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September 2004
Janina Nentwig
für satt.org

Manfred Scheuch:
Nackt

Die Kulturgeschichte eines Tabus im 20. Jahrhundert
Brandstätter, Wien 2004

Manfred Scheuch: Nackt

176 S., € 29,90
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Der Kampf ums Feigenblatt

Manfred Scheuchs Kulturgeschichte
der Nacktheit im 20. Jahrhundert




Abb. aus dem besprochenen Band

Mit der Nacktheit ist es eine schwierige Sache, denn Nacktsein bedeutet nicht einfach, unbekleidet zu sein. Es handelt sich keineswegs um die "natürlichste Sache der Welt", sondern um ein kompliziertes Geflecht kultureller und sozialer Codierungen und Normen, die einem ständigen Wandel unterliegen und untrennbar mit Schamgefühl und Sexualität verknüpft sind.[1] Nackt, das ist in jeder Gesellschaft, in jeder Epoche und nicht zuletzt auch für jedes einzelne Individuum immer wieder etwas anderes. Das Verhältnis zur Nacktheit hat sich in Europa im Laufe des 20. Jahrhunderts so gründlich geändert wie nie zuvor. Rief um 1900 noch der beim Einsteigen in die Kutsche kurzzeitig unter den Röcken hervorblitzende, wohlbestrumpfte Knöchel einer Dame größte Aufregung hervor, so haben wir uns heute an die Allgegenwart gänzlich entblößter Körper in den Medien und in der Werbung dermaßen gewöhnt, dass unsere Aufmerksamkeit kaum mehr gefesselt wird.

Manfred Scheuch rückt der Geschichte der Nacktheit im vergangenen Jahrhundert mit mildem Humor zu Leibe. In 37 mehr oder weniger chronologisch angeordneten Fallbeispielen aus Alltag, Bade- und Freikörperkultur (FKK), Mode, Photographie, Film, Tanz, Theater und bildender Kunst zeichnet er die zunehmende Enttabuisierung nach. Diese Entwicklung verlief keineswegs gradlinig. Reich illustriert und mit zahlreichen Zitaten großer und kleiner Dichter und Denker ausgeschmückt, beschreibt der Autor die erbitterten Kämpfe ums Feigenblatt. Die Argumente strenger Sittenwächter, die den moralischen Verfall befürchten, ähneln sich durch die Jahrzehnte, genau wie die Gegenargumente für eine tolerante Einstellung gegenüber dem Nackten, egal ob es die Schicklichkeit des Schamhaars in der frühen Aktphotographie oder im Playboy diskutiert wird, ob es um den Bikini, Striptease, Performancekunst oder den gemischtgeschlechtlichen Saunagang geht. Scheuch stellt sich dabei klar auf die Seite der Tabubrecher und macht aus seiner eigenen FKK-Sozialisation kein Geheimnis. Für ihn ist der nackte Körper der natürliche, ganzheitliche, von zivilisatorischem Ballast befreite Ausdruck individueller Freiheit. So gerät die Bewertung von Nacktheit manchmal etwas zu unkritisch, z.B. wenn Scheuch in der weiblichen Nacktgymnastik der 20er Jahren allein den Aufbruch zu Emanzipation und selbstbestimmter Körpererfahrung sieht. Dass Protagonistinnen wie Beth Mensendieck oder Hedwig Hagemann ein eher esoterisches Weiblichkeitsbild pflegten und die Ertüchtigung des nackten Körpers in erster Linie dazu dienen sollte, die Aufgaben als Gebärerin und Mutter besser zu meistern, bleibt in diesem Fall unerwähnt.

Neben der Enttabuisierung des Nackten zieht sich die angebliche Entkopplung von Nacktheit und Sexualität, im wilhelminisch-viktorianisch prüden 19. Jahrhundert noch miteinander gleichgesetzt, implizit und explizit als roter Faden durch das Buch. Die zwei entscheidenden historischen Impulse sieht Scheuch in der gesellschaftlichen Liberalisierung nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere in der FKK, und in der Studentenbewegung der "68er". Dass es sich bei der entsexualisierten, sozusagen sittlich reinen Nacktheit und dem endgültigen Tabubruch weniger um die Realität als um Wunschdenken handelt, muss Scheuch am Ende doch zugeben. Er macht dafür vor allem den siegreichen Kapitalismus und alte, patriarchalische Denkstrukturen verantwortlich, dominieren doch nach wie vor nackte Frauen die Titelblätter und Litfasssäulen. Der männliche Anspruch auf den weiblichen Körper als Konsum- und Lustobjekt befinde sich jedoch glücklicherweise allenthalben auf dem Rückzug, was zweifelsohne auf die Emanzipation der Frau zurückzuführen sei. Auch die "Tyrannei der Schönheit" sei durch mediale Leitbilder bestimmt, wohingegen in der FKK eine tolerante, naturgemäße Auffassung Nacktheit anzutreffen sei, die keine Wertung der körperlich unterschiedlichen Grundausstattung vornehme.



Autorenfoto
Manfred Scheuch 1950
(Abb. aus dem besprochenen Band)


Trotz der teilweise einseitig positiv wertenden Darstellung bietet das Buch eine reiche Fülle an gründlich recherchiertem Material. Scheuch, von Haus aus Journalist, schreibt in einem sprachlich anspruchsvollen, dem Thema angemessenen Stil und gleitet nie ins Geschmacklose oder Sensationsheischende ab. Vergnüglich zu lesen ist seine Kulturgeschichte der Nacktheit damit im besten Sinne populärwissenschaftlich. Die Abwesenheit eines Fußnotenapparates und die knappe Literaturauswahl am Ende sind bedauerlich, denn Scheuch hat einige bemerkenswerte schriftliche und visuelle Quellen ausgegraben.

Am Ende seines Buches will auch der Autor nach so viel Entblößung nicht zurückstehen. Das letzte der über 200 Fotos zeigt Scheuch selbst an der Côte d’Azur, wie sollte es anders sein, im Adamskostüm. Dass er eine Aufnahme aus dem Jahr 1950 gewählt hat, auf der er gerade einmal 21 Jahre alt ist, macht noch einmal die Problematik der Nacktheit klar. Sie ist eben doch dazu verdammt, niemals nackt zu sein. Sie ist eine Form der Bekleidung und kleidet nach den gängigen Schönheitsidealen, von denen sich auch der FKK-bewegte Autor nicht freimachen kann, eben nicht jeden.



[1] Wohl aufgrund dieser Gemengelage scheuten die Geistes- und Sozialwissenschaften lange davor zurück, sich dem Nackten anzunehmen. Wissenschaftlich ernst zu nehmend ist Nacktheit zumeist im Zusammenhang mit Scham und Moralvorstellungen untersucht worden. Hans-Peter Duerr (Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 4 Bde. Frankfurt a.M. 1988; Bd. 1: Nacktheit und Scham) und Jean-Claude Bologne (Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls. Aus dem Französischen von Rainer von Savigny und Thorsten Schmidt. Weimar 2001) nehmen dabei eine Gegenposition zu Elias Zivilisationstheorie einer im Laufe der historischen Entwicklung zunehmenden Affekt- und Triebkontrolle ein. Sie weisen Scham als ein in allen Epochen vorhandenes, vielschichtiges Phänomen nach. Nacktheit wurde zu allen Zeiten in allen Kulturen sozial, religiös oder moralisch über das Schamgefühl reglementiert. Dabei sind die schamhaften Situationen und tolerierten Präsentationen von Nacktheit einem steten Wandel unterzogen. Grundlegend zur sozialen und moralischen Normierung von Nacktheit aus soziologischer Sicht ist die Untersuchung von Oliver König (Nacktheit. Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990). Zur ästhetischen Inszenierung von Nacktheit in Kunst und Gesellschaft vgl. den von Kerstin Gernig herausgegeben Sammelband "Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich." Köln 2002. Eine systematische Kulturgeschichte der Nacktheit, die nicht nur auf Einzelphänomene fokussiert, fehlt bislang. Diese Lücke gibt Scheuch mit seinem populärwissenschaftlichen Buch allerdings auch nicht vor, zu schließen.