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2. Februar 2010
Jörg Auberg
für satt.org
  Hans Kundnani: Utopia or Auschwitz. Germany's 1968 Generation and the Holocaust
Hans Kundnani:
Utopia or Auschwitz. Germany's 1968 Generation and the Holocaust

Hurst & Company, London 2009
320 Seiten, £ 16,99
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AUS DEM DUNKEL DEUTSCHLANDS

Der in England arbeitende Journalist Hans Kundnani beleuchtet in seinem Buch „Utopia or Auschwitz“ das ambivalente und widersprüchliche Verhältnis der „Achtundsechziger“ zum Nationalsozialismus und zeichnet die politische Reise vom Linksradikalismus in die Mitte der Gesellschaft nach.

In seinem grotesken Erstlingsroman The Cannibal (1949) beschrieb John Hawkes ein apokalyptisches Deutschland, in dessen Ruinen der Nazismus fortwest und der faschistische Erzähler die „Befreiung“ von den „Invasoren“ und „Okkupanten“ herbeisehnt, um schließlich seinen Hass in der Ermordung eines amerikanischen Kuriers zu entladen. Die sinistre Vergangenheit hängt wie ein Alp über den finsteren Landschaften und hüllt die Gegenwart unheilvoll ein.

Ähnlich sieht der Journalist Hans Kundnani, der für Zeitungen wie Guardian, Observer und The Times arbeitet, die deutsche 68er Generation von der deutschen Vergangenheit wie von Nacht und Nebel unschlossen. Die deutsche Neue Linke habe nicht – wie Studentenbewegungen in anderen Ländern – allein von einer besseren Welt geträumt, argumentiert er, sondern wollte „Deutschland“ vor sich selbst retten. Sie stellte sich und die übrige Gesellschaft vor eine Alles-oder-nichts-Wahl: Utopie oder Auschwitz, Errettung oder Untergang. Während das Jahr 1967 in den USA den „Sommer der Liebe“ symbolisierte, stand es in Deutschland mit Ermordung Benno Ohnesorgs für eine „dunkle, fast apokalyptische Wende“ und den Auftakt für eine Eskalation der Gewalt, die schließlich in den Terrorismus mündete.

Entgegen des dominanten Mythos, die „Achtundsechziger“ hätten die Eltern- und Tätergeneration zu einer „Aufarbeitung der Vergangenheit“ getrieben und sie mit ihrer Verstrickung in die Schuld konfrontiert, vertritt Kundnani die These, die „Achtundsechziger“ hätten realiter ein ambivalentes und widersprüchliches Verhältnis zum Nationalsozialismus hatten. Gerade in Ikonen der außerparlamentarischen Opposition wie Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof wirkte nach Kundnanis Auffassung ein virulenter Nationalismus fort, der eine radikale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unterminierte.

Dutschke vernachlässigte die Implikationen der deutschen Vergangenheit, insbesondere des Holocausts, da der Blick zurück den Blick in die Zukunft verdüstern würde. In den Augen Kundnanis war Dutschke nicht allein für ein unkritisches „Recycling“ nationalsozialistischer Termini wie „Kampf“ und „Aktion“ verantwortlich, sondern imaginierte als Mitglied der situationistischen Gruppe „Subversive Aktion“ auch eine „Machtergreifung“ in Berlin. Er sah Deutschland nicht in erster Linie als Land der Täter, sondern als koloniales Opfer des US-Imperialismus, und strebte eine Wiedervereinigung beider deutschen Staaten unter sozialistischem Vorzeichen an.

Während Dutschke die jüngere deutsche Geschichte als Alp der Vergangenheit ausblendete, fielen andere Vertreter der Neuen Linken zurück in die Wahnwelt antisemitischer Projektionen. Hatte die Studentenbewegung anfangs ein solidarisches Verhältnis zu Israel, so stellte sich die Neue Linke nach 1967 vorbehaltlos auf die Seite der palästinensischen Sache und karikierte Israel als „faschistischen“ Staat, der die Nachfolge des Nazismus angetreten hatte. Für Kundnani ist der Polit-Aktivist Dieter Kunzelmann in diesem Prozess eine zentrale Figur: Im situationistischen „Spektakel der Provokation“, das die Kommune I in der Frontstadt Berlin zelebrierte, inszenierte er seinen Antisemitismus als gesellschaftlichen Tabubruch, wobei „die Juden“ als „Feinde“ erschienen. So war der Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Westberlin 1968, argumentiert Kundnani, eine logische Konsequenz der israelfeindlichen Politik der Neuen Linken, die ihre Fortsetzung in den Aktionen der späteren terroristischen Gruppen der RAF und der Revolutionären Zellen fand. Unter dem Deckmantel von Antiimperialismus und Antifaschismus wurde das neuerliche Töten von Juden gerechtfertigt, resümiert Kundnani die brutalen Entwicklungen in den „bleiernen Jahren“ nach 1968.

Die unbewältigte Vergangenheit des Nationalsozialismus, den Kundnani als deutsches Erbe von Utopie und Irrationalismus begreift, sieht er auch in der Friedens- und Ökologiebewegung der 1980er Jahre fortwirken. Die „De-Realisierung des Dritten Reiches“ zur abstrakten, stets präsenten Gefahr einer sich zu wiederholen scheinenden Geschichte, mit der die Neue Linke ihre spektakuläre Politik nach 1967 – im Kampf gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg – betrieben hatte, setzte sich in einer Kontinuitätsthese von „Auschwitz, Dresden, Hiroschima“ als ubiquitäre Bedrohung fort. Umwabert von apokalyptischen Horrorphantasien, forderte die Friedensbewegung, ein „atomares Auschwitz“ zu verhindern, und sah in erster Linie den US-Imperialismus als Macht des Bösen.

Irrte Dieter Kunzelmann als Derwisch des Antisemitismus durch den ersten Teil des Buches, so wird im zweiten Teil der Bildungsroman Joschka Fischers in Kurzform geboten. Verdiente er sich zunächst im antiimperialistischen Geschäft der Revolutionärer Kampf GmbH (Abschnitt Frankfurter Westend) seine Meriten, so tritt er nach seiner realpolitischen Läuterung als politischer Vollstrecker des kategorischen Imperativs Adornos auf, wonach die Menschen gezwungen seien, „ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wieder wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“ In Kundnanis Erzählung erscheint der Weg Fischers vom „street-fighting man“ zum staatstragenden Politiker als schmerzhafter Reifeprozess, in dessen Verlauf die utopische Negation und der pazifistische Impetus der realpolitischen Staatsräson geopfert wurden. Das „Engagement“ in Kriegen auf dem Balkan und in Afghanistan erscheint unausweichlich, um Schlimmeres zu verhindern. Adornos Diktum wird als Rechtfertigung für eine phantasielose Politik missbraucht, welche die Zustände (wie in Jugoslawien) zunächst befördert, um sie später mit kriegerischer Gewalt zu bekämpfen. Unterschlagen wird, dass Adorno die Bedingungen, welche die Barbarei begünstigen, kritisierte. Nicht zufällig blieb Fischer ein Gewalttäter: Immer schon orientierte sich seine Politik an der Gewalt, sodass er sich in diesem Sinne seit 1968 treu blieb. Diese Kontinuität entgeht Kundnani jedoch.

Andererseits betont er die Stetigkeit des „deutschen Sonderweges“ innerhalb der Linken von den 1960er Jahren bis ins neue Jahrtausend. Eine Konstante der linken Politik in Deutschland ist in seinen Augen der Nationalismus, und so erscheint Gerhard Schröder mit seiner vordergründigen Opposition gegen den Irak-Krieg der US-Administration als später „Achtundsechziger“, der mit seiner nationalistischen und antiamerikanischen Rhetorik einen Sonderweg einschlug, um Deutschland eine besondere Rolle in der Weltpolitik zuzuweisen, während Fischer – in Kundnanis Erzählung – als umsichtiger Außenpolitiker die Westbindung Deutschlands unterstreichen wollte.

Zweifelsohne wirft Kundnani interessante Fragen auf: Woher resultiert der Drang der deutschen Linksradikalen, sich mit der palästinensischen Sache zu solidarisieren? Woher rührt die hohe Durchlässigkeit zwischen linken und rechten Positionen, die angesichts des Transits einiger linker Prominenzen wie Horst Mahler, Reinhold Oberlercher oder Bernd Rabehl ins rechte Territorium augenscheinlich ist. Sicher ist auch sein Resümee nicht von der Hand zu weisen, dass die 1968er Generation zugleich „Deutschlands Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit“ intensiviert und einen Schlussstrich darunter gezogen habe. Dennoch fehlt ihm letztlich das notwendige kritische Instrumentarium, um die verdunkelten historischen Räume auszuleuchten. Das Manko des Buches liegt vor allem darin, dass es in journalistischer Manier Geschichte auf einer Guckkastenbühne präsentiert und seine Protagonisten als historische Akteure, als verantwortliche, autonome Individuen in Szene setzt, während die Mechanismen der politischen Maschinerie und sozialen Apparate außen vor bleiben. Kundnani greift als ehemaliger Deutschland-Korrespondent des Observer auf Interviews mit ausgewählten „Akteuren“ zurück (Dieter Kunzelmann lehnte eine Mitwirkung ab) und benutzt vor allem die bereits gefilterten Darstellungen der Geschichte von einschlägigen Historikern wie Wolfgang Kraushaar, Gerd Koenen oder Stefan Aust, während er Originalquellen nicht zurate zieht. So konstruiert er eine Erzählung aus Fertigteilen, in der die historische Realität wie ein politisches Wachsfigurenkabinett wirkt und – mit einem Wort Adornos – am Schleier der Personalisierung gewoben wird, dass „auf den sozialen Kommandohöhen noch Leben sei“. Letztlich verfügt Kundnani nicht über adäquate Mittel, um die Geschichte jenseits der üblichen Konventionen darstellen zu können.