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6. März 2011
Jörg Auberg
für satt.org
  Ulrich Peltzer: Angefangen wird mittendrin
Ulrich Peltzer: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2011. 173 Seiten. 17,95 Euro.
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PELTZER LÄSST DENKEN

Ulrich Peltzer versucht eine zeitgenössische Poetik aus der Mitte zu entwickeln, wobei er an der eigenen großspurigen Prätentiösität scheitert.

Im Sommersemester des geschichtsträchtigen Jahres 1989 hielt Jurek Becker drei Vorlesungen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, denen er den ambivalenten Titel »Warnung vor dem Schriftsteller« gab. Es waren Reflexionen über die abnehmende Wichtigkeit und zunehmende Beliebigkeit der Literatur in einem Rahmenwerk von Medien- und Unterhaltungsindustrie, in dem der Schriftsteller zugleich als Täter und Opfer agierte. »Den Büchern fehlt zunehmend die Dimension Auflehnung«, diagnostizierte Becker. »Kein nennenswerter Widerspruch, nichts von Aufruhr – Ruhe. Keine Maßlosigkeiten, keine Übertreibungen, dabei hat schon jedes Kind erfahren, daß nichts das Denken so in Bewegung bringt wie Übertreibung. Die Bücher starren vor Meinungslosigkeit.« In den Ausstellungs- und Verkaufsräumen der einschlägigen Buchhandelsketten wird das entsprechende Environment der Belanglosigkeit geschaffen, und der Schriftsteller – wenn sein Name nicht schon zur verkaufsfördernden Marke geronnen ist – wird zur Marginalie im Betrieb.

Im Gegensatz zu seinem selbstironischen und selbstkritischen Vorgänger inszenierte sich Ulrich Peltzer in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen des Jahres 2011 als klassischer, der gesellschaftlichen Korruption entrückter Intellektueller, der mit dem »Gestus des gnadenlosen Durchschauers« und im Duktus der »penetranten Besserwisserei« (wie Lothar Baier einmal diesen Typus charakterisierte) die Welt entzaubert, dem Publikum seine Belesenheit demonstriert, großzügigerweise Einblicke in eine vorgeblich zeitgenössische Poetik gewährt, »die den globalen Veränderungen der letzten dreißig Jahre Rechnung trägt«, und sich beim Produktionsprozess über die Schulter schauen lässt. Die akademischen Veranstalter priesen ihn als Repräsentant einer engagierten Literatur, »die präzise und feinsinnige sozialkritische Beobachtungen mit einer klugen, szenischschweifenden [sic] Textregie verbindet und dabei auch stilistisch zu überzeugen vermag«.

Realiter ist Peltzer Vertreter einer postmodernen, kühl kalkulierenden Literatur, die scheinbar kritisch daher kommt, doch letztlich die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in einer gefälligen Form darstellt, in der sich Politik und Engagement (mit Michael Schneider gesprochen) lediglich aus dem »Krähwinkel« akademischer Abstraktionen vermittelt. Symptomatisch ist die Popularität von Peltzers letztem Roman »Teil der Lösung« bei Feuilletonisten von der FAZ über Zeit, Freitag und taz bis hin zur Jungle World, die ob Peltzers Beschreibung des Berliner Kulturprekariats und seiner Verbindung zwischen »altlinkem« Terrorismus der Überlebenden der Roten Brigaden und neuen Widerstandsagenturen aus dem Attac-Umfeld in Lobeshymnen überschlugen, die Klischees angeblich marginalisierter Mitläufer des akademischen und medialen Betriebs und arrivierter Ex-Revolutionäre als geniales Roman-Design ans Publikum verhökerten und aus freien Stücken für den Autor als Marketing-Agenten agierten. »Es gibt sie doch«, titelte die Zeit, »die Überraschung des Herbstes: Ulrich Peltzers grandiosen politischen Liebesroman«, während der Rezensent der Jungle World jubilierte: »Ulrich Peltzer hat einen großartigen Roman über das linksradikale Milieu in Berlin-Kreuzberg geschrieben.« Rasende Mitläufer huldigen einem rasenden Mitläufer: Der plakative Nonkonformismus ist ein Attribut in der Selbstvermarktung der im Betrieb Steckengebliebenen, die sich nie entscheiden konnten, ob sie »konkret« das Ticket »Widerstand« oder »Mitmachen« ziehen wollten. Der Mut zur Konsequenz fehlte ihnen. So kaprizierten sie sich auf die »Wahrheit«, die der Romancier Peltzer ihnen anbot: Weder Teil des Problems noch Teil der Lösung zu sein.

Peltzer verstümmelte die schlussendliche Logik von Holger Meins, den er in seiner Entpolitisierung ausschlachtet. Im Raf-Info schrieb Meins über die »Waffe Mensch« 1973: »entweder du bist ein Teil des Problems oder du bist ein Teil der Lösung. DAZWISCHEN GIBT ES NICHTS.« Später radikalisierte sich für Meins die Frage: »entweder mensch oder schwein/entweder überleben um jeden preis oder/kampf bis zum tod/entweder problem oder lösung/dazwischen gibt es nichts«. Die Popularität Peltzers bei den Feuilletonisten liegt in der Folgelosigkeit des Handelns. Zwar sind alle in das schlechte Ganze verstrickt, doch fühlen sie sich immer noch als Widerständler, die zwar mitmachen, aber gefühlsmäßig ihre Korruption noch nicht nachvollzogen haben.

Peltzer ist ihr adäquates Sprachrohr. Scheinbar gelingt ihm die Vermittlung zwischen Anpassung und Renitenz. Vor dem Publikum inszeniert er sich als widerständiger Re-Interpret der klassischen Moderne, in der James Joyce, Daniel Defoe und Mark Twain für ein Projekt einer kritischen Postmoderne refaktoriert werden können, wobei sich Peltzer letztlich als Reformulator einer politischen Poetik in der Tradition eines William Gaddis oder Don DeLillo positionieren möchte, die sich zunehmend im blanken popkulturellen name dropping verliert, wobei Peltzer genau dem »heuchlerische[n] Schwindel der fassadären Welt« unterliegt, den er zu kritisieren vorgibt. Am Ende verschluckt sich das vorgebliche kritische Denken im jargonhaften Verlautbaren akademischer Weisheiten: »Eine Deterritorialisierungs- oder Fluchtlinie gegen die Kräfte des Zentrums, das Zentripetale von Codes und harschen Grenzziehungen, die die freie Zirkulation des Wunsches zu verhindern suchen, um ihn Erwägungen von Nützlichkeit und Tauschwertsteigerung zu unterwerfen.« Peltzer möchte die Dinge von der Mitte her sehen, aus dem Zentrum der Wahrnehmung, verliert sich aber tatsächlich im Versuch der Annäherung. Überall weiß der Autor aus dem Reich der Mitte die Antworten auf die Fragen des Lebens, da er sich im einschlägigen Jargon auskennt. »Der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt«, resümierte Theodor W. Adorno, »nicht einmal recht es zu denken: das nimmt der Jargon ihm ab und entwertet den Gedanken.« Peltzer beherrscht den Jargon des akademischen Betriebes, kann über die »Ausdehnung ökonomischer Konkurrenzsituationen in jede menschliche Sphäre« und die »Verflüssigung traditioneller Lebensplanungen und Reproduktionsweisen« schwadronieren, während er sich selbst den herrschenden Gesetzen des literarischen Marktes unterordnet. Der rasende Mitläufer geriert sich als Agent der Revolte, dessen Akt des scheinbaren Aufbegehrens in der Kollaboration im Betrieb des Immergleichen sich erschöpft. Am Ende lässt Peltzer andere für sich denken.