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5. Januar 2013 |
Jörg Auberg
für satt.org |
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Rohstoff DummheitDas intellektuelle Autorenduo Markus Metz und Georg Seeßlen arbeitet an einem kritischen »Work in Progress«, in dem sie diverse Ausprägungen der »Fabrikation der Stupidität« in der gegenwärtigen Gesellschaft analysieren, wobei sie neben vielen guten Einsichten auch manche Plattitüden offerieren. »Daraufhin entwickelten sie eine beklagenswerte Fähigkeit: nämlich die Dummheit wahrnehmen und sie einfach nicht mehr ertragen zu können.« Seine letzten Lebensjahre verbrachte Gustave Flaubert mit der Arbeit an einem umfangreichen Materialienbuch zur menschlichen Dummheit. »Ich verschlinge Druckseiten und mache mir Notizen für ein Buch, in dem ich meine Galle auf meine Zeitgenossen auszuspeien versuchen werde«, schrieb er im Dezember 1872 an einen Freund. »Diese Kotzerei wird mich wohl mehrere Jahre in Anspruch nehmen.« Tatsächlich blieb dieses Kompendium, an dem er bis zu seinem Tode obsessiv arbeitete, ein Torso – »allerdings kein kopf- und gliederloser Torso«, wie der Flaubert-Übersetzer Hans-Horst Henschen schrieb, sondern »ein Korpus, das vor Materialfülle überbordet«. Ein gewisses Maß an Obsession lässt sich auch dem intellektuellen Autorenduo Markus Metz und Georg Seeßlen nicht absprechen, das seit einigen Jahren an einem kritischen work in progress schreibt, das einen eloquenten, enragierten Einspruch gegen die aus Medien, Politik, Ökonomie und Wissenschaft bestehende »Verblödungsindustrie« darstellt und in seiner wuchtigen Vehemenz einen Kontrapunkt zum grassierenden Konformismus setzt, der heute unter der Flagge der »Alternativlosigkeit« seine Prisen zu akkumulieren sucht. Zum beständig anwachsenden Kompendium des Projekts gehören mittlerweile die Bände Blödmaschinen, Kapitalismus als Spektakel, Wir Untote! und Bürger erhebt euch!, die binnen kurzer Zeit in den letzten beiden Jahren in verschiedenen Verlagen publiziert wurden und in durchaus unterschiedlicher Qualität die sozial produzierte und ubiquitär auftretende Stupidität in der gegenwärtigen Gesellschaft als »Medium der Unterdrückung« zu analysieren versuchen.
I»Ich empfinde Haß auf die Dummheit meiner Epoche, ganze Fluten von Haß, die mich ersticken. Scheiße steigt mir hoch wie bei einem eingeklemmten Bruch, bis in den Mund.« »Der weitläufigste Rohstoff des Kapitalismus ist die menschliche Dummheit«, formulieren der Politikwissenschaftler Metz und der popkulturelle Kritiker Seeßlen in ihrem »Basistext« Blödmaschinen eine ihrer Kernthesen. »Das weitläufigste Produkt der menschlichen Dummheit ist der Kapitalismus.« Dummheit ist ihrer Ansicht kein Auswuchs einer naturwüchsigen Kraft, sondern das gesamtgesellschaftliche Produkt eines umgreifenden, mehrschichtigen Systems, das gerade durch die Interdependenzen der einzelnen, scheinbar autonom agierenden Sektionen in Gestalt medialer, ökonomischer, politischer und sozialer Industrien eine Totalität der Stupidität immer aufs Neue erzeugen und den Blick auf die »wahren« Verhältnisse verstellen können. »Blödmaschinen« wie BILD, das Fernsehen oder lediglich noch auf die Bedürfnisse und Anforderungen der kapitalistischen Ökonomie ausgerichtete politische, wissenschaftliche und kulturelle Maschinen überziehen die Gesellschaft mit einer schwarzen, undurchdringlichen Kruste des Immergleichen, wobei sich seit Jahrzehnten an den herrschaftlichen Geschäftsbedingungen und der permanenten Reproduktion des »Verblendungszusammenhangs« nichts Wesentliches geändert hat: Bereits in den 1970er Jahren konzedierte der geschäftsführende Direktor des Modells Deutschland, Helmut Schmidt, freimütig, dass niemand in der Bundesrepublik gegen das Sprachrohr des Springer-Konzerns, die BILD-Zeitung, regieren könne, und kodifizierte damit die Ohnmächtigkeit der politischen Ausführungsorgane im ökonomischen Herrschaftsbereich. Metz und Seeßlen beschreiben ein durch organisatorische Schutzmechanismen abgeschottetes Koordinatensystem, das sich an den Fixpunkten Neoliberalismus, Postdemokratie und Medienkapitalismus orientiert, wobei es ihnen zwar gelingt, immer wieder zentrale Mechanismen der Herrschaft konkurrierender Rackets in einem staatlich umgrenzten Territorium zu beschreiben und die zunehmende Marginalisierung und Bedeutungslosigkeit einer kritischen Opposition im »postdemokratischen« Apparat nachzuzeichnen, doch leidet die Kritik unter ihrem mäandernden Charakter und dem zuweilen alarmistischen Tonfall. Mal reden die Autoren von »semiotischer Bulimie«, mal vom »semiotischen Bürgerkrieg«, in dem sich die aktuelle Gesellschaft befinde; an anderer Stelle erklären sie die Gegenwart zur »Epoche des Scheiterns«, als sei die Menschheit in früheren Zeiten von Erfolg zu Erfolg geeilt. Zudem lässt das Buch eine argumentative Stringenz vermissen: Theoretische Ansätze von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Hans Magnus Enzensberger und Marshall McLuhan werden miteinander vermengt; Begriffe wie »Unterhaltungsindustrie«, »Kulturindustrie« und »Bewusstseinsindustrie« – obgleich sie unterschiedliche Konzepte der gesellschaftlichen Wirkung medialer Praxis repräsentieren – verwenden die Autoren synonym; dazu gesellen sich Spuren aus Guy Debords »Gesellschaft des Spektakels« und Michail Bachtins Theorie der Karnevalisierung als Strategie der subversiven Praxis. In der Kartografierung des von »Blödmaschinen« (in Gestalt von Medien, Moden und Waren) besetzten Terrains bewegen sich die Autoren notgedrungen auf einem weiten Feld, das sie nicht im gleichen Maße intensiv »kultivieren« können, doch haben sie den Anspruch, in der Totalität, in welcher der »korrupte Geist des Neoliberalismus« die herrschenden Verhältnisse prägt, auch gegen diese Herrschaft vorzugehen, wenngleich ihre Analyse klarsichtiger als die Gegenmittel erscheint, die sie ins Feld zu führen versuchen. Für Metz und Seeßlen, der bereits Ende der 1970er Jahre eine mehrbändige Enzyklopädie zu den Grundlagen des populären Films publizierte und heute zu den renommiertesten Kulturpublizisten im deutschsprachigen Raum gehört, birgt die Popkultur zugleich das Verblödende und das Rettende in sich (etwa in Gestalt der »Simpsons«, die in den Augen der Autoren trotz ihrer Einbindung in das kulturindustrielle System subversiv gegen die Herrschaft agieren). Dabei bleiben sie jedoch den Medien des vergangenen Jahrhunderts verhaftet, während sie die Digitalisierung der geistigen Arbeit eher oberflächlich als Begleiterscheinung der »Maschinisierung des Denkens« behandeln und in der scheinbaren Demokratisierung des Wissens durch ein Unternehmen wie die »Wikipedia« eine Entwertung der geistigen Arbeit zu einem »Wissen zweiten Grades« sehen. In der Weigerung, sich mit den Realitäten der digitalen Produktion massenkultureller Inhalten (die auch gravierende strukturelle Veränderungen für traditionelle Medien wie Presse und Rundfunk beinhalten) auseinanderzusetzen, verschanzt sich die Kritik in den Gräben der Vorzeit. »Die Herrschaft der Blödmaschinen besteht darin, die Welt undenkbar und damit unveränderbar zu machen«, resümieren die Autoren. »Die Welt wieder denkbar und veränderbar zu machen – das wäre doch was.« Um dies leisten zu können, dürfte die Kritik der »Blödmaschinen« allerdings nicht im letzten Jahrhundert verharren, sondern müsste die Transformationen, die sich auf alle Lebensbereiche in den letzten drei Jahrzehnten auswirkten, in Betracht ziehen. Darüber hinaus verliert sich die durchaus angemessene Kritik der herrschenden Verhältnisse zuweilen in weitschweifiger Geschwätzigkeit und exzessiven Parenthesen. Anstatt Gedanken auf den Punkt zu bringen, kreisen sie in verschiedenen Variationen um den gleichen Kern, ohne neue Zellen der Erkenntnis aufschließen zu können. »Es gehört zur schriftstellerischen Technik, selbst auf fruchtbare Gedanken verzichten zu können, wenn die Konstruktion es verlangt«, merkte Adorno an. »Deren Fülle und Kraft kommen gerade unterdrückte Gedanken zugute.« Metz und Seeßlen dagegen möchten noch geräuschvoll den letzten Bissen essen, um das Publikum an ihrem Genuss teilhaben zu lassen. Unter den mürrischen Blicken des Würgeengels fallen schließlich Sätze wie »Das Nullmedium ist ein Fluchtpunkt vor den Contents, und die Contents sind ein Fluchtpunkt vor der Nullhaftigkeit des Mediums.« Der Sinn erschließt sich kaum und verliert sich im Raunen scheinbaren Bescheidwissens, das sich letztlich als Dummheit erweist. Der Geist spielt seine »wohlorientierte Überlegenheit« aus (wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt) und vermag der Barbarei nichts entgegenzusetzen.
II»Immer in Schwingung und empfänglich, wie er war, verglich er sich mit einem Geschundenen, den die geringste Berührung vor Schmerz zusammenfahren läßt, und tatsächlich hat die menschliche Dummheit ihn während seines ganzen Lebens so verletzt, wie ein ganz persönliches Unglück einen verletzt.« Der schmale Band Kapitalismus als Spektakel, erschienen in der Reihe »edition suhrkamp digital«, stellt ein Addendum zum Komplex der Blödmaschinen dar und beschreibt prägnant an vier Fallbeispielen der jüngeren Vergangenheit das Phänomen des »Econotainments«, das sich für Metz und Seeßlen als »Verwandlung der großen ökonomischen Erzählungen ins Format der Reality Shows, der Soap Operas, der Quizshows, Sportübertragungen und Wettervorhersagen« darstellt, wobei sich die Grenzen zwischen Produktion, Distribution, Werbung und Konsumtion verwischten. An den Beispielen des »Guerilla-Marketings« für das Modegetränk »Red Bull« beschreiben die Autoren den Siegeszug einer Ware, die sich innerhalb eines »Medien- und Entertain-Kapitalismus« mit der Vermarktung über das Design und die Produktion einer Marke im kapitalistischen Verwertungsprozess im traditionellen Sinn durchsetzt. Das gesellschaftlich-kulturelle Terrain okkupiert Red Bull mit seinen Insignien der Herrschaft und nivelliert die Grenzen zwischen den Sphären der Arbeit, Freizeit und Kontrolle, indem es die Territorien in ein schwarzes Kontinuum der Repetition sperren, ohne dass sich auch nur einmal der Gedanke der Revolte gegen dieses temporale Eingesperrtsein regt. Die hoch dotierten, rot gekleideten Artisten des Konzerns drehen in den Arenen des globalen Medien- und Event-Zirkus permanent ihre Runden und ziehen ihr Publikum dank ihrer geistlosen, egomanischen, auf technische Effizienz programmierten Aktivität in einen tumben Bann. Die Mechanismen der Antiaufklärung offenbarten sich auch in der Verklärung des Apple-Managers Steve Jobs zum Heiligen des Spätkapitalismus durch willfährige Angestellte in den Redaktionen von Presse und Rundfunk, wobei Metz und Seeßlen nicht allein die autoritäre Disposition der Schreiberlinge der BILD-Zeitung anprangern, sondern auch die Kollaboration scheinbar kritischer Medien wie der Süddeutschen Zeitung in der Mythologisierung kapitalistischer Herrschaft. Getreu den Mechanismen der Massenkultur, wie sie Leo Löwenthal in der biografischen Mode und im Triumph der Massenidole beschrieb, wurde Steve Jobs – der nicht nur für das Marketing der Apple-Produkte verantwortlich war, sondern auch für die barbarischen Produktionsbedingungen bei Foxconn und anderen Apple-Zulieferbetrieben – mit dem »Hymnus des Individuellen« (wie Löwenthal es beschrieb) umgeben und zu einem modernen Heroen und Massenidol stilisiert, während die gesellschaftlichen Realitäten geflissentlich kaschiert wurden. Ein zentrales Motiv, das sich durch das gesamte Projekt der beiden Autoren zieht, ist die Kritik der herrschenden Medienpraxis und der Ruf nach Formen einer kritischen Öffentlichkeit. »Guter kritischer und demokratischer Journalismus ist einfach nicht mehr profitabel«, lamentieren Metz und Seeßlen in der Kritik der Blödmaschinen, als wäre das kritische Metier in früheren Zeiten ein einträgliches und gewinnbringendes Geschäft gewesen. Augenfällig zieht sich durch das work in progress der beiden Autoren ein nostalgisches Faible für frühere Formen einer kritischen Öffentlichkeit wie Kino oder Kaffeehaus, bevor der mediale Maschinenpark die Territorien in Besitz nahm und in Zombie-Landschaften verwandelte.
III»Die Unerträglichkeit der menschlichen Dummheit ist bei mir zur Krankheit geworden, und dieses Wort ist noch schwach. Fast alle Sterblichen haben die Gabe, mich im höchsten Grade aufzubringen, und ich atme nur in der Wüste frei.« Der Zombie ist für Metz und Seeßlen die ideale Metapher für den radikal enteigneten Menschen, der in der »Zone des Untodes« in verschiedenen Erscheinungen – als Monster, Mutation, mediales Phantom, Mensch 2.0 oder Postmensch – auftaucht. Bereits im Konvolut der Blödmaschinen lugt er immer wieder als Verkörperung des höllischen Anderen hervor, bis er schließlich in dem Spin-off Wir Untote! zur Hauptfigur wird. Formal ist dieser Band die avancierteste und gelungenste Ausprägung des Projekts, da er im Gegensatz zu den anderen Büchern der kulturellen und sozialen Konstruktion der Totalität innerhalb der »Fabrikation der Stupidität« keinen geschlossenen Textraum entgegenzusetzen versucht, sondern eine Form assoziativer Fragmente wählt, um sich den Realitäten des »Untoten« zu nähern. »Das Gift des Untodes wird schleichend in die Gesellschaft injiziert ...«, konstatieren die Autoren und durchleuchten die unterschiedlichen – prekären und prosperierenden – Räume des Kapitalismus in den Prozessen der Fragmentierung, Enteignung und Desozialisierung, welche die menschliche Existenz sowohl in der Psyche als auch in der urbanen Architektur bestimmen und zersetzen. Die Typologie der »Zombies« reicht von Polit-Unternehmern wie Silvio Berlusconi – der ähnlich wie Lemuel Pitkin in Nathanael Wests Roman A Cool Million (dt. Eine glatte Million, 1934) für den Aufstieg und die Verteidigung der einmal erreichten Positionen in den politischen Festungen des Establishments Sehfähigkeit, Zähne und Haarschopf dem kapitalistischen Verwertungsinteresse opfert – bis zu beliebig austauschbaren und ausstaffierbaren »Stars« der Kulturindustrie, die mit Hilfe von Botox, plastischer Chirurgie, Tätowierungen und Piercings, Verstümmelungen und Erweiterungen den Anforderungen des Betriebes sich unterwerfen, ehe sie gänzlich in den »Orten des Untodes« verschwinden. Die untote Materie greift in der »PopZombieKultur« schließlich auf alle gesellschaftlichen Regungen über, entzieht nicht allein dem demokratischen System die lebendige Kraft, sondern wirkt auch auf Grammatik und Semiotik der Gegenwart ein, sodass letztlich an diesen »untoten« Verhältnissen auch ein politischer Aktivismus scheitern muss, der sich früher einmal mit dem Spruch »Wir sind da, wo das Leben tobt« seiner selbst vergewisserte, nun aber an der Morbidität des falschen Ganzen zugrunde geht und (in der Terminologie von Metz und Seeßlen) ins sprachlose Posthumane transferiert wird: »Untote können über den Untod nicht sprechen«, lautet das Resümee der Autoren. Die Untoten sind aber immer die anderen, und so sprechen auch Metz und Seeßlen trotz der Erkenntnis »Wo man nicht richtig leben kann, da kann man auch nicht richtig sterben« munter weiter. Während sie in der aktuellen Hölle des Nicht-Sterben-Könnens, in der alles zwischen den Requisiten ohne Hoffnung auf Erlösung umherkriecht, durchaus originelle Einsichten und Gedanken formulieren, erstarren sie doch auf halbem Weg im monotonen Repetitorium. Während sie sich in ihrer durchaus gerechtfertigten Medienkritik an Organen wie der herrschaftseigenen FAZ abarbeiten, die als Sprachrohr des Neoliberalismus und der Postdemokratie in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit fungiert, ziehen sie den FAZ-Angestellten und Zombie-Intellektuellen Dietmar Dath, der innerhalb des Betriebes der Kulturindustrie mit seiner nekrologischen Geisterbeschwörung einer seit 1921 (den Tagen der blutigen Niederschlagung des Aufstandes von Kronstadt) historisch desavouierten Herrschaftsideologie namens Leninismus seinen zynischen Geschäftsbetrieb profitträchtig befeuert, als einen Zeugen ihrer Anklage heran. Ohnehin fehlt Metz und Seeßlen auch in diesem Buch die kritische Disziplin: Am Ende verliert sich die Kritik in der Inventarisierung der Zombie-Figuren in der Popkultur, während die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen im reflektorischen Bodensatz des umgreifenden Systems in der »Fabrikation der Stupidität« verschwinden.
IV»Das Blutbad auf den Boulevards fand die volle Billigung von Chavignolles. Keine Gnade für die Besiegten, kein Mitleid mit den Opfern! Wenn man revoltiere, sei man eben ein Schurke.« Die politische Argumentation von Metz und Seeßlen, die sie in ihrem Buch Bürger erhebt euch! formulieren, gehört fraglos zu den Schwachpunkten ihres Projekts. Vielfach reden sie in unreflektierten, generalisierten Kollektivbegriffen von »den Politikern« oder »den Medien«, ohne die realen Verhältnisse einer dezidierten Analyse zu unterziehen. Zudem nutzen sie politische Modebegriffe wie »Neoliberalismus« oder »Postdemokratie« für ihre holzschnittartige Argumentation, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse tatsächlich durchdringen zu können. Herzstück des Buches ist die Verteidigung der »Revolte« der Stuttgarter »Wutbürger« gegen das Großprojekt »Stuttgart 21« des Konzerns der Deutschen Bahn und einer technokratischen Politik, das für Metz und Seeßlen Sinnbild eines entfremdeten, von Korruption und Egoismus gekennzeichneten Herrschaftssystems darstellt, während die bürgerlichen Akteure in der Perspektive der beiden Autoren zum Inbegriff des freien, verantwortungsvollen und selbstbewussten Individuums überhöht werden. Stuttgart erscheint – wie schon Joseph Conrad in Under Western Eyes (1911) imaginierte – als revolutionäres Zentrum, als realer Ort der Utopie, an dem die wahre Idee der Demokratie sich manifestiert und »die Citoyens« gegen die Arroganz der Macht revoltieren. In den Augen der Autoren ist dieser »Aufstand der Bürger« keineswegs von Partikularinteressen einer gut situierten, privilegierten Mittelklasse geleitet, sondern enthält – über eine unspezifische Unzufriedenheit mit den realen Verhältnissen in der Gesellschaft hinaus – einen universalen Anspruch, mittels zivilgesellschaftlicher politischer Formen das Bewusstsein zu schärfen und in den historischen Prozess zurückzukehren. »Das Ziel der Empörung ist im Allgemeinen die Wiederherstellung oder die Herstellung einer gerechten Ordnung«, unterstellen die Autoren den »Wutbürgern«, wobei die bürgerliche Empörung gegen ein industriell-politisches Großprojekt als eine Tugend per se geschildert wird, ohne zu bedenken, dass die bürgerliche Empörung auch vom Ressentiment lebt und sich rasch gegen andere missliebige »Projekte« wie Asylbewerberheime oder Strafanstalten in der unmittelbaren Nachbarschaft richten kann. »Strukturdefekte im Herrschaftsmechanismus« (wie es Johannes Agnoli und Peter Brückner in ihrer Schrift Die Transformation der Demokratie aus dem Jahre 1967 nannten) lösen allenfalls temporäre »Unruhen« und Unzufriedenheit mit den herrschenden Eliten aus, ohne dass tatsächlich daraus politisches Handeln erwächst. »Wenn sich ein Wutbürger heute empört«, behaupten Metz und Seeßlen, »meint er nicht nur die Verletzung seiner eigenen Interessen, sondern auch einen Verstoß gegen die Grundwerte der demokratischen Gesellschaft Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität.« Dieser bloßen Behauptung fügen sie jedoch keine Belege bei. Ohnehin ist ihre politische Analyse recht dünn, kapriziert sich auf eine diffuse bürgerliche Empörung und banalisiert den Akt der Revolte. Gleichfalls wird das Konzept einer kritischen Gegenöffentlichkeit verwässert, indem es auf eine »Alternative zu den Mainstream-Medien« heruntergebrochen wird. Tatsächlich aber wollte das Unterfangen der Gegenöffentlichkeit nicht allein den Raum für »unterdrückte« Nachrichten und Meinungen schaffen, sondern auch eine gänzlich andere Medienpraxis jenseits kapitalistischer und herrschaftlicher Verwertungsinteressen realisieren, wobei dieser Anspruch bis heute nicht eingelöst ist und wahrscheinlich der »Epoche des Scheiterns« zuzurechnen ist. Über die inhaltlichen Schwächen hinaus ist das Buch Bürger erhebt euch! auch der handwerklich schlampigste Band des Projekts, was sich nicht allein an der Häufung von Druckfehlern zeigt. Zweit- und drittrangige, geradezu obskure Autoren wie Armin Schäfer, Ulrike Winkelmann oder Peter Ulrich werden in extenso zitiert, ohne dass die Quellen angegeben werden. Schließlich verliert sich die Empörung des Autorenduos im immergleichen »Blubberquax«, den Metz und Seeßlen »den Medien« oder »den Politikern« vorwerfen. Das Raunen wird zum Prinzip eines um sich selbst drehenden, schwindelerregenden Diskurses. Schließlich taucht der Intellektuelle wie ein neoleninistischer Agent der Veränderung, als Wiedergänger der Geschichte auf: »Die bürgerliche Erhebung muss sich die Intellektuellen wieder erschaffen ...«, postulieren Metz und Seeßlen am Ende und schließen mit dieser Selbstrechtfertigung der eigenen Existenz im Betrieb vorerst ab. Wie Bouvard und Pécuchet kehren sie nach dem Scheitern – in Ermangelung einer wirklichen Alternative – zum Kopieren zurück. »Sie machen sich an die Arbeit.« Il faut continuer.
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