Ausgangspunkt dieses Buches ist eine erstaunliche Entdeckung: Dagmar Herzog, Professorin für Geschichte in New York, wollte ursprünglich die westdeutsche 68er Generation und die „sexuelle Revolution“ untersuchen. Die Propagierung einer freien Sexualität reagierte auf die rigide Sexualmoral im Nachkriegsdeutschland, die von den 68ern als faschistisches Erbe gedeutet und abgelehnt wurde. Insbesondere die Studentenbewegung der neuen Linken interpretierte das Dritte Reich als eine Zeit der sexuellen Repression. Diese wurde nicht nur als ein Charakteristikum der nationalsozialistischen Bewegung angesehen, sondern vielfach sogar als ihre Ursache bewertet. Sexuelle Freizügigkeit schien ein Weg, die BRD von den anhaltenden Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu befreien. Dieser Aspekt des sexuellen Aktivismus der späten 1960er und frühen 1970er Jahre war bislang weitgehend in Vergessenheit geraten. Was die 68er über die Sexualität zwischen 1933 und 1945 dachten, steht jedoch im auffälligen Gegensatz dazu, wie diese in den 1950er Jahren beurteilt wurde. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vertrat man vehement die Ansicht, die Nationalsozialisten hätten die sexuelle „Unmoral“ gefördert und diese sei sogar untrennbar mit dem barbarischen Holocaust verbunden gewesen. Eine neue Sittenstrenge und die Wiederherstellung der Institutionen Ehe und Familie gehörten demnach zu den wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben, um den Nationalsozialismus zu überwinden. Der sexuelle Konservatismus nach dem Krieg war also mitnichten eine Fortführung faschistischer Sexualpolitik, sondern auch, zumindest teilweise, als Gegenreaktion gedacht.
Aus diesem überraschenden Widerspruch entwickelte Herzog ihr Forschungsinteresse für die nun auf Deutsch vorliegende Studie zur „Politisierung der Lust“ im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Die Untersuchung behandelt die nationalsozialistische Sexualpolitik als Reaktion auf die liberale Weimarer Republik und zugleich deren partielle Fortführung, die konservativen 1950er Jahre in West-Deutschland, die sexuelle Revolution der 68er und die zeitgleiche Entwicklung in Ost-Deutschland. In einer zweiten Fragestellung geht es Herzog darum, wie in der öffentlichen Auseinandersetzung über Sexualität Erinnerung konstruiert wird, hier speziell die „Erinnerungen“ an das Dritte Reich. Diese Erinnerungen sind nicht nur real, sondern auch fiktiv, sie werden „im Nachhinein ständig gestaltet und wieder neu gestaltet, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass diese Erinnerungen – die viel mehr mit der jeweiligen Gegenwart zu tun hatten – mehr Deutungsmacht bekamen als die tatsächliche, ursprüngliche, komplexe Realtiät.“ (12) Insofern beschreibt der amerikanische Originaltitel „Sex after Fascism: Memory and Morality in Twentieth-Century Germany“ sehr viel präziser, worum es Herzog in ihrer Untersuchung geht.
Der „tatsächlichen“ Komplexität der Realität nähert sich Herzog im stärksten Teil der Studie, dem Kapitel über die Sexualität im Dritten Reich. Eindrücklich zeigt die Autorin, untermauert durch umfangreiches Quellenmaterial, die ambivalenten Direktiven der Nationalsozialisten bezüglich des Geschlechtsverkehrs der Deutschen auf. Zum einen wurde eine vor Mord nicht zurückschreckende, ganz dem „rassischen“ Zuchtgedanken dienende Fortpflanzungspolitik mit radikalen Mitteln durchgesetzt, zum anderen wurden aber innerhalb der totalitären Regeln eine gewisse Freizügigkeit gefördert, z.B. wenn BDM-Führerinnen angehalten wurden, ihre Schützlinge zu vorehelichem Geschlechtsverkehr zu ermutigen. Unehelicher „arischer“ Nachwuchs wurde wohlwollend toleriert. Leidenschaft und Geschlechtsverkehr unter „arischen“ heterosexuellen Sexualpartnern wurde gezielt sakralisiert und der christlichen Moral entgegengesetzt, während zur gleichen Zeit sexuelle Zügellosigkeit als jüdische „Unart“ angeprangert wurde. So konnte die nationalsozialistische Biopolitik für einige Menschen durchaus eine neue, lustbetonte sexuelle Freiheit bedeuten, für andere Verfolgung und Tod. Beziehungen zwischen Soldaten und skandinavischen Frauen galten als legitim, während solche mit ost-europäischen Frauen unter harte Strafen gestellt wurden. Weiblicher Orgasmus wie männliche Potenzprobleme wurden im Dritten Reich intensiv erforscht – um die Fortpflanzung der „arischen Rasse“ zu sichern.
Nach dem Krieg ist der Rückzug ins, auch in sexueller Hinsicht, wohl geordnete Privatleben, auch als eine Strategie zu deuten, die Mitverantwortung am Holocaust zu verdrängen und zu leugnen. Hier folgt Herzog der Hypothese des Soziologen Martin Dannecker, die sie mit zahlreichen Quellen dokumentiert. Teilweise kommt allerdings die Quellenkritik etwas zu kurz, u.a. wenn von Ratgeberliteratur analog auf Einstellung und Verhalten der Rezipienten geschlossen wird. In dem Teil, der sich mit den 68ern beschäftigt, kratzt die Autorin kräftig am Mythos der unschuldigen Suche nach Lust. In ihrer Argumentation wird die Instrumentalisierung der Sexualität für die politischen Zwecke der Neuen Linken klar herausgearbeitet. Die radikale Abkehr von der in ihren Augen postfaschistischen konservativen Sexualmoral der Elterngeneration diente, so Herzogs Hypothese, aber nur bedingt der kritischen Auseinandersetzung: „Wollte sich hier eine Gesellschaft im Angesicht ihrer Vergangenheit vor massiver Depression und Konfrontation mit sich selber schütze, indem sie sich in einen Zustand steter sexueller Aufforderung und Erregung versetzte?“ (222) Nach der Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität in den 1950er und 1960er Jahren, wobei im übrigen die jedenfalls für Heterosexuelle relativ liberale Sexualmoral der DDR und eine vergleichsweise egalitäre Geschlechterpolitik als erstaunlich freier und selbstbestimmter dritter Weg erscheint, wendet sich Herzog schließlich der jüngsten Vergangenheit zu. Hier teilt sie das Urteil des Soziologen Alexander Schuller, der von einer „Onanisierung der Sexualität“ spricht, die Beziehung des Einzelnen zu sich selbst rückt in den Mittelpunkt und entzieht sich damit zusehends dem Einfluss der Politik hinsichtlich einer, gerade in Deutschland, immer wieder vor dem Hintergrund einer überalternden Gesellschaft beschworenen mangelnden Fortpflanzungsbereitschaft der Deutschen.
Es ist eine große Qualität dieser verständlich und nicht ohne ironisches Augenzwinkern an den richtigen Stellen geschriebenen Arbeit, dass die besonders im Hinblick auf die 68er provokanten Hypothesen stets zur offenen Diskussion gestellt werden. Herzog verkündet aus der kritischen Distanz der in Amerika arbeitenden Historikerin keine abschließenden Wahrheiten auf einem so sensiblen Terrain: „Was bleibt, ist vielfach verzerrte Erinnerung.“ (310)