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Mai 2004
Dominik Rigoll
für satt.org

Lutz Raphael:
Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme

Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart
C.H. Beck, München 2003

Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme

292 Seiten, br.
EUR 14,90
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Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Große Kracht (Hrsg.):
Zeitgeschichte als Streitgeschichte

Große Kontroversen seit 1945
C.H. Beck, München 2003

Zeitgeschichte als Streitgeschichte

377 S., EUR 15,90
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Lutz Raphael:
Geschichtswissenschaft im
Zeitalter der Extreme
Theorien, Methoden, Tendenzen
von 1900 bis zur Gegenwart


Martin Sabrow, Ralph Jessen,
Klaus Große Kracht (Hrsg.):
Zeitgeschichte als Streitgeschichte
Große Kontroversen seit 1945



Die beiden Bücher kommen zu spät. Für mich jedenfalls. Ich hätte mir gewünscht, sie vor ein paar Jahren in die Hand gedrückt zu bekommen: „Lies das, wird dir viel Ärger ersparen.“ Stattdessen belehrten mich Kompendien, die man „Einführungen“ nannte, über die Kunst, mittelalterliche Quellen auf ihre Korrektheit zu überprüfen, Texteditionen zu nutzen und angemessen zu zitieren („Hauptsache einheitlich“). Zankereien historischer Schulen, die Zeitbedingtheit historischer Theoriebildung und ideologisch-politische Historikerstreitigkeiten, Dinge also, mit denen ich mich als Geschichtsstudent beschäftigen musste, wenn ich weitschweifige Einleitungen und anspielungsreiche Fußnoten verstehen, Rezensionen nutzen und Feuilleton-Debatten verfolgen wollte, kamen dort nur am Rande vor. Lutz Raphaels auf 268 Seiten komprimierte Historiographiegeschichte des 20. Jahrhunderts hätte mir dabei ebenso weitergeholfen wie der dicke Sammelband über „große Kontroversen nach 1945“.

Das Kolloquium „Zeitgeschichte als Streitgeschichte“ fand vor zwei Jahren am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Studien statt. Es galt, die Zeitgeschichtsschreibung - die fünfzig Jahre zuvor in München aus der Taufe gehoben worden war, um den deutschen Faschismus wissenschaftlich aufzuarbeiten - nun ihrerseits einer „reflexiven Selbsthistorisierung“ zu unterziehen. Theorie- und Methodenstreits spielten auf dem Kolloquium eine eher untergeordnete Rolle, was den Band auch für Menschen interessant macht, die ihre Staatbürgerschafts- bzw. Sozialkundekenntnisse vertiefen wollen: Relevant ist was krach macht. Es geht um Fischer und Nolte, Reemtsma und Goldhagen, um FAZ-Feuilletons und Zeit-Dossiers, um Zeitgeschichte als „heimliche Stichwortgeberin des nationalen Selbstverständnisses“. Das mag größenwahnsinnig klingen, ist aber so falsch nicht, solange unter „nationalem Selbstverständnis“ etwas verstanden wird, das tagtäglich in einer handvoll überregionaler Tageszeitungen ausgehandelt wird.

Konrad Jarausch und Immanuel Geiss gehen beide der Fischer-Kontroverse nach, in der mit der „Kriegsschuldlüge“ vom Sommer 1914 und der These vom nationalsozialistischen „Betriebsunfall“ gleich zwei deutsche Mythen zur Disposition standen. Jarausch übernimmt den ernsthaften, distanziert historisierenden Part und überlässt das engagierte Nacherzählen Geiss, der Anfang der sechziger Jahre einer jener zahlreichen Nachwuchshistoriker war, die Fischers „Griff nach der Weltmacht“ gegen dessen noch zahlreichere Kritiker verteidigten. Im Anschluss wundert sich Ingrid Gilcher-Holtey in einem zwar einleuchtenden, letztlich aber ein wenig uninspiriert wirkenden Beitrag, weshalb die zeitgeschichtliche Beschäftigung mit „1968“ noch immer keinen Historikerstreit vom Zaun gebrochen hat. Thomas Lindenberger setzt sich in einem sympathischen Artikel – ihm ist ein Fehlfarben-Zitat vorangestellt, was bei Historikern ruhig öfter vorkommen sollte – mit dem heute fast in Vergessenheit geratenen Streit um die „Alltagsgeschichte“ auseinander. „Als um die zünftigen Grenzen der Geschichtswissenschaft noch gestritten wurde“ widmete die Zeit dem Thema sogar ein Dossier. Allerdings erst, so scheint es, nachdem sichergestellt war, dass Hans-Ulrich Wehler, auf den man sich schon damals verlassen konnte, ausfällig werden würde („Barfußhistoriker“).

Ganz anders sahen das Medienecho und die „gesamtgesellschaftliche Relevanz“ des Historikerstreits aus, dem der Band einen einzigen, allerdings betont unaufgeregten Beitrag aus der Feder Ulrich Herberts widmet. Einer kurzen Nachwende-Debatte geht Martin Sabrow nach: Wie sollte im vereinigten Deutschland mit ehemaligen DDR-Historikern verfahren werden? Und mit der westdeutschen DDR-Forschung, die sich von den Ereignissen hatte überrumpeln lassen? Richtig laut wurde es erst wieder Mitte der neunziger Jahre, als im Streit um die Thesen Daniel Goldhagens und um die „Wehrmachtsausstellung“ wieder mit Schlamm geworfen wurde. Es ist bezeichnend, dass sich die Beiträge von Norbert Frei und Volker Ulrich, die zur Zeit der Goldhagen-Debatte als Kontrahenten wahrgenommen wurden, letztlich nur in Feinheiten divergieren, denn schon zum Zeitpunkt der Debatte waren sich Fachwissenschaft und Feuilleton einiger als man es – vielleicht aus publizistischen Gründen – wahr haben wollte: So richtig gut fand Goldhagen bis auf ein, zwei Ausnahmen niemand, allerhöchstens gestand man ihm zu, „die richtigen Fragen“ gestellt zu haben. (Die Frage, die mich persönlich interessiert hätte, beantworten beide nicht: Wer hat damals eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, die meisten Deutschen hielten ihre Großeltern für exterminatorische Antisemiten, nur weil ein paar Studenten Hans Mommsen ausbuhten?) Die Diskussion um die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ verlief da um einiges kontroverser und vergleichsweise zäh. Die Neukonzeption der Ausstellung ließ bis 1999 auf sich warten, eine Entwicklung die Hans-Ulrich Thamer gewissenhaft als Weg „vom Tabubruch zur Historisierung“ nacherzählt. Michael Jeismann macht in seinem Beitrag zum selben Thema das Gleiche in FAZ: Er kontextualisiert weitläufiger („von der alten zur neuen Bundesrepublik“), kritisiert flächendeckender (mit Ausstellungsleiter Hannes Heer sitzen auch gleich alle anderen „68er“ auf der Anklagebank) und nennt seinen Text „Einführung in die neue Wertbrutalität“.

Der dritte Abschnitt ist mit „Zeitgeschichte als Gegenwartsdiagnose“ überschrieben und hält nicht was er verspricht. Wo man Standortbestimmungen zur Zukunft der Zunft oder zumindest eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Begriff Zeitgeschichte erwartet hätte, assoziiert Brigitte Seebacher-Brandt mehr oder minder zusammenhanglos und konsequent kulturpessimistisch zum Thema „Zeitgeist“, fabuliert vom „Gegensatz von Kohle und Stahl“ und prophezeit: „Die Nachlässe werden schmal sein und Historikern den Stoff nicht mehr liefern.“ Anstatt auf die Jugend zu schimpfen, schimpft auch sie auf jene, die den Zeitgeist erst „rot und links“ „… und schließlich kommerziell“ machten (die „68er“). Reinhart Kosellecks reich bebilderter Aufsatz über „Totenmale im 20. Jahrhundert“ ist zwar lehrreich, man fragt sich aber doch, ob man nicht etwas passenderes hätte finden können. Allein Christoph Kleßmanns auf Kant rekurrierendes Plädoyer für eine der „Aufklärung“ verpflichtete Zeitgeschichtsschreibung bildet hier eine Ausnahme.

Der letzte Abschnitt des Bandes liefert die bei Kolloquien dieser Art glücklicherweise schon fast obligatorische „europäische Perspektive“. Dass auch andere Gesellschaften ausgiebig über Zeitgeschichte streiten, zeigen synthetisierende Beiträge über die Vichy- und Algerien-Debatten in Frankreich, den polnische Jedwabne-Streit, die langsame Aufgabe des österreichischen Opfer-Narrativs, die „Wiederkehr der Geschichte“ in Spanien und das „schweizerische Geschichtsmanagement“. Leider hat man es versäumt, der Europäisierung des Blicks eine Europäisierung der Fragen folgen zu lassen: So vermisst man zumindest den Versuch eines Vergleichs oder auch das Herausarbeiten innereuropäischer Transfers. Am ärgerlichsten erscheint allerdings, und dieser Vorwurf trifft fast die Gesamtheit der Beiträge, dass überall dort wo „Geschichtsbewusstsein“, „kollektive Erinnerung“ und „Öffentlichkeit“ draufsteht, immer nur jenes kleine Grüppchen gemeint ist, das an den Streits der Streitgeschichte aktiv teilnimmt, das eine oder andere Buch konsumiert oder doch zumindest darüber zu reden versteht. Allein Koselleck und Ulrich weisen auf das Problem der Repräsentativität hin: Der Streitgeschichte fehlt schlicht die gesellschaftliche Rückbindung. Wenigstens hätte man Umfrageergebnisse auswerten können, wie das etwa Henry Rousso für Frankreich vorgemacht hat. Vielleicht hätte Guido Knopp auch die Auswertungen seiner Testvorführungen zur Verfügung gestellt, wer weiß?

Von solcherlei Kurzschlüssen distanziert sich Lutz Raphael erfreulich deutlich, auf die „beträchtliche Lücke“ verweisend, die „zwischen der psychologischen Gedächtnisforschung und den kulturwissenschaftlichen Theorien nach wie vor klafft.“ Überhaupt präsentiert sich Raphaels Werk erstaunlich bodenständig und theoriefern, angesichts der Mammut-Aufgabe einer internationalen Historiographiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Man merkt der Arbeit an, dass sie auf einer Vorlesung basiert. Das „Orientierungswissen“, das Raphael in 15 Kapiteln à durchschnittlich 15 Seiten präsentiert, ist sehr pragmatisch geordnet, was den Band zwar wissenschaftlich kritisierbar, aber letztlich viel zu benutzerfreundlich macht, als dass man wirklich auf die Idee kommen könnte, den hier praktizierten Eklektizismus ernsthaft zu kritisieren.

Raphaels Ausgangspunkt ist die geschichtswissenschaftliche Landschaft „um 1900“, also die Zeit unmittelbar nach dem „Siegeszug der Berufshistoriker“ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Im Folgenden thematisiert er so unterschiedliche Phänomene wie die „nationalistische Mobilisierung“ der Zunft in der Zwischenkriegszeit, die Bildung geschichtswissenschaftlicher „Schulen“, die „Umwege und Sackgassen“ marxistischer Historiker, die Geschichte der „Geschichte der internationalen Beziehungen“, die institutionellen Veränderungen, die die Forschungslandschaft seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts umkrempelten, den Aufstieg des sozialgeschichtlichen Paradigmas und schließlich seine Ablösung durch etwas, das man Neue Kulturgeschichte nennt. Überall bemüht sich Raphael um gesellschaftlich-politische Kontextualisierung (daher auch der auf Hobsbawm rekurrierende Titel) und um eine konsequente Darstellung internationaler Zusammenhänge, über die „westliche Welt“ hinaus. Beides gelingt nicht immer bzw. bleibt doch sehr an der Oberfläche haften, alles andere wäre bei einem Taschenbuch dieses Formats auch ein Wunder. Irritierend ist allerdings, dass Nigeria alle Naselang als Quotenafrikanerin herhalten muss („Ein besonders sprechendes Beispiel liefert Nigeria.“). Wirklich enttäuschend sind lediglich die beiden etwas lieblos argumentierenden Abschlusskapitel, die sich der Zukunft der Nationalgeschichte bzw. der Frage nach dem Ende des Eurozentrismus widmen.