrörne.