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Juni 2003
Alexandra Gerstner
für satt.org

Eva-Maria Ziege: Mythische Kohärenz
Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2002

Eva-Maria Ziege: Mythische Kohärenz.

301 S., 29,00 EUR
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Eva-Maria Ziege: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus


Sprache im historischen Kontext nicht nur als ideologischen Überbau, sondern als Handlung, die Welt erschafft, zu würdigen, ist noch immer nicht selbstverständlich. Eva-Maria Ziege, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin, verspricht in ihrem Buch "Mythische Kohärenz", dem ihre in Potsdam entstandene Dissertation zugrundeliegt, eine "Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus". Über die Bedeutung der diskursiven Ebene für die Diffamierung und Ausgrenzung der deutschen Juden in der Weimarer Republik besteht kein Zweifel, dennoch ist der völkische Antisemitismus noch nicht auf der Ebene sprachlicher Machtausübung und Ausgrenzungsmechanismen untersucht worden. Ziege orientiert sich bei der Beantwortung ihrer leitenden Frage, wie es zu einer Radikalisierung des Antisemitismus kam, "der die Vernichtung der Juden regelrecht erzwang’" (9), anders als z.B. Ute Planert* oder Susanne Omran**,

* Planert, Ute: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 14), Göttingen 1998.

** Omran, Susanne: Frauenbewegung und ‘Judenfrage’: Diskurse um Rasse und Geschlecht um 1900, Frankfurt a. M. 2000.

die in einem ähnlichen Feld antifeministische bzw. antisemitische Diskurse untersucht haben, vor allem an der linguistischen Diskurstheorie von Jürgen Link. Ziege unterscheidet wie Link zwischen Spezial- und Interdiskursen: für Spezialdiskurse, unter denen hier vor allem fachwissenschaftliche verstanden werden, gälten strengere Sprachregelungen und ein exklusives Vokabular, welche letztlich dazu führten, dass nur durch die Vermittlung über den Interdiskurs noch ein Austausch mit nicht am Spezialdiskurs Beteiligten möglich sei. Mit Hilfe dieser Unterscheidung arbeitet Ziege anhand von zehn Diskursfragmenten die Popularisierung wissenschaftlicher Forschung (Rassenhygiene, Männerbund) in antisemitischen Zusammenhängen heraus. Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie außerdem der Textproduktion völkischer Frauen, die eine diskursive Gegenstrategie verfolgt, sich aber dennoch stets innerhalb der "mythischen Kohärenz" des völkischen Antisemitismus bewegt hätten.
Trotz der aufwendigen Analyse, deren Lektüre durch gespreizte Formulierungen und häufige Wiederholungen noch erschwert wird, kann Eva-Maria Zieges Hauptthese nicht überzeugen. Sie postuliert, dass durch die in den Texten durchgängige Gegenüberstellung einer "Wir"-Gruppe (z.B. Germanen, Deutsche, Arier) und der "Juden" eine "mythische Kohärenz" entstünde, die den Diskurs zusammenhalte, obwohl er in sich ambivalent oder gar paradox strukturiert sei:
"Mit all seinen Widersprüchen ist ihm ein ständiges Schwanken zwischen ihnen ein Mechanismus des nicht Haltmachenkönnens inhärent, der ihn in einem dynamischen Prozeß einer kumulativen Verstärkung des Vorurteils immer weiter vorantreibt und die kulturelle Diskriminierung’ in eine unersättliche Feindschaft’ übersetzt, die die Judenvernichtung regelrecht erzwingt’." (253)

* Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, 5. Aufl. Graz - Stuttgart 1999.

Aus Zieges Analyse läßt sich diese Schlußfolgerung indessen nur schlecht begründen. Dies hat mehrere Ursachen. Zunächst bleibt unklar, was mit "völkisch" eigentlich gemeint ist. Ziege orientiert sich hier an den veralteten Kategorien Armin Mohlers*, und sorgt noch für zusätzliche Verwirrung, indem sie dessen Oberbegriff der "konservativen Revolution" ebenfalls durch "völkisch" ersetzt. So bezeichnet "völkisch" zum einen eine höchst heterogene Gruppe, zum anderen wird durch den Zusatz "völkisch im engeren Sinne" eine Untergruppe klassifiziert, die auch von der Forschung allgemein als völkisch bezeichnet wird. Der Gegenstand der Untersuchung, der völkische Antisemitismus, wird durch dieses Verfahren verdunkelt und die Ergebnisse nahezu unbrauchbar. Nach Zieges Ausführungen reduziert sich der Gehalt des schillernden Begriffes "völkisch" lediglich darauf, den "negativen Signifikanten" (Antisemitismus) durch einen positiven ersetzt zu haben. Damit wird für Ziege völkisch = antisemitisch, womit die Tendenz der untersuchten Texte bereits eindeutig festgelegt ist.
Die Diskursfragmente (zwei Auflagen des "Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre" von Baur/Fischer/Lenz, die "Rassenkunde" H.F.K. Günthers, sowie drei Texte völkischer Frauen zur Zeit des Nationalsozialismus und ein Text des Leiters des Reichssippenamtes, Achim Gehrke) wurden vor allem nach dem Erscheinungsort ausgewählt: sie erschienen alle im völkisch-nationalsozialistischen J.F. Lehmanns Verlag. Obwohl das Auswahlverfahren als solches nicht zu bemängeln ist, da auf diese Weise auch die oft vernachlässigte Verlagspolitik in die Untersuchung einfließt, wird das Spektrum des Diskurses zu sehr eingeschränkt auf den Teil der völkischen Bewegung, der mit nationalsozialistischen Ideen sympathisierte. Negativ fällt auf, dass vier Fragmente bereits nach der Machtübernahme erschienen, was die Abgrenzung des völkischen Diskurses zum Nationalsozialismus zusätzlich erschwert.

* Vgl.: Puschner, Uwe: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache - Rasse - Religion, Darmstadt 2001. Bock, Gisela: Krankenmord, Judenmord und nationalsozialistische Rassenpolitik. Überlegungen zu einigen neueren Forschungshypothesen, in: Bajohr, Frank / Werner, John / Lohalm, Uwe (Hrsg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 285-306. Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.

Schwerer wiegt aber die Vernachlässigung der neueren Forschung zur völkischen Bewegung wie auch zum Antisemitismus. Beide* haben die zentrale Bedeutung der Kategorie "Rasse" hervorgehoben, ohne die die Radikalisierung des Antisemitismus im 20. Jahrhundert wohl nicht zu verstehen ist. "Rasse" erlaubt das Zusammenspiel von naturwissenschaftlicher Argumentation und religiöser Überhöhung. Das gleichzeitige Vorhandensein von religiöser und naturwissenschaftlicher Sprachverwendung, welche auch von Ziege in den Diskursfragmenten festgestellt wird, erklärt diese dagegen allein aus der strukturellen Ambivalenz des Diskurses, der auch Paradoxien zulasse. Die Vernichtungslogik, die in der dem rassischen Antisemitismus innewohnenden Unabwendbarkeit von Schicksal gründet, wird so unterschlagen und durch die viel schwächere These von der "mythischen Kohärenz" ersetzt. Das Spezifikum des völkischen Antisemitismus, wie er auch in den von Ziege ausgewählten Fragmenten erscheint, liegt aber im Gegensatz zum antikapitalistischen oder religiösen Antisemitismus gerade in der Argumentation vom Standpunkt der Rasse aus. In dieser Hinsicht erscheinen auch die als Belege für die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Diskurses dienenden Texte völkischer und nationalsozialistischer Frauen vielmehr als Beweise für eine reale Kohärenz des Diskurses – sobald ein Text nämlich von der rassistischen Prämisse der völkischen Denkweise ausgeht, ergibt sich ein umfassendes Welterklärungssystem, das die Gefährlichkeit des rassischen Antisemitismus ausmacht. Eva-Maria Zieges Untersuchung bleibt daher aus methodischen Gründen und auch hinsichtlich ihrer interpretatorischen Leistung unbefriedigend.