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7. Dezember 2008
Patrick Baumgärtel
für satt.org
  Michael Dellwing: Globalisierung und religiöse Rhetorik
Michael Dellwing:
Globalisierung und religiöse Rhetorik

Heilsgeschichtliche Aspekte in der Globalisierungsdebatte
Campus, 163 S., 24,90 €
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Religion wohin man blickt

Wenn alles Religion ist, habe ich keine Position: Michael Dellwings schon wieder antiquiertes Beispiel postmoderner Theorie

Es ist immer aufregend, in aktuellen Denk- und Handlungsweisen Reste vergangener Ideen zu entdecken. Besonders in Zeiten der kulturellen Ermattung wie den unseren wendet man sich vermehrt dem Spiegel der Vergangenheit zu: aus Erkenntnisinteresse (Walter Benjamin, Michel Foucault), zur Unterhaltung (Historizismus, Hollywood) oder zur moralischen Ermahnung und Buße (Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus). Selten in Reinform, oft als Hybrid.

Vor allem aus erstem Grund mag man Michael Dellwings Studie über religiöse Rhetorik in der Globalisierungsdebatte in die Hand genommen haben. Man wird vielleicht eine breite, gehaltvolle, genaue und gut recherchierte Decodierung aktueller Redeweisen prominenter Globalisierungsbefürworter und –gegner erwartet haben. Mit einer gewissen altklugen Genugtuung mag man sich dann im Sinne foucaultschen Diskursdenkens die Antiquiertheit und Irrationalität der Argumente auf beiden Seiten gleichermaßen ausgemalt und sich gefreut haben, an der teilweise sehr emotional ausgetragenen Debatte in weiser Voraussicht nicht teilgenommen zu haben, sei es damals auch bloß aus einer gewissen intellektuellen Trägheit heraus gewesen.

Nichts davon wird man finden. Stattdessen zwei lose verbundene Hälften: auf der einen Seite einen monokausalen, eindimensionalen und wenig differenziert auf „Religion“ ausgerichteten ideenhistorischen Überblick über die Ursprünge zeitgenössischer Reflexion wirtschaftlichen Agierens sowie auf der anderen Seite eine schon wieder verblasste postmoderne Theorie, mit der man sich lieber (kritisch) in anderen Büchern auseinandersetzt. Das alles ist in einem mit Anglizismen gespickten, ans Mündliche heranreichenden, spannungsarmen wissenschaftlichen Duktus geschrieben, der um seiner selbst willen nicht gelesen werden will.

Im Hauptteil beschäftigt sich Dellwing ausführlich mit den Wurzeln wirtschaftsliberalen (das Wort neoliberal ist für den Autor, der „emotionsloses“ Argumentieren bevorzugt, zu parteiisch) Denkens und seines neomarxistischen Gegenparts. Natürlich kommt hier die Idee der den Markt regulierenden „unsichtbaren Hand“ zur Sprache, die Dellwing kurz entschlossen die „göttliche Hand“ nennt. Weiterhin spricht er von den wirtschaftsliberalen Theorien eines gleichen, rationalen, nutzenmaximierenden Individuums. Sie beruhen nach der Analyse des Autors „auf einem einfachen Set von Grundannahmen: Positivismus, Individualzentrierung, allgemeine Rationalität und Nutzenmaximierung. In allen vieren handelt es sich um Vokabeln, die im Verweis auf religiöse Rhetorik gefüllt wurden.“ Im Anschluss wird jenes Individuum auf das romantische Subjekt zurückgeführt, das seine Wurzeln wiederum im Protestantismus und speziell im Calvinismus habe. Ergo: Rationalität ist calvinistisch. Sodann wird der wirtschaftsliberale Geschichtsbegriff am Beispiel von Francis Fukuyamas „The End of History and the Last Man“ in Bezug gesetzt zur christlichen chiliastischen Konzeption der Heilsgeschichte. Dass sich Fukuyama dabei zuvorderst auf Hegel stützt, kommt leider nicht zur Sprache. Weiterhin wird der Markt als Freiheit und seine Rechtfertigung als Theodizee beschrieben. Gilt für das Christentum „Leid folgt der Freiheit, die der Versuchung nachgibt“, folgt für den Markt: „Menschen leiden, weil sie nicht leisten, weil sie nicht arbeiten, weil sie ihrer Verantwortung gegenüber der Marktordnung nicht nachkommen.“

Dellwings Hauptthese ist, dass auf der anderen Seite, bei den Globalisierungskritikern und Gegnern des freien Marktes, die er Neomarxisten nennt, die gleiche „religiöse Rhetorik“ verlautbar wird. Er resümiert deren Benennung der Neoliberalen als Heiden, das Ziel der Bekämpfung des Machtzentrums und der Machtverlagerung „nach unten“ sowie gleichfalls eschatologische Rhetorik, die Ähnlichkeiten mit der protestantischen aufweise.

Der Autor verbindet altbekannte Thesen (Webers Verbindung von Kapitalismus und Protestantismus, Löwiths kritische Analyse des Marxismus) mit einigen wenigen neuen, meist wenig überzeugenden. Irgendwie ist in dieser polarisierten, monokausal erklärten und wenig differenzierten Globalisierungsdebatte alles Religion: Wird sie nicht beim Gegner denunziert, wird sie benutzt, oder beides. Michael Dellwing findet schon, bevor er sucht. Wird Globalisierung als Bruch beschrieben, erkennt er ein christliches Narrativ. Wird Globalisierung als Prozess beschrieben, erkennt er eine apokalyptische Erzählung. Beides scheint nicht recht einleuchtend. Auch bei der Zitatwahl nimmt er es nicht so genau. Wird im CDU-Regierungsprogramm im Zusammenhang mit Globalisierung von einer „Entwicklung“ gesprochen, sieht Dellwing höhere Mächte kreisen, die das Phänomen als gottgegeben betrachten. Dem würde wohl kein ernstzunehmender Globalisierungsgegner zustimmen.

Der genuine Ansatz des Autors ist es nun, diese auf beiden Seiten der Debattanten gefundene Rhetorik in eine Art pragmatische Argumentationslogik einzuspannen. Er sei nicht auf Denunziation aus, es gehe ihm nur um Offenlegung der immanenten „Erzählung“ und um „ein anderes Angebot der Rhetorik“. Nun folgt ein Abriss der pragmatischen Diskussion, die in den neunziger Jahren Richard Rorty angestoßen hatte, mit dem Schluss, dass in einer „harten Auseinandersetzung“ wie der um die ökonomischen Regulierungskonsequenzen der Globalisierung keiner Seite Recht zu geben sei, da beide einen „harten Wahrheitsbegriff“ verfolgten. Der Pragmatist, als der sich der Autor versteht, übe sich statt dessen in stoischer Ataraxie, Enthaltung, wohlwissend, dass es keine objektive Wahrheit gebe. Das vorliegende Buch „bietet eine Rechtfertigung für die Position, sich nicht in diesem Ring zu positionieren“, ein Ausstieg aus der „harten Auseinandersetzung“ der beiden Seiten. Dass dennoch Partei ergriffen wird, dass auch der Autor nicht neutral sei, wird wiederholt betont; in welcher philosophisch-politischen Sphäre dessen Standpunkt zu suchen sei, allerdings nicht verraten. Was so bleibt, ist – entgegen den Behauptungen - ein positionsloses und wenig Verständnis zeigendes Desavouieren zweier sehr undifferenziert dargestellter Ansätze, die sich tatsächlich – wie es im Regierungsprogramm der CDU steht - bemühen, sich den Herausforderungen der aktuellen Entwicklung, die da Globalisierung heißt, zu stellen.

Doch verfehlt hier nicht nur die Theorie ihr Objekt. Die Theorie selbst folgt einer durchaus eigenwilligen Interpretation. Über der ungenauen Darstellung „religiöser Rhetorik“, die fälschlicherweise die Geschichte eines Begriffes mit diesem gleichsetzt, missversteht der Autor auch die Positionierung des Pragmatisten, der durchaus zwischen zwei Überzeugungen unterscheiden und die bessere nach bestimmten existenten Kriterien bewerten kann, ohne mit seinem „schwachen“ Wahrheitsbegriff zu brechen. Auch Pragmatisten haben einen Standpunkt, sei der auch historisch und ethnozentristisch. So kann man nur hoffen, dass der Pragmatist dieses Buches auch den Wertverfall seiner Aktien im Zuge der weltweiten Finanzkrise 2008 mit der neutralen „Gelassenheit“ betrachtet, mit der er der in der Globalisierungsdebatte eigentlich diskutierten wirtschaftspolitischen Frage nach der Regulierung der Märkte begegnet. Dass es sich dabei um eine reale, keine virtuelle Frage handelt, die einer politischen Antwort bedarf, dürfte in den letzten Wochen deutlich geworden sein.