Den Vortag des 70. Jahrestages der Pogrome des 9. November 1938 haben rechtsextreme Gruppen in Aachen versucht zu einer Geschichtsumdeutung zu nutzen. Der Kölner Neonazi Axel Reitz, Mitglied der „Kameradschaft Aachener Land“, hatte bereits im Oktober eine Kundgebung mit Demonstration für ebendieses Datum angemeldet. Unter anderem sollte der „Marsch“ unter dem Motto „Gegen einseitige Vergangenheitsbewältigung! Gedenkt der deutschen Opfer!“ an der Aachener Synagoge vorbeiführen. Reitz, bekennender Hitler-Verehrer und Antisemit, wurde erst im Frühjahr diesen Jahres aus einer 22monatigen Haft entlassen, zu der er wegen Volksverhetzung verurteilt wurde. Der Aufmarsch wurde jedoch zeitnah nach der Anmeldung von Aachens Polizeichef Klaus Oelze wegen des Verdachts der Begehung von Straftaten und, bereits aufgrund des Mottos, wegen der nahe liegenden Vermutung der Volksverhetzung verboten. Reitz legte hiergegen Rechtsmittel ein und es kam zu einem in diesen Fällen leider üblichen Lauf durch die Instanzen: Das Aachener Verwaltungsgericht hob das Verbot der Polizei wieder auf, mit der Auflage, dass Reitz nicht Anmelder sein dürfe und auch nicht als Redner auftreten dürfe. Als Anmelder fungiert nun der weithin bekannte Hamburger Nazi Christian Worch. Die Polizei legte daraufhin Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht in Münster ein, welches dem Verbot der Polizei stattgab. In einem Eilverfahren wurde dann von den Neonazis vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erreicht, dass die Veranstaltung doch stattfinden dürfe. Dies war der Stand der Dinge am Vorabend der Demonstration.
Nachdem der geplante Aufmarsch bekannt wurde, riefen sowohl linke, als auch bürgerliche, sowie kirchliche Gruppierungen und Parteien zu Gegendemonstrationen auf. So sollten einige linke und antifaschistische Kundgebungen am Aachener Hauptbahnhof abgehalten werden, wohingegen die bürgerlichen Parteien und etwa der DGB sich am Aachener Markt treffen und zur Synagoge ziehen wollten.
Mit mehreren Bekannten hat satt.org-Redakteur Felix Giesa bereits früh beschlossen, sich der antifaschistischen Gruppen am Hauptbahnhof anzuschließen, da man, wenn überhaupt, nur dort den „Marsch“ bereits frühzeitig blockieren könne. Es folgt eine minutiöse Auflistung der Tagesabläufe:
7:30 Uhr: Der Wecker klingelt. Ich ignoriere ihn.
7:40 Uhr: Ich wecke Anika und gehe zum Bäcker.
8:00 Uhr: Sylvia trifft als erste zum gemeinsamen Frühstück ein. Thomas (DN) hat verschlafen und wird wohl etwas länger aus Düren brauchen. Ich setze Kaffee und Tee auf.
8:20 Uhr: Thomas (DN) trifft ein. Er muss wohl geheizt sein wie ein Wilder! Mein veganer „Honig“ trifft auf viel Gegenliebe seinerseits.
8:40 Uhr: Thomas (AC) trifft ein. Er hat seine Hilfe bei einem Umzug zugunsten der Demo abgesagt. (Ein Glück war unser Umzug im Mai!) Ich koche mehr Kaffee. Wir schmieren Brötchen für unterwegs und packen unser Zeug.
9:20 Uhr: Wir brechen auf. Anika fordert uns auf, vorsichtig zu sein. Sie selbst wird nicht mitkommen, sondern die Wurzel allen braunen Übels am wahrscheinlich sinnvollsten von uns allen heute bekämpfen: Sie gibt Nachhilfe!
9:30 Uhr: Wir sammeln Stefan ein.
9:45 Uhr: Wir sind bei Nicole und Arthur. Dort kurz im Internet neue Informationen sammeln. Anscheinend gab es gestern Abend am Autonomen Zentrum am Hbf einen Übergriff von ca. 30 Neonazis auf eine kleine Gruppe Linker.
10:00 Uhr: Wir sind am Hbf. Die Polizei hat den gesamten Vorplatz weiträumig abgesperrt. Bereits jetzt sind mehrere Hundertschaften im Einsatz und es wird klar, dass die Polizei versuchen wird, die Stadt abzuschotten.
10:10 Uhr: Wir besprechen uns mit Bekannten; anscheinend soll die Gegendemo sich auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnhofs, am Marschiertor, formieren und dort blockieren. Man vermutet, dass die Nazis über das Bahnhofsparkhaus hier lang geschleust werden sollen. „Super“-John triff ein!
10:45 Uhr: Wir „umfließen“ den Bahnhof und treffen am Antifa-Sammelpunkt ein. Hier erfahren wir, dass es an den drei weiteren Aachener Bahnhöfen ebenfalls Antifa-Blockaden gibt.
11:00 Uhr: Wir werden als einzige von einer Gruppe Beamter zu einer Ausweiskontrolle aufgefordert. Spannend hieran ist, dass wir von vermummten Leuten aus dem „Schwarzen Block“ umgeben sind.
11:05 Uhr: Der Beamte mit unseren Ausweisen fragt seine Kollegin: „Und was soll ich jetzt eigentlich damit machen?“ – Das würden wir auch gerne wissen!
11:15 Uhr: Die Kontrolle dauert an. – Wir erfahren, dass es wohl definitiv nur eine lokale Kundgebung der Neonazis am Hbf geben wird.
11:30 Uhr: Die Kavallerie trifft in Form von vier berittenen Polizisten ein! – Es scheint widersprüchliche Angaben darüber zu geben, ob die Nazis „marschieren“ dürfen oder nicht.
11:32 Uhr: Wir bekommen unsere Ausweise zurück. Die Beamten, die uns kontrolliert haben, gehören der Essener Hundertschaft an und sind sehr freundlich. Sie empfehlen, den Hbf wieder zu umrunden und in die Hackländerstraße zu gehen. Dort kommen wir her und nur dort ist die linke Demo angemeldet.
11:50 Uhr: Wir sind wieder am Hbf. Die Hackländerstraße ist eine kurze Sackgasse vor dem Bahnhofsvorplatz. Wegen der offensichtlichen Gefahr eines Polizeikessels sind wir unschlüssig, ob wir wieder ans Absperrgitter sollen.
12:00 Uhr: Aus der Anlage des Demotransporters tönt „Wind of Change“! Wir beschließen zu gehen.
12.15 Uhr: Thomas (AC) und ich gehen zurück zum Marschiertor, um unterwegs von der Burtscheider Brücke einen Einblick in den Bahnhof zu bekommen. Thomas holt sich Kaffee.
12:26 Uhr: 50 – 70 Menschen des „Schwarzen Blocks“ versuchen in die Zollamtstraße einzudringen. Dort befindet sich das Bahnhofsparkhaus.
12:30 Uhr: Der Eingang zur Zollamtstraße ist mit Bullis besser gesichert, als jemals eine Planwagenburg sicher war! Die Autonomen versuchen über die Lagerhausstraße an den Bahnhof zu gelangen. Auch hier ist dicht.
12:35 Uhr: Wir erfahren, dass die Nazis am Bahnhof eingetroffen sind! Von der Burtscheider Brücke aus können Thomas (AC) und ich das braune Gesocks gut ausmachen. Wir schätzen, dass es ca. 100 Personen sind.
12:40 Uhr: Es ist jetzt sicher, dass die Polizei die Nazis über das Parkhaus führt.
13.07 Uhr: Antifas haben „Autonome Nationalisten“ am Marschiertor gesichtet. Es kommt zu einer kurzen Verfolgung und ersten Übergriffen. Auch zeigen sich erste Anzeichen polizeilicher Gewalt, als ein Mannschaftswagen im „New York Bronx“-Style durch den „Schwarzen Block“ rast und in der Vorbeifahrt die Beifahrertür öffnet und so mehrere Menschen umschlägt. – Ansonsten herrscht allgemeine Ratlosigkeit, was geschehen soll.
13:10 Uhr: Antifa und Polizei liefern sich das altbekannte Katz-und-Maus-Spiel und laufen sich munter hinterher. Allerdings nur kurz, dann wird der „Schwarze Block“ eingekesselt. – Die Frage ist jedoch: „Wo sind die Rechten?“
13:35 Uhr: Die autonome Demo versucht den Kessel Richtung Innenstadt zu durchbrechen. Die Polizei weicht zurück und lässt die Demo gewähren. Der Kessel wird Richtung Hbf geöffnet.
13:30 Uhr: Meine Mutter teilt uns telefonisch mit, dass es im Lokalradio heißt, dass die Polizei alles im Griff habe und die Nazis nur am Hbf eine Kundgebung abhalten dürfen. – Überhaupt scheinen Demos eine Goldgrube für die Handynetzbetreiber zu sein: JEDER telefoniert: die Linken, die Polizei und wahrscheinlich auch die Nazis. – Wir machen uns zurück zum Vorplatz auf, um wenigstens lautstark gegen die Kundgebung zu brüllen!
13:50 Uhr: Bei unserer Ankunft an der Hackländerstraße kommt es gerade zu einer Ausschreitung zwischen Autonomen und der Polizei, als diese gerade versucht hat, die Sackgasse einzukesseln. Böller und Flaschen fliegen.
Seit ca. 13:40 Uhr läuft die Nazi-Kundgebung am gegenüberliegenden Rand des Bahnhofvorplatzes. Der Kundgebung wohnen ca. 70 „Kameraden“ bei. Die Nazis wurden auf dem Bahnhofsparkplatz in einem Polizeizelt separat gefilzt und teilweise wurde ihnen die Teilnahme verwährt. Es sind wohl tatsächlich um die 100 Rechte angereist.
14.00 Uhr: Wir erfahren, dass einzelne Gruppen Autonomer Nationalisten in der Umgebung unterwegs sind und AntifaschistInnen angreifen.
14:20 Uhr: Mit Sprechchören und Musik aus dem Demowagen wird versucht, die Nazikundgebung „niederzubrüllen“!
14:33 Uhr: Die Nazis ziehen ab!
14:45 Uhr: Die Veranstalter der linken Demo teilen mit, dass die letzten Nazis soeben abgefahren sind. Die Demo löst sich auf. Es ertönt „Horrorshow“ von den „Toten Hosen“. Wir sind uns einig, dass das eine sehr fragliche musikalische Entscheidung ist.
14:55 Uhr: Die Polizei beginnt mit dem Abbau der Absperrungen. Wir gehen kurz noch einmal die Umgebung ab.
15:10 Uhr: Wir gehen nach Hause.
15:25 Uhr: Schnell noch bei mir um die Ecke in das Buchantiquariat und in den Plattenladen gegenüber. Ich überlege, eine Rubens-Biographie, übersetzt aus dem Französischen von Stefan Zweig, zu kaufen. Da aber alle Bilder in Schwarz-Weiß sind, entscheide ich mich dagegen. John weigert sich, auf mich zu hören, und sich für 50 Cent einen Tom Sharpe-Roman zu kaufen. Selber Schuld! Als Thomas (DN) im Plattenladen anfängt, über buntes Vinyl zu philosophieren, gehen wir einfach ohne ihn los.
15:35 Uhr: Wir sind daheim! Ich mache erstmal Kaffee! – Anika ist froh, dass alles ruhig verlief. Wir auch.
16:00 Uhr: Wir kommen zu dem Schluss, dass heute nur die Polizei wirklich zufrieden mit sich sein kann (die Rechten konnten nicht „marschieren“ und die Linken konnten sie nicht ganz aus der Stadt halten): Es kam zu keinen Ausschreitungen, die angemeldeten Demos konnten unter den jeweiligen Auflagen durchgeführt werden, kurz, die öffentliche Ordnung wurde gewahrt. Also ein Sieg für die Demokratie? Mitnichten, ist unser Fazit. Immerhin fand die rechte Kundgebung statt und es wurde geschichtsrevisionistisches Gedankengut öffentlich in Aachen kundgetan. Allein das ist eine Katastrophe, die sich auch die bürgerlichen Parteien und Gruppierungen ankreiden lassen müssen. Diese sind, so wissen wir jetzt, mit 2.500 Teilnehmern durch Aachen marschiert – kilometerweit vom rechten Aufmarsch entfernt! Würde es in solchen Fällen der akuten antisemitischen Hetze zu einem Schulterschluss aller Parteien und Gruppierungen kommen und hätten heute 3.000 Menschen am Aachener Hbf gestanden, dann wäre der Polizei nichts anderes übrig geblieben, als die Nazis wieder in ihre Züge zu schaffen und abzukutschieren. So hat man ein wirkliches Zeichen versäumt und muss sich damit abfinden, dass zum ersten Mal seit 20 Jahren Nazis in Aachen öffentlich auftreten konnten.