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Oktober 2005
Helge Meyer
für satt.org


Die Flagge von Mexiko
Copyright
aller Fotos:
Helge Meyer

Vierte
internationale
Performance-Begegnung
in Yucatan, Mexiko

Vom 30. August bis zum 5. September diesen Jahres luden Elvira Santamaria als Kuratorin und Antonio Prieto, Leiter des Bereichs der szenischen Künste in Merida, fünf internationale und fünf lokale Künstler aus Yucatan ein, um am vierten Internationalen Performancefestival in der Region Merida teilzunehmen. Treffend gewählter Titel des Festivals war „Handeln und Existieren“ (Doing and Existing). Wie sich noch herausstellen sollte, konnte es eigentlich keinen besseren Titel für die gezeigten Arbeiten geben. In der Woche des Festivals geschahen eine Vielzahl von Kooperationen, intensivem Austausch und die Atmosphäre war dank der Gastgeber von großer Aufmerksamkeit und Interesse an der Arbeit und den Inhalten des Gegenübers geprägt.






Hector, student from Bartolome Ferrando
Hector, student
from Bartolome Ferrando



Euan, Chachon, Canul
Euan, Chachon, Canul


Robin Poitras Honey work
Robin Poitras:
Honey work



Robin Poitras


Robin Poitras
Robin Poitras:
Dance with the wind



Robin Poitras
Robin Poitras:
Osa Major



Cecilia Delgado
Cecilia Delgado


Monica Meyer
Monica Meyer


Helge Meyer: Hand to hand
Helge Meyer:
Hand to hand



Helge Meyer: Taschlich


Helge Meyer: Taschlich
Helge Meyer:
Taschlich



Brian Patterson


Brian Patterson
Brian Patterson


Omar Euan and Monica Cac
Omar Euan and Monica Cachon


Elvira Santamaria


Elvira Santamaria
Elvira Santamaria

Zentrum der ersten Tage des Festivals war das lokale Kulturhaus in Merida, der historischen Hauptstadt der Region Yucatan. Hier gab Professor Bartolome Ferrando aus Valenzia einen dreitägigen Workshop. Bevor die ausländischen Gäste anreisten hatte Ferrando bereits mit Studenten der Szenischen Künste und der Bildenden Kunst gearbeitet. Er fand eine interessante Struktur zwischen der Beschäftigung mit philosophischen und ethnologischen Grundfragen zu Körperlichkeit, der Quelle von Ideenmaterial oder Zeitlichkeit und einem stärker praktisch angelegten Bereich, in welchem die Teilnehmer stärker ihren Körper und die Qualität ihrer Sinne einzusetzen hatten. Ich hatte das Glück bei einem Teil des Workshops hospitieren zu können, in welchem Ferrando die Teilnehmer aufforderte, 30sekündige Kurzperformances mit mitgebrachten Plastiktüten zu improvisieren. Was auf den ersten Blick überaus simpel und durchschaubar wirkte, erwies sich bei näherer Betrachtung als eine gelungene Auseinandersetzung mit Grundelementen der Performance. Durch die extrem kurze Aktionszeit gerieten die Studenten unter Druck, sich auf das Wesentliche eines Bildes in einer festen Zeitspanne zu konzentrieren. Sie mussten in höchster Konzentration mit einer engagierten Präsenz zu einer Bildlösung gelangen, bevor Ferrando per Trillerpfeife den nächsten Teilnehmer in das Publikumsinteresse beorderte. Die Herangehensweisen waren in dieser Übung so unterschiedlich wie die Charaktere der Studenten: Einigen gelangen witzige, bedrohliche oder symbolische Bilder, andere beschäftigten sich eher mit einer kurzen theatralischen Erzählstruktur in ihrer Handlung.

Nach diesen eher spielerischen Übungen gab es Theorieblöcke, in denen Ferrando Zitate von Persönlichkeiten wie Nietzsche, Hegel oder Artaud mit den Studenten analysierte und somit ein großes Gedankengeflecht über zentrale Fragen der Performance Art enthüllte, welches sicherlich von den Studenten noch in Eigenarbeit durchforstet werden muss. Durch seine Herkunft aus der „poésie sonore“ setzte Ferrando außerdem besonders stark auf die Stimme als Element in der Performance und ließ die Studenten in einer Art babylonischen Sprachverwirrung mit Lauten, Stimmfetzen und Fantasiesprachen experimentieren, um ein Gefühl für die Wandlungsfähigkeit und vielfältige Einsatzmöglichkeit der menschlichen Stimme abseits einer rein intellektuellen Verwendung von Sprache zu vermitteln.

Als Höhepunkt wurden die Studenten als Teilnehmer in das Festival eingebunden, sodass sie in dem internationalen Rahmen erste Schritte in die Praxis der Performance tätigen konnten. Teilweise geschah dies mit beachtenswerten Ergebnissen. Da ein Großteil des Festivals vor einem Zufallspublikum in der kleinen Ortschaft Dzidzantun und den Badestränden Progreso und Chelem stattfand, mussten sich die Teilnehmer gleich einer Kategorie mit höchstem Schwierigkeitsgrad stellen: einem anwesenden Publikum, dass weder geübt ist im Blick auf die Kunstform Performance, noch gezielt anwesend ist, um hier und jetzt Kunst zu beobachten.

In Dzidzantun präsentierte zum Beispiel Rosa Ma Vareta Alfaro, eine Teilnehmerin des Workshops, eine äußerst couragierte Arbeit voller feministischer Kraft. Auf dem lokalen Dorfplatz verkörperte sie durch das Wechseln von Kleidung verschiedene Frauenklischees der mexikanischen Gesellschaft. Von der traditionellen, nationalbewussten Hausfrau bis hin zum Vamp in knappen Dessous durchlief sie verschiedene Stadien sozialer Einschreibung. Kernsatz in ihrer Performance war „Männer und Frauen sind gleich!". Während sie ihren nahezu nackten Körper mit Plastikklebeband in Zonen unterteilte, wiederholte sie diesen simplen Satz wieder und wieder. Anschließend bewegte sie sich zu Paaren im Publikum und verband diese mit eben jenem Plastikband, welches ihren Körper markierte. Alfaro bot diese mutige Arbeit mit überzeugender Selbstverständlichkeit, was eingedenk der immer noch klassischen Rollenverteilung in der mexikanischen Gesellschaft nicht ohne Konfliktpotential zu verstehen ist. Sie bewies mit dieser Arbeit die Umsetzung einer zwar leicht programmatischen, in Ausführung und Idee allerdings präzisen und überzeugenden Performance.

Im Progreso am vierten September war die Situation allerdings weitaus komplizierter für die Studenten. Sie mussten ihre Arbeiten am Strand zeigen, wo Familien ihren Sonntagsurlaub verbrachten und die Erwartungshaltung an Kunst kaum vorhanden war. Es war eine sich unmerklich entwickelnde Unterbrechung des Alltäglichen, als Sandra Lara sich auszog und ihren Körper anschließend mit Zeitungsausschnitten der Sensationsblätter und mit Wäscheklammern modifizierte. Das Zufallspublikum bildete immer engere Kreise um die junge Künstlerin und zeigte durchaus Empathie, als die Performerin sich die Klammern an immer schmerzhaftere Körperstellen heftete. Anschließend rief sie immer wieder den Satz: „Das Leben ist immer gefährlich!“ und stieg in den Ozean. Auch hier muss vielleicht eine gewisse Programmatik in der Umsetzung der Idee angemerkt werden. Doch betrachtet man diese Arbeiten als erste Schritte in die Performance Art, so wurde deutlich, dass ein Großteil der gezeigten Aktionen von Präzision und Überzeugung geprägt waren, was keine Selbstverständlichkeit, selbst im internationalen Vergleich, ist. Zur selben Zeit arbeiteten viele andere Studenten parallel: Einer junger Mann namens Hector (im eleganten Businessanzug bereits ein Störfaktor am Strand) kreierte eine brutale Metapher für „das Tier im Menschen", wie er hinterher kommentierte. In einem Aquarium, welches er in den Armen hielt, schwamm ein kleiner tropischer Fisch. Hector zeigte dieses Lebewesen den Anwesenden und es gelang ihm bereits hier eine Spannung bei den Anwesenden zu erzeugen. Dann setzte er einen größeren Fisch zu dem kleineren Artgenossen. Diesen Vorgang wiederholte er solange mit größeren Fischen, bis ein Tier das Aquarium fast ganz ausfüllte. Plötzlich nahm der Performer diesen Fisch aus seiner Umgebung und steckte ihn sich in den Mund, sodass nur noch der zuckende Schwanz aus seinem Mund ragte. Sofort entbrannten erzürnte Diskussionen bei Betrachtern, die den Künstler nach dem Grund für die offensichtliche Tötung des Tieres fragten. Hector hingegen spannte einen schwarzen Schirm auf und schritt in chaplinesker Weise den Strand entlang, während der Fisch langsam in seinem Mund verendete. Diese Arbeit wurde selbst unter den Kuratoren und übrigen Teilnehmern diskutiert. Ihre Kraft war jedoch für alle spürbar und die Überzeugung, mit welcher der junge Künstler die Aktion entgegen aller ethischen Konventionen durchführte, verlangt zumindest eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten dieser Arbeit.

Eines der poetischsten Bilder gelang Edgar Canul, Omar Euan und Monica Cachon. Die drei jungen Künstler saßen einfach verhüllt am Strand unter großen schwarzen Tüchern und bewegten langsam Sand zwischen ihren Händen oder ließen den Sand auf ihre verborgenen Köpfe rieseln. Die Assoziationen der Betrachter reichten von einer Gruppe von muslimischen Frauen bis hin zu Felsen, die an den Strand gespült schienen. Das Geschlecht und die Persönlichkeit der Künstler wurden mit den Tüchern unwichtig gemacht. Sie wurden ganz Bild. Der Kontrast zum fast weißen Sand machte ein Gespür für bildtheoretische Fragen bei den Performern deutlich. Plötzlich steckte einer der drei seinen Kopf tief in den Sand und verblieb für unerträglich lange Zeit in dieser Vogel Strauß Situation, bevor er und ein zweiter Künstler ebenfalls verhüllt ins Wasser gingen, wobei das schwarze Tuch um die Personen herumglitt wie ein Ölteppich oder schwarzer Tang. Ein starkes Bild, welches mir noch lange im Gedächtnis sein wird.

Mehr als zehn Workshopteilnehmer zeigten ihre Arbeiten während des gesamten Festivals und ich denke, dass dieses Konzept wichtig ist für die Belebung der Performance Art im internationalen Kontext. Insbesondere wenn gelungene Bilder und Ideen aus diesem, unter kuratorischen Gesichtspunkten, risikoreichen Veranstaltungskonzept hervorgebracht werden.

Die internationalen Gäste zeigten ihre Arbeiten an unterschiedlichen Orten des Festivals. Robin Poitras aus Kanada war dreimal während der Begegnung zu sehen. In ihrer Performance „Arbeit mit Honig", wie auch in ihren anderen Arbeiten, war ihre Herkunft aus dem Tanzbereich nicht zu übersehen. Eine äußerst präzise Körperbeherrschung und eine geradezu artistische Fähigkeit machten ihre Arbeiten zu einem Gewinn für die Veranstalter. In der Honigarbeit hatte Poitras einen riesigen Eimer mit Honig geordert. Unter Zuhilfenahme einer Leiter brachte die Künstlerin ein großes X an eine Wand im Kulturhaus von Merida. Dann presste sie ihren nackten Hintern an das Honig-X. Anschließend positionierte sie sich kniend vor dem Honigeimer und senkte ihren Kopf in ihn. Ein See aus Honig breitete sich um die Füße der Künstlerin. Ihr langes Haar und ihr Oberkörper waren mit Honig überzogen, dessen starker Geruch den ganzen Raum erfüllte. In einer Art „Krückentanz“ begab sich Poitras dann auf zwei leiterhafte Stelzen und umrundete den Raum in einem perfekten Kreis, wobei die Füße der Stelzen wegen des klebenden Honigs schmatzende Geräusche fabrizierten. Die Ruhe dieser Arbeit, zusammen mit dem starken Geruch des Honigs und dem starken visuellen Eindruck des honigbedeckten Kopfes der Künstlerin berührten viele Betrachter. Poitras konnte nach dieser Arbeit geradezu auf einen Fanclub vertrauen, der sie häufig nach ihrer Arbeit befragte. In ihrer zweiten Performance „Tanz des Windes“ wurden die Bezüge zum klassischen Tanz noch deutlicher. Am Strand von Chelem bewegte sich die Kanadierin in einem riesigen lilafarbenen Kleid am Strand und hatte stählerne Stäbe in der Hand, die durch ihre Tanzbewegungen Markierungen im Sand hinterließen. In einer Podiumsdiskussion zu Beginn des Festivals hatte Robin Poitras deutlich gemacht, dass der Wind einer ihrer maßgeblichen Kooperationspartner in ihren Arbeiten ist, besonders in der menschenleeren Region von Regina in Kanada, wo die Performerin ihre Wurzeln hat. „Tanz des Windes“ konnte die Körperbeherrschung des Tanzes und die Qualität von Performance auf eine Art und Weise verbinden, die für Poitras auch als Organisatorin von genreübergreifenden Events in Kanada wichtig sind. Ihre letzte Arbeit am letzten Tag des Festivals war „Ursa Major", mit einem deutlichen Bezug auf das Sternenbild des Großen Bären. In mühevoller Präzisionsarbeit hatten Techniker einen Aluminiumstern an ein Gitter im Kulturhaus gebracht, den Poitras als Basis für eine extrem anspruchsvolle Körperarbeit nutzte. In einer sehr langsamen, sehr ruhigen Arbeit begab sich die Tänzerin auf diesen Stern und arbeitete dort in etwa drei Metern Höhe mit ihrem Körper. Die Idee für die Performance war inspiriert von einer Skulptur des Künstlers John Noestheden, der verschiedene dieser Aluminiumsterne in einer Installation anordnete, als würde man das Sternenbild des Großen Bären aus der Prärie betrachten. Poitras fand das Thema, mitsamt seiner mythologischen Basis und den wissenschaftlichen Bezügen zur Astronomie, spannend und schuf eine Choreographie zu diesem Thema. In einer abgewandelten Form zeigte sie diese Arbeit in Merida.

Der Reichtum der unterschiedlichen Zugänge zu Performance in diesem Festival, ermöglichte zudem zwei Arbeiten von Bartolome Ferrando. In einer Kollaboration mit dem Publikum verdeutlichte er seinen grundsätzlichen Ansatz von Performance Art. „5 Happenings in 16 parts“ hatte bereits im Titel einen deutlichen Bezug zur klassischen Happeningstruktur von Allan Kaprow. Diese Referenz wurde von Ferrando allerdings weitergeführt. In seiner Performance war das Publikum der eigentliche Aktionist. Der Spanier gab kurze präzise Anweisungen, die Handlungen im Publikum auslösen sollten. Beispielsweise mussten die Betrachter an verschiedenen Körperteilen ihrer Mitbetrachter riechen, sich gegenseitig anhusten oder sogar einen Streit mit jemand anderem beginnen, in welchem sich beschimpft wurde. Ferrando hatte mit der Arbeit zum Ziel, dass sich die Teilnehmer stärker an das erinnern, was sie selbst getan haben, anstatt an die Handlungen des Performers. Es wurden von den Anwesenden auf ziemlich direkte Weise Grenzen der sozialen Interaktion durchbrochen, was der Qualität des Dirigenten Ferrando zu verdanken ist. Die Performance endete in einem geradezu befreienden Tumult und hinterließ viel begeisterte Betrachter, die eventuell sogar ein gewisses Maß an kathartischer Reinigung durchgemacht hatten.

Der Charakter der Kooperation prägte auch die Arbeit von Cecilia Delgado, die sich, bekleidet mit einem weißen Kleid, auf offener Straße von Passanten fesseln ließ, sodass sie sich nur noch hüpfend fortbewegen konnte. Anschließend wurden ihr sogar Augen und Mund verschlossen, sodass sie in völliger Deprivation einen vorher festgelegten Weg vom Theater in Merida bis zur Kathedrale zurücklegte. Interessant war, dass ihr in dieser völligen Hilflosigkeit über Straßen geholfen wurde und das die Masse des Publikums die ihr folgte, jederzeit ein verantwortungsvolles Auge auf ihren Weg hatte. Dieser Charakter des Festivals ist mit Sicherheit den Menschen vor Ort geschuldet, die trotz Verstörung immer höflich blieben und sich erkundigten, was wir dort taten, jedoch nie aggressiv wurden. Monica Mayer aus Mexico City arbeitete genau mit diesem Potential. In einer Hommage an Esther Ferrer aus Spanien, trug die Künstlerin ein Schild, auf welchem zu lesen war: „Wenn sie Zweifel haben, fragen sie mich!". Viele Passanten nutzten dieses Angebot. Am Ende ihrer Hommage zählte Mayer zusammen mit einer großen Gruppe von Passanten, darunter viele Kinder, jeden ihrer Schritte laut bis zum Kulturhaus, wo die nächsten Aktionen stattfanden. Bei dieser simplen, jedoch extrem warmherzigen Aktion war festzustellen, dass Performance tatsächlich ein Transformationspotential hat, dass ernst genommen werden sollte: Es war möglich, mit einer Zahl von überraschten Passanten für einen speziellen Zeitraum, an einem speziellen Ort eine Gemeinschaft zu erschaffen, die ein gemeinsames Ziel verfolgt. So simpel die Aktion Mayers erscheinen mag, so stark war jedoch der Wunsch der Zuschauer zu spüren, Teil dieser Performance zu sein.

Ich selbst habe ebenso zwei Arbeiten im Festival gezeigt, auf die ich hier nur kurz erwähnend eingehen möchte: Zum einen zeigte ich eine Fortführung meiner Serie „Hand to Hand", bei welcher ich das Publikum einlade, Stück für Stück ein Kleidungsstück mit mir zu tauschen, bis die gesamte Kleidung, die ich in das Festival brachte, ersetzt worden ist. Die Serie existiert seit 2002 und hatte bereits Station in Manila, Quebec City, Boston und Providence. Zu jedem Kleidungsstück erzählt der Geber die Geschichte der persönlichen Beziehung zu diesem Gegenstand, die ich wiederum zum nächsten Festival transportiere, um das Kleidungsstück mitsamt Geschichte seinem nächsten Besitzer anzubieten. Bei dieser Arbeit verschwindet die Persönlichkeit des Performers fast völlig hinter der Funktion eines Mediums für die Geschichten der Anwesenden.

In meiner zweiten gezeigten Arbeit mit dem Titel „Taschlich“ (ein Bezug auf ein jüdisches Vergebungsgebet), habe ich 13 Personen aufgefordert, eine persönliche Verfehlung auf einen Stein zu schreiben. Diese „beladenen“ Steine habe ich anschließend in einer Art Stellvertreterposition über eine längere Wegstrecke ins Meer getragen, um die Schuld der Teilnehmer im Wasser zu versenken.

Religiöse Metaphern spielten auch in der Arbeit des Nordiren Brian Patterson eine Rolle. In „Sublimation 2“ gelang dem Künstler zuerst ein äußerst spannender Moment, in welchem er eine freistehende Leiter in den Händen hielt und mehrere Versuche startete, diese zu erklimmen. Sobald beide Füße auf die Leiter gesetzt waren, stürzte der Künstler mit ihr zu Boden. Dies war ein perfekter Moment, um eine Grundsätzlichkeit in der Performance Art in dieser Aktion zu sehen: Gerade die Momente der Kippung, des Schocks und der Brechung, sind die Augenblicke, die uns als Betrachter ins Geschehen ziehen können und uns eine Aufmerksamkeit abverlangen, die andere Medien selten erfordern. Erst wenn unsere Wahrnehmung gestört oder irritiert ist, beginnt ein echter Auseinandersetzungsprozess mit dem Gesehenen. In dem weiteren Verlauf der Arbeit schuf Patterson mit farbigem Klebeband eine Auseinandersetzung mit den Nationalfarben der mexikanischen und der irischen Flagge, indem er Stühle damit umwickelte und diese später wie Flaggen an Wänden des Kulturhauses positionierte. Seine ruhige und gelassene Art und die Bilder, die er mit seinem Körper, teilweise für lange Zeit, einnahm, machten diese Arbeit zu einer sehr eindrücklichen, bei welcher immer wieder in subtilen Bereichen die komplizierte Situation der „troubles“ in Nordirland und insbesondere in Pattersons Heimat Belfast durchzuscheinen schien. Auf jeden Fall war dies eine der politischsten Arbeiten des Festivals.

Eine überaus starke Arbeit lieferte das Duo Omar Euan und Monica Cachon, die als einzige auch das Medium Video einsetzten. In einer geschickten Doppelung von Realitäten wurde das Bild eines jungen Mannes mit venezianischer Karnevalsmaske auf das Dach eines Pavillons projiziert. Offensichtlich befand sich der Mann an unterschiedlichen Orten in Venedig. Dieses Bild wechselte sich ab mit dem Bild einer jungen Frau, die sich in einer Privatwohnung aufzuhalten schien. Plötzlich bewegten sich die beiden bekannten Personen aus den Videos von einem entfernten Ort des Platzes auf den Pavillon zu, sodass die Brechung Realität/Video oder Vergangenheit/Gegenwart in die Wahrnehmung des Betrachters rückte. Vor einem gespannten Laken, welches als eine Art Spiegel diente, begannen beide Personen anschließend, ihren Körper mit Plastikfolie einzuwickeln und sich durch den „Spiegel“ hindurch zusammenzunähen. Mich erinnerte der Reichtum an Verweisen und die konzentrierte Arbeit der beiden Personen an die frühen Arbeiten von Marina Abramovic und Ulay. Auch hier wurde deutlich, dass ein Liebespaar über Anwesenheit und Abwesenheit arbeitete, wobei beide jedoch gleichberechtigt mit ihren Körpern arbeiteten. In Bildgestaltung und Anlage der Arbeit sicher eine der reifsten und reichsten Performances des Festivals, obwohl sie von zwei der jüngsten Teilnehmer gezeigt wurde.

Als Abschluss möchte ich noch die sehr poetische Arbeit von Elvira Santamaria nennen, die mit „Progreso negro 2“ eine wunderbare „site specific"-Performance zeigte. In einer extrem ruhigen und klaren Handlung füllte Santamaria über einen langen Zeitraum den Wind am Strand von Progreso in große schwarze Müllsäcke. Nachdem sie eine große Masse an Säcken zusammen hatte, begab sie sich selbst zwischen diese schwarzen „Trauben", sodass sie fast völlig in ihnen verschwand und wanderte dann langsam über den Strand zurück bis zum lokalen Kulturzentrum. Santamaria verschwand in ihrer Arbeit und vielleicht ist dies ein passendes Statement über Performance Art. Das Bild war klar und poetisch, doch sie als Person spielte nicht oder stellte nichts dar. Sie war nicht mehr im Fokus des Bildes. Vielmehr hatte sie die „lebende Skulptur“ erschaffen und sie existierte nun ohne von der Performerin Elvira Santamaria zu erzählen.