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April 2007
Martin Jankowski
für satt.org

Von der Unfähigkeit sich zu freuen


Richard Schröder:
Die wichtigsten Irrtümer
über die deutsche Einheit

Herder, Freiburg 2007

Richard Schröder: Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit

256 S., Tb, EUR 16,90
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Nach BSE, Acrylamid und Vogelgrippe kamen Methusalemkomplott, Gesundheitsreform und Klimakatastrophe - die öffentliche Stimmung ist wie immer schlecht in Deutschland, schlechter jedenfalls als die tatsächliche Lage. Um unserer Vorliebe fürs Apokalyptische im Allgemeinen und fürs Selbstmisstrauen im Besonderen abzuhelfen, erschienen im letzten Jahr pünktlich zum ebenso übertrieben euphorischen Fußballsommer eine Reihe von Sachbüchern, die uns vorjubelten, wie toll Deutschland neuerdings ist. Keines dieser Bücher blieb uns ernsthaft im Gedächtnis. Fest im Gedächtnis ist uns hingegen seit langem, dass der Osten alljährlich sinnlos Milliarden von Euro verschlingt, der Ostdeutsche an sich rechtsradikal, undankbar, arbeitsscheu und larmoyant, während der Westen den Osten Deutschlands arrogant kolonisiert, bevormundet und mittels Treuhand schon vor Jahren in den endgültigen Ruin getrieben hat.

Die gute Nachricht: Nichts davon entspricht den Tatsachen. Die schlechte: Das ist eigentlich nichts Neues. Angesichts der gesamtdeutschen Stimmungslage muss man dem Berliner Theologen und Philosophen Richard Schröder dennoch dankbar sein, dass er sich dieser Themen annahm und ein erfrischendes Deutschland-Buch geschrieben hat, das niemand, der es gelesen hat, so schnell vergessen wird. Ausgehend von der Frage, warum die deutsche Einheit im öffentlichen Bewusstsein meistens unter „Pleiten, Pech und Pannen“ abgehandelt wird, diskutiert Schröder die „Irrtümer über die DDR“, „Irrtümer über die Vereinigung“ und „Irrtümer über das vereinigte Deutschland“. Mit der geduldigen Argumentationsführung eines rhetorisch Geschulten und nicht ohne Witz und Selbstironie stellt er weit verbreitete deutsche Klischees auf den Prüfstand. Und schon mit der Einleitung wird klar, wie nötig die Bestandsschau angesichts der Absurdität vieler populärer Standards zum Thema ist – und wie dringend wir einer Neubewertung der deutschen Einheit bedürfen.

War die DDR 1989 pleite oder hat die Treuhand ihr den Garaus gemacht? Waren die Ossis selbst Schuld am SED-Regime und haben westdeutsche Milliardenkredite selbiges auch noch zementiert? Ist die Einigung gar keiner Revolution, sondern allein Gorbatschow zu verdanken? Hat der Westen den Osten kolonisiert und allein davon profitiert? Oder hat der Osten den Westen nun gar mit in den wirtschaftlichen Ruin gerissen? Kam die Währungsunion zu früh und zu einem viel zu günstigen Kurs? Oder sind die Ostdeutschen vom westlichen Rechtssystem entmündigt worden? Wer glaubt, solche Fragen seien längst von der Geschichte beantwortet, dem hat Schröder etliches Interessantes zu berichten. Zur These „Die deutsche Einheit ist gescheitert“ etwa betrachtet er die Argumente einer Reihe prominenter Vertreter von rechts bis links und zeigt auf, wie je nach politischem Tagesbedarf (etwa mit geschickten Interpretationen von Zahlen) gezielt schlechte Stimmung gemacht wird, etwa beim leidigen Stammtischthema „Transferzahlungen“, bei dem die Geld- und Arbeitskräfteströme von Ost nach West bis heute meistens gänzlich unerwähnt bleiben. Schröder belegt: „Das Faß ohne Boden hat im Boden ein Rohr, da fließt einiges in den Westen zurück, und gar nicht knapp.“ Zum Thema Rechtsextremismus werden eine Reihe wenig bekannter repräsentativer Studien zitiert: Auf die Frage „Könnten Sie sich vorstellen Republikaner, DVU oder NPD zu wählen?“ z.B. antworteten jeweils 11% der Wähler in Bayern und Thüringen, 9% im Saarland und in Mecklenburg-Vorpommern und 7% in Nordrhein-Westfalen mit JA. Und laut Verfassungsschutz, so zitiert Schröder, waren 2005 gerade 25% der politischen Rechtsradikalen Ostdeutsche. „Aber nur der Osten gilt als rechtextrem …“ Ebenso akribisch belegt Schröder, wie und warum die Treuhand 1994 die Privatisierung der maroden DDR-Wirtschaft mit dem gigantischen Minus von 250 Milliarden DM abschloss (die darin verrechneten Gesamteinnahmen betrugen 68 Mrd.) und fragt, wie manche dieses Ergebnis als gigantisches „Profitieren des Westens“ erklären können. Im Abschnitt über die Sanierung der ostdeutschen Wirtschaft wird auch beschrieben, wie um auf durchschnittlich nur 18 Prozent Arbeitslosigkeit zu kommen, eine ungeheure Menge an Arbeitsplätzen völlig neu geschaffen werden musste. Mit harten Fakten und konkreten Beispielen rückt Richard Schröder, der vor 17 Jahren die SPD-Fraktion der Volkskammer leitete, später im Bundestag saß und heute als Universitätsdozent und brandenburgischer Verfassungsrichter sowie im Nationalen Ethikrat tätig ist, tatsachenscheuen neudeutschen Ideologen jeglicher Couleur zu Leibe. Vor allem aber belegt sein Buch, wie gigantisch die Leistung, wie erstaunlich die Erfolge der deutschen Wiedervereinigung tatsächlich sind, wenn man sie nicht an Idealwünschen, sondern an den überwundenen realen Problemen misst. Die Schrödersche Methode, das Glas Wasser einmal an dem zu messen, was alles schon drin ist und nicht an dem, was noch fehlt bis zum idealen Eichstrich, bringt einen neuen Ton in die Debatte und wurde selbst in offiziellen Feiertagsreden selten so umfassend und überzeugend angewandt.

„Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit“ ist ein provozierendes Sachbuch im besten Sinne: Nach klaren Fragestellungen gegliedert, mit genau formulierten Argumenten zum jeweiligen Sachverhalt und trotz der Fülle von Details übersichtlich gestaltet, zudem in einer anschaulichen, zuweilen auch gewitzten Sprache formuliert und deshalb trotz des vermeintlich trockenen Stoffs hervorragend lesbar. Ein wichtiges Buch, ein nötiges Buch – unentbehrlich in der Diskussion um unser neues Selbstverständnis. Von der deutschen Unfähigkeit zu trauern könne längst keine Rede mehr sein, diagnostiziert Schröder, unser aktuelles Problem bestehe in der Unfähigkeit sich zu freuen. Wer wissen will, was es denn da zu freuen gibt, dem sei dieses Buch dringend ans Herz gelegt.