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März 2006
Jan-Frederik Bandel
für satt.org

Klaus Sander, Jan St. Werner: Vorgemischte Welt
Suhrkamp 2005

Umschlagmotiv

232 Seiten, mit CD-Beilage, 12 €
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Klaus Sander,
Jan St. Werner:
Vorgemischte Welt

Let’s talk about Kunst

Klaus Sander und Jan St. Werner haben ein Buch über unsere „Vorgemischte Welt“ veröffentlicht: eine scharfe Polemik wider den Kulturbetrieb und seine „Strategien der Beliebigkeit“.

„Werkseitige Voreinstellung“ – so und ähnlich kompliziert klingen die Umschreibungen dessen, was im Englischen „preset“ heißt. Programme und elektronische Geräte, wie wir sie tagein tagaus bedienen, kommen mit einer Vielzahl solcher Einstellungen daher, die es uns Nutzern ermöglichen, bei minimalem Aufwand jene Effekte zu erzielen, die der Hersteller – natürlich je nach Zielgruppe – als die nachgefragtesten verbucht.

Von Presets auch metaphorisch zu sprechen, liegt nahe, zumal, wenn vom Kultur- und Wissenschaftsbetrieb die Rede ist. Schließlich operieren wir in unserem täglichen Umgang pausenlos mit gesellschafts- und milieuseitigen Voreinstellungen, die es uns ermöglichen, z.B. relativ souverän an intellektuellen, akademischen oder künstlerischen Diskursen teilzunehmen. Der Erfolg ist dabei ganz wesentlich bestimmt durch die Übernahme, Einübung und schnellstmögliche Aktualisierung der jeweiligen Sprechweisen (einschließlich ihres einvernehmlichen Ausschlusses anderer Begriffe, Fragen, Positionen), die strategisch kluge Referenz auf und Reverenz an die richtigen Figuren und nicht zuletzt das geschickte Platzieren der eigenen Arbeit in den je angesagten Kontexten und Netzwerken, z.B. in bestimmten Institutionen, Szenen, Debatten oder Publikationszusammenhängen.

Hat man sich diese Presets angeeignet, ist es ein Leichtes, mit geringstmöglichem Aufwand Surrogate dessen zu produzieren, was man einst wissenschaftliche oder künstlerische Revolutionen nannte – in der Hoffnung auf Distinktions- oder Pöstchengewinn. Hier von „Moden“ zu sprechen, wäre albern, sind „Mode“ und „Hype“, allseits abfällig belächelt, doch nur die Kampfbegriffe jener, die ihre Erzeugnisse zwei Wochen früher auf den Markt gebracht haben und sich darob progressiv wähnen.

Allerdings gelten diese Strategien nicht als solche, d.h. als das, was uns die längst alldominante Arbeitsmarktideologie abverlangt: Arbeit am Lebenslauf. Sondern sie wollen (mit einer gewissen Ironietoleranz beim anschließenden Kneipenbesuch) durchaus als ernsthafte und avancierte Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand anerkannt sein.

Dieser Befund ist letztlich natürlich banal. Wir sind selten wirklich berauscht genug von den Effekten unserer kulturellen Presets, um nicht wenigstens in Momenten (und sei es nach besagtem Kneipenbesuch, müde in der S-Bahn kauernd) zu ahnen, welch tristes Spiel wir veranstalten. Diese Banalität aber um der Kritik willen in Kauf zu nehmen, ist der Versuch von Klaus Sander und Jan St. Werner, die unter dem schönen programmatischen Titel Vorgemischte Welt (bezogen aus der direkten Übersetzung von „preset“) nun eine fundamentale Kritik all jener kulturalltäglichen Mechanismen und Selbstverständlichkeiten vorgelegt haben, die sie „Strategien der Beliebigkeit“ nennen. Denn beliebig ist letztlich, was wir machen, egal wie gut und aus welcher Notwendigkeit, solange wir es nur richtig zu adressieren und zu platzieren wissen.

Dem lässt sich, das ist den beiden Autoren klar, keine schönere Vergangenheit des kritisch-systematischen Denkens und keine neue Theorie oder Metatheorie der Kultur entgegensetzen. Ihre Intervention ist zunächst bloß ein Gedankenspiel, entwickelt im Gespräch unter Freunden: Was wäre, wenn man sie einmal ernst nähme, die allgegenwärtigen Begriffe wie „Kunst“, „Musik“, „Literatur“, „Kritik“ und – nicht zuletzt – „Avantgarde“? Aus dieser Fragestellung entwickeln sie die zentralen Kritikpunkte einer angenehm polemischen Sichtung des Kulturbetriebs.

Kulturelle Aufwertungsstrategien, so ließe sich der erste Schauplatz ihrer Kritik nennen. Ist wirklich der ein Verfechter stinkbürgerlicher, ja: reaktionärer Kunstideologien, der DJs, Sammler, Galeristen und Kuratoren nicht als Künstler, sondern als Dienstleister begreift? Der vom Künstler eine ästhetische und historische Reflexion seines Mediums verlangt, nicht bloß das verlässliche Bedienen des ästhetischen Status Quo? Dem nicht alles gleichwertig gilt, bloß weil es sich in einem bestimmten Kontext platziert? Der gegen die Inflation ästhetischer Zuschreibungen Einspruch erhebt? Der von jedem, der als Künstler, Schriftsteller, Musiker Akzeptanz sucht, eine „radikale Eigenständigkeit“ fordert: „eine eigene Position oder Charakteristik, etwas Unverwechselbares, Idiosynkratisches, einen eigenen Sound“?

Oder hängt dieser Kunstideologie doch der an, der sich noch beim beliebigsten Anlass mit der Aura der Kunst schmückt? Der sich allerlei kulturell Hochbesetztes herbeizitiert, also – um ein einfaches Beispiel zu nehmen – seine elektronischen Beats mit den Namen irgend angesagter Philosophen oder Schriftsteller etikettiert? Der vielleicht aus seinem Unwohlsein an der Beschränktheit, der bloßen Funktionalität oder Harmlosigkeit des bearbeiteten Gegenstands diesen nachdrücklich als Kunstwerk fantasieren muss, als schillerndes Statement, kulturgeschichtlich aufgeladen und doch revolutionär?

(Die ungemindert schöne Proklamation, dass jeder Mensch ein Künstler sei, bleibt davon unberührt. Sie zielt eben – ganz gegenläufig zu solchen Strategien der Aufwertung – auf die Auflösung dieser Aura des Ästhetischen. Sie ist auch eigentlich keine Theorie der Kunst, sondern, wenn soviel Pathos heut auch nur zu referieren erlaubt ist, eine Theorie des befreiten Lebens.)

Referenzästhetik, so lautet ein zweiter Begriff der hier formulierten Kritik. Er meint zunächst das, was Diedrich Diederichsen einmal „Referenz als Reverenz“ genannt hat, also die markierte Bezugnahme auf Personen, Theorien, ohne dass dieser Bezug Zeichen einer Beschäftigung oder gar Hinweis für ein wie auch immer geartetes Verständnis sein will. Was Diederichsen durchaus sympathisierend als Gegenentwurf zu einer gar zu virtuosen post- und popmodernen Referenzkunst kennzeichnet, gilt Sander und Werner allenfalls als deren Schwundstufe: „Referenzmist auf allen Ebenen: in der Kunst, in der Musik und eben auch im Journalismus. Ein Verweisen auf Kontexte und kulturelle Phänomene außerhalb der eigenen Sphäre, in der Absicht, diese schillernder erscheinen zu lassen.“

Gerichtet ist diese Polemik natürlich auch an und gegen die professionellen Kritiker, die Referenz mit Auseinandersetzung verwechseln, die den Kunstwunsch schon für seine Umsetzung halten und nicht einmal ahnen, was sie von ihrem Gegenstand sagen sollten, wenn sie nicht stattdessen über Kontexte, Zuschreibungen und vermeintliche Bezüge reden könnten. Entsprechend benennt die formulierte Polemik den Mangel an Kriterien dort, wo Kritik geübt werden soll, aber auch die Adressiertheit der Kritik selbst, die immer weniger vom Interesse, gar vom – wie es an einer Stelle heißt – „Ergriffensein“ durch ihren Gegenstand ausgeht, sondern von der strategischen Notwendigkeit, zu kennzeichnen, dass man dieses Buch, diesen Film, diese Platte und jene Theorie zur Kenntnis genommen hat.

Nun ist Polemik für Leser wie Autoren ein durchaus lustvolles, auf die Dauer aber ermüdendes Unterfangen. Angezielt ist ohnehin etwas andres: Es geht um die Möglichkeiten der eigenen kulturellen und künstlerischen Praxis. Nicht umsonst endet das Buch mit einem Vorsatz: „Weitermachen.“ So explizit Sander und Werner aber die Zumutung von sich weisen, hier als Kulturberatungsstelle tätig zu werden, kommt ihr Buch doch nicht ohne Wegweiser zu einer anderen Ästhetik aus, einer Ästhetik der Komplexität und maximalen Entstandardisierung.

Dass sie sich dabei – wenn auch nur kursorisch – auf Begrifflichkeiten berufen, die mehr oder minder einvernehmlich aus dem Diskurs ausgesondert worden sind oder aber einzig noch im ausgedünntesten Sinne kursieren, erstaunt nicht: Avantgarde etwa, einerseits mit allen irgend verfügbaren theoretischen und politischen Verdikten der letzten Jahrzehnte belegt, andrerseits zur gängigen Floskel leergelutscht, wird von den beiden Kritikern mit ebensoviel Emphase beschworen wie der, gern als verrutschter Geniekult belächelte, obsessive Eigensinn originärer Künstler wie z.B. des von beiden bewunderten Dieter Roth.

Die Rekonstruktion solcher Künstlertypen – so notwendig ihre Kritik immer gewesen sein mag – sollte nicht nur als spiegelbildlicher Gegenentwurf gegen die Banalität smarter Kunst- und Wissenschaftsbetriebsstrategen begriffen werden. Sie ist so etwas wie der letzte Versuch, überhaupt noch etwas zu meinen, wenn von Kunst und Künstlern die Rede ist. „Man muß doch“, erklärt Klaus Sander, „langsam wieder Mauern aufbauen, gegen die überhaupt jemand laufen kann – und die man dann vielleicht irgendwann auch wieder einreißen kann.“ Und Kriterien formulieren, die wenigstens den Gegenstand als solchen und die Ausgangsposition des Kritikers erkennbar machen.

Natürlich liefert Vorgemischte Welt keine Neudefinition eines Avantgardebegriffs, keinen Kriterienkatalog der Kritik, kein entwickeltes System der Kulturtheorie und -kritik. Und schon gar nicht wird hier ernstlich – obwohl Oswald Wiener, als strenger Lehrmeister und Gastkritiker ins Buch geladen, Vorstöße in diese Richtung unternimmt – das Manifest einer neuen, angeblichen Elite formuliert. Die Gesprächsform, in der das Buch daherkommt, ist programmatisch: Es geht um die Artikulation eines Unbehagens, um den Versuch, zumindest soweit auf einen Nenner zu kommen, dass ein sinnvolles Gespräch beginnen kann.

Die Anlage des Buches ermöglicht es uns imaginären Zuhörern darüber hinaus, diese Polemik auf ganz verschiedenen Ebenen wahrzunehmen, am einen Ende als Kritik ganz bestimmter Cliquenpraktiken im Feld der elektronischen Musik, am anderen als Frontalangriff auf die ganze vorgemischte Welt, in der wir nicht minder als Klaus Sander, Jan St. Werner und Oswald Wiener sitzen. Wie weit sich die Autoren für ihn aus dem Fenster lehnen, kann der Leser selbst entscheiden. Aber mehr Spaß macht es schon, wenn sie nicht kerzengrade dastehen.

Bisher allerdings wird ihr Debattenangebot eher auf niedrigster Stufe goutiert: von Musikkritikern, die darin ihr Bild der elektronischen Musik bestätigt oder angegriffen sehen – oder deren Probleme schlicht für erledigt erklären, seit ohnehin alle Adam Green hören. Damit jedoch wird, wie Sander zurecht kommentiert, die artikulierte Kritik nur bestätigt: Das Paradigma wird mit der Aussage verwechselt, und schon genügen ein paar Stichworte, um Stellung zu beziehen. Das allerdings sieht Sander gelassen.

Ohnehin ist „Gelassenheit“ der wichtigste Begriff, der in diesen Gesprächen fällt. Manchmal müssten wir einfach gelassen, d.h. arrogant genug sein, um das, was uns oft – wie die Autoren einander im Gespräch versichern – nachgerade körperliches Unwohlsein bereitet, nicht an uns heranzulassen. Und gelassen, d.h. offen genug, um vom Funktionalen einfach und ohne aus schlechtem Gewissen nachgeschobene Aufwertungsstrategie lustvoll Gebrauch zu machen, z.B. tanzen.