Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen


 
November 2003
Alexandra Gerstner
für satt.org

Stephan Malinowski:
Vom König zum Führer


Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat (Elitenwandel in der Moderne 4) Akademie Verlag, Berlin 2003

Stephan Malinowski: Vom König zum Führer

660 S., 59,80 EUR
   » amazon

Stephan Malinowski:
Vom König zum Führer
Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat

"Wirklicher Adel besteht in edlem reingermanischen Blut" konstatierte 1913 der völkische Ideologe Max Robert Gerstenhauer in seiner Schrift "Rassenlehre und Rassenpflege". Die Suche nach einem "Neuen Adel" für "Neue Menschen" war Teil der bürgerlichen Jugend- und Lebensreformbewegung, ein Elitemodell, das sich rasch in völkische Fahrwasser begab und dort schon lange vor 1933 zu Visionen eines "Neu-Adels aus Blut und Boden" führte. Obwohl jedoch das Konzept eines "Rasse-Adels" den traditionellen Kriterien für die Zugehörigkeit zum Adel widersprach, waren völkische Adelsvorstellungen vor allem im ostelbischen Adel erstaunlich anschlussfähig.

Den Gründen für die Affinität weiter Kreise des Adels zu völkischem und neurechtem Gedankengut geht Stephan Malinowski in seiner Studie "Vom König zum Führer" nach. Seine Analyse des Zusammenhangs von sozialem Niedergang, politischer Radikalisierung und dem Sozial- und Wertemodell "Adeligkeit" führt zu einem neuen und komplexen Bild des deutschen Adels, einer sozialen Gruppe, die bislang häufig im Bild des "Junkers" als reaktionärer Wegbereiter des Nationalsozialismus dämonisiert oder als kollektiver Held des konservativen Widerstandes idealisiert wurde.

Schon im Kaiserreich war der Adel gespalten in eine immer größer werdende "Verlierergruppe", die aus dem mit nur begrenzten finanziellen Mitteln ausgestatteten Kleinadel und dem verarmten "Adelsproletariat" bestand, und eine sozial stabile Gruppe der reichen landbesitzenden "Grandseigneurs". Nach dem Scheitern der Adelsreformversuche des 19. Jahrhunderts, mit denen der Ausschluss oder die Reintegration der problematischen ostelbischen "Militärclans" erreicht werden sollte, kam es vor allem durch die als traumatische Katastrophe erlebte Kriegsniederlage, durch die Kaiserflucht und die Revolution von 1918/19 zu einer politischen Radikalisierung dieser adligen "Unterschicht". Die unsichere ökonomische Situation und die Erfahrung der Deklassiertheit trafen vor allem den norddeutschen Adel, allerdings war die subjektive Wahrnehmung von Revolution und Republik in allen Adelsgruppen durch die Erfahrung eines "Sturzes aus großer Höhe" geprägt. Besonders betroffen von dem Verfall des Getreidepreises und der Dezimierung der Wehrmacht befanden sich große Teile des Kleinadels im freien sozialen Fall. Während sich jedoch die realen Lebensbedingungen dieses Teils des Adels dem Kleinbürgertum mehr und mehr annäherten, geschah dies mit den übersteigerten Macht- und Herrschaftsansprüchen keineswegs.

Durch eine gelungene Kombination von Quellen, die die Selbstwahrnehmung und den Wertekanon des Adels erhellen, mit solchen, die die soziale und ökonomische Situation des Adels fassbar machen, gelingt Malinowski eine differenzierte Analyse, die stets regionale und schichtspezifische Unterschiede nicht nur erwähnt, sondern für die Untersuchung fruchtbar macht. Mit der Auswertung von zahlreichen adligen Autobiographien, Personalakten und Nachlässen, sowie des Schriftguts der "Deutschen Adelsgenossenschaft" und anderer Adelsverbände bleibt er nie bei der Analyse ideologischer Pamphlete oder politischer Programme stehen, sondern gleicht diese mit der Umsetzung in den Organisationen des Adels und der "Neuen Rechten" ab, in denen der Weg vom "Gerede" zur politischen Praxis vorbereitet wurde.

Ausgehend von der Darstellung eines den Adel einenden "Wertehimmels" zeigt die Studie, dass die Bildung einer die verschiedenen Adelsgruppen überwölbenden Adelsgemeinschaft nur über die Krücke eines gemeinschaftlichen Gegenbildes möglich war, das im antibürgerlichen Konsens gefunden wurde. Hieraus ergaben sich dann wichtige Anknüpfungspunkte an die Ideologie der "Neuen Rechten" – diese Bezeichnung ersetzt bei Malinowski das Konstrukt "Konservative Revolution" –, die ebenfalls antibürgerliches Ressentiment mit Großstadtfeindlichkeit, Antikapitalismus und antidemokratischer Grundhaltung verbanden. Aber auch die zentralen Begriffe des adligen Selbstbildes wie Haltung, Härte und Charakter, ebenso wie der Pflichtgedanke und der Kult der Kargheit finden sich in neurechten Idealisierungen des soldatischen und männerbündischen Lebens wieder. Die Unfähigkeit des Adels, sich den Herausforderung der Moderne konstruktiv zu stellen, lag daher auch in dessen unzeitgemäßer Selbstdefinition begründet.

Der von Malinowski als radikalisierte Form der antibürgerlichen Haltung gedeutete adlige Antisemitismus wurde zum gemeinsamen "kulturellen Code" (Shulamit Volkov), der im deklassierten Kleinadel ebenso wie im von Abstiegsängsten getriebenen bürgerlichen Mittelstand zur Verbreitung völkischen Gedankengutes führte, dessen Virulenz besonders in der "Deutschen Adelsgenossenschaft" eindrucksvoll belegt wird. Der Grundkonsens in der Feindbestimmung mit Antisemitismus, Antikapitalismus, Antibürgerlichkeit und Antibolschewismus war auch für die spätere Akzeptanz des Nationalsozialismus ausschlaggebend, denn die allmähliche Annäherung adliger und rechtsintellektueller Denkwelten wurde zur Brücke, die den Adel über das brutale Auftreten der SA und über politische Differenzen zur Partei des "böhmischen Gefreiten" hinweg sehen ließ. Zusätzliche Attraktivität gewann nationalsozialistisches Engagement für Adlige durch die Aufstiegs- und Karrierechancen in traditionellen Berufsfeldern des Adels, die der NS-Staat durch die Expansion nach Osten und die militärische Wiederaufrüstung, aber auch durch zahlreiche Posten in SA und SS offerierte.

Dennoch konnten Monarchismus und kirchliche Gebundenheit insbesondere im süddeutschen Adel Refugien schaffen, so dass Teile des Adels auf Distanz zum Nationalsozialismus blieben. Diese Nischen führten aber in erster Linie zu einer schwer fassbaren Melange aus "weltanschaulicher Übereinstimmung und habitueller Distanz" (Frank Bösch), die nur in Ausnahmefällen in den politischen Widerstand mündete. Überzeugend legt Malinowski die eher herrschaftsstabilisierende Funktion dieser Haltung dar, die er in Anlehnung an Alf Lüdtke als adligen "Eigen-Sinn" bezeichnet. Der traditionelle Toast auf den Kaiser war ebenso wie das dem Herrschaftshabitus entsprechende Fehlschreiben des Namens "Hitler" eben kein Zeichen politischer Resistenz, auch wenn die zahlreichen Anekdoten in adligen Autobiographien eben dies belegen wollen. Auch konfessionelle Gründe allein waren nicht ausschlaggebend für die weitgehendere Distanzierung des süddeutschen, insbesondere des bayerischen Adels vom Nationalsozialismus, wie der Kontrast mit dem westfälischen Pendant zeigt. Hier spielt wohl das Zusammentreffen von Katholizismus, partikularistischen Tendenzen und einem durch einen hoffnungsvolleren Thronanwärter stabileren Monarchismus eine Rolle. Dennoch führte auch die reservierte Haltung in Bayern nur in den seltensten Fällen zu widerständigem Handeln. Die Diagnose Malinowskis zu Affinitäten und Differenzen des Adels zum Nationalsozialismus deckt sich daher mit dem Urteil der neueren Konservatismusforschung, dass sich anfänglich durch die Annäherung der NS-Bewegung an das konservative Milieu ein Missverständnis über Einflusschancen und Mitspracherechte im NS-Staat bildete, das trotz einschneidender Ereignisse wie der Mordaktion im Juni 1934 große Teile des konservativen Milieus langfristig zu Trägern des Regimes machte.

Abschließend sei die außergewöhnlich Differenziertheit, mit der Malinowski das Phänomen Adel betrachtet, hervorgehoben. Ökonomische, konfessionelle und regionale Unterschiede werden ebenso beachtet wie die Generationenzugehörigkeit und die Auswirkungen und die Wahrnehmung der politischen Lage. Dank dieser Sorgfalt entsteht eine mentalitäts- und sozialgeschichtliche Studie, die in stets wohltuender Distanz zu den Quellen mentale Zustände und Befindlichkeiten als wirkmächtige Faktoren der Geschichte ernst nimmt und deren wohlbegründeten Urteilen man überall folgen kann.

Der Jury der "Heinrich-August-und-Dörte-Winkler-Stiftung", die die Arbeit mit dem 2004 erstmals verliehenen "Hans Rosenberg-Preis" ausgezeichnet hat, ist daher beizupflichten, wenn Sie dem Werk auch jenseits der Fachwissenschaft zahlreiche Leser wünscht.