Kaaja Hoyda: LIEBEN UND LEBEN LASSEN. Vom Vorhandensein eines
Independent- Lebensgefühls.
Zuerst erschienen in: Gothic! Die Szene in Deutschland aus der Sicht ihrer Macher
Schwarzkopf u. Schwarzkopf Verlag Berlin 2000
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LIEBEN UND LEBEN LASSEN
Vom Vorhandensein eines Independent-Lebensgefühls
I.
Und dann warf dieser fast glatzköpfige, für seine Eskapaden berühmte
Diskjockey all diese wertvollen Vinylalben auf die übernächtigte Tanzfläche;
sie zersprangen, und die Scherben vermischten sich mit per Fußtritt getöteten
Zigaretten, klebrigen Orangensaftflecken, Glasscherben und plattgewalzten
Plastikbechern. Das Putzlicht hatte irgendwer schon eingeschaltet - jetzt gab
es also keine Illusionen mehr. Weder durch zuckendes blaues Licht, noch durch
fluoreszierende Wandbemalungen, in die Decke eingelassene Halogenlichter oder
eine Disko-Kugel. Putzlicht in der Gastronomie heißt: Ende aus, Micky Maus!
Da geht dann gar nichts mehr. Naja, außer natürlich: Platten auf die
Tanzfläche werfen, sich aufregen, ausrasten, rumtillen, die Krise kriegen,
durchknallen oder im Stehen einschlafen. In diesem Fall lag die Sache
eindeutig auf dem Tisch: Diskjockey wollte mehr Geld! Und diesen Wunsch hatte
er - wohl zur falschen Zeit am falschen Ort - dem Besitzer des Clubs
angetragen; dieser fand das gar nicht nötig, beschrieb die in der vergangenen
Nacht geleistete Arbeit des DJs als "Publikumvergraulungsprogramm", "viel zu
düster" und natürlich vollkommen "veraltet". Man muß an dieser Stelle
allerdings sofort zwei Sachen klarstellen: Erstens hatte der Plattenaufleger
tatsächlich etwas muffelige musikalische Vorlieben, zweitens allerdings
konnte der Clubbesitzer dies nicht beurteilen, weil er keine Ahnung von
Musik hatte und privat HOT CHOCOLATE bevorzugte. Immerhin mußte man dem DJ zu
Gute halten, daß er wöchentlich 1000 Liebhaber der tanzbaren
Independent-Musik in den Schuppen kriegte. Den Mann werde ich Tom nennen -
das ist zwar bescheuert, weil er gar nicht so heißt, aber schmutzige Wäsche
waschen will ich hier nicht. Und der Mann mit dem Club heißt fortan Dr.
Durcheinander. Den Titel kriegt er, weil er sich leider zu sehr für Spritzen
interessierte, den Nachnamen, weil genau das ihn so machte. Tom und Dr.
Durcheinander hatten sich also mal wieder wegen des guten alten Zasters in
den Haaren - wirklich sehr independent, die beiden Vögel. Tom war rot
angelaufen und sein Kopf schien gleich zu platzen wie die Köpfe in meinem
Lieblingsfilm "Zombies im Kaufhaus" andauernd.
Dr. Durcheinander saß - mit einem Longdrink bewaffnet - an der Kaffeebar und
mimte den weltmännischen Businessmann - wobei gesagt sein soll, daß die
Heimat seines Tanztempels Gelsenkirchen hieß. Dazwischen zwei ultragenervte
Türsteher, die mit den in der Nacht erworbenen Mädchen dringend nach Hause
wollten, zwei nimmersatte Stammkunden Marke "Verzehrkarte voll", die kopfüber
in "gleich-muß-ich-brechen-Haltung" auf der Treppe zur großen Theke saßen und
es schwer haben würden, gesund nach Hause zu kommen, und natürlich ich
selbst, zu der Zeit "Geschäftsführer" des Nachtlokals, der Mann mit der
Schlüsselgewalt, mit der Dose für den Sparkassen-Nachttresor; zwar hatte ich
den bestbezahlten, aber auch dümmsten Job im Laden - Du stehst zwischen
allen Stühlen, gehst als letzter raus, wenn was fehlt, dann bist Du schuld,
und Du stößt Dir auf dem Weg zur Bierzapfanlage ständig den Kopf an der zu
niedrig geratenen Kellertür.
Dr. Durcheinander schüttelte lässig sein Glas. Tom hatte immer noch nicht
eingesehen, daß Plattenschmeißen kindisch ist und eher zum Lohnabzug denn zur
Gehaltserhöhung führte. "Ohne mich wär die Bude doch längst leer!" schrie
Tom. NICK CAVE zersprang in tausend Teile. Das tat mir weh. "Ihr könnt hier
Euren Scheiß bald alleine machen, nehmt doch irgendein Poser-Arschloch,
irgendeine Zecke ohne Ahnung!" ging es weiter. Dabei tötete er ein
unbekanntes Werk von THE MISSION, falls es von denen überhaupt ein
unbekanntes Werk gibt. "Ich will 50 mehr! Ab heute abend, sonst mach ich hier
alles platt! Reiß mir doch nicht den Arsch auf, und Du rauchst die ganze
Kohle vom Blech weg!" Oh, das hätte er nicht sagen sollen, bitte nicht,
dachte ich, denn jetzt begann bestimmt die alte "Ich bin längst clean Leier."
Und so kam es.
Dr. Durcheinander konterte: "Du weißt, Tom, daß ich längst clean bin. Hab
seit Wochen nichts genommen. Außerdem geht Dich das gar nichts an und spielt
hier keine Rolle. Mit dem letzten hatte er recht, ersteres war gelogen. "Das
wären dann 380 für 6 Stunden schlechte Musik. Das ist zuviel."
"Ich bin halt kein Mainstream-Arschloch; Du wolltest Wave, Du kriegst Wave.
Dann 30 mehr!" Kurze Pause. Das sah nach Einigung aus und Platten flogen auch
nicht mehr. Schön - Friedenspfeife um 6.30 morgens am Sonntag. In wenigen
Minuten würden die beiden Arm in Arm aus dem Laden gehen und gemeinsam clean
bleiben … Dr. Durcheinander zückte seine ekelige Brieftasche und schmiß Tom
30 Mark vor die Füße. "Sei ein Idiot, " dachte ich, "und heb es auf!" Das tat
er. Wave-DJs sind immer pleite.
Ich zahlte die beiden Türsteher aus, nachdem sie die beiden Sitzenbleiber von
der Treppe gezerrt hatten, begleitete Tom und Dr. Durcheinander nach draußen
vor die Tür, knallte die schwere Eingangstür zu und hatte meine Ruhe. Sehr
gut. Es gab eigentlich nur wenige Augenblicke, die ich zu der Zeit wirklich
liebte. Unter anderem war das, wenn alle draußen waren, das Inventar des
Ladens wie ein verprügelter Junge vor mir lag, ich einen Batzen Geld in die
Sparkassenbombe quetschen konnte, das Kassenbuch stimmte und ich irgendwo
noch eine Flasche Martini fand, aus der ich beim Abschalten der Elektronik
nuckeln konnte. Und dann natürlich der Augenblick, wo Du aus der Hintertür
des Ladens gehst und der Morgen Dich anstrahlt. Der Sonntagmorgen.
Katholisch-evangelisch durchgestylt, hell, erbärmlich müde. Ein Mann mit
Deckel und Dackel geht Gassi, pubertierende Jungen bessern ihr Taschengeld
mit dem Austragen der BamS auf, Rolladen werden hochgezogen, dicke
Daunendecken hängen zum Lüften aus den Fenstern und im Hintergrund siehst Du
ein häßlich gerahmtes Bild mit Bergsee. Cool. Das war independent für mich.
Und das ist es bis heute. Du steigst in Dein Auto, die Stadt schläft noch,
nur wenige Sonntagspendler kommen Dir entgegen - und keiner ahnt, daß Du vor
wenigen Stunden noch daran Teil hattest, daß einige hundert Leute eine wilde
Party zu Indie-Hardfloor-Sound feiern konnten. Der Rest ist - wie alles -
Beschiß und funktioniert nach marktstrategischen Gesichtspunkten. Das Bier
wird gestreckt, die Eiswürfel landen vor dem Getränk im Glas und der Mann mit
Turnschuhen muß draußen bleiben, damit man sich besser identifizieren kann.
II.
Der Laden ging Pleite. Das freute meine Eltern, denn eigentlich sollte ich ja
Arzt werden und nicht im "Milieu" versacken. Der Besitzer flüchtete wegen
Steuerschulden auf einen Campingplatz nach Spanien, und ich hörte später nur
noch Horrorgeschichten über ihn. Unter anderem wurde mir angetragen, er führe
jetzt den Wagen, mit dem in Eishallen die Eisfläche wieder erneuert wird. Ich
lebte in meinem roten Golf Diesel, meine Adresse hieß "Am Zigaretten- automaten
rechts vom Haus seiner Eltern". Mit mir im roten Golf Diesel lebte Torsten,
ein schlaksiger Besserwisser von Welt und sein Hund RICHARD. Richard hatte
den ganzen Tag nur Fressen im Kopf; und aß alles, was er so fand: Steine,
Gras, Postkarten, Fußmatten, Wellensittiche und meine Pommes frites. Die
liebte er besonders, denn es waren ja eigentlich meine. Meine Eltern hatten
mich wegen zunehmender Lebenserfolglosigkeit aus dem Kinderzimmer
katapultiert; also standen wir in meinem Wagen um die Ecke, und wenn mein
Vater zur Arbeit war, konnten wir rein und duschen. Es geht eben nichts über
ein Mutterherz. Richard legte sich dann grundsätzlich mit dem Hund meiner
Eltern an. Der hieß TESSA, war ein schnuckeliges, zurückhaltendes
Cockermädchen und hatte folglich keine Chance gegen den Straßenköter beim
Kampf um den Freßnapf, auf dem ihr Name stand. Auch hier frißt halt der
Starke den Schwachen. Im Auto war es kalt, Liebesbeziehungen konnten so auch
nicht entstehen ("Hey, Kleine, kommst Du zu uns ins Auto?" …), lediglich die
Bundeswehr wollte mich haben, ich hatte den Verweigerungstermin verpennt, das
Geld wurde knapp - was lag da näher, als Popstar zu werden? Torsten und ich
hatten keine Ahnung von Musik, also fanden wir in Marc und Hajo die richtigen
Leute, denn die kannten sich auch nicht aus damit. Damit war unser Weg als
"Indie-Band" vorprogrammiert. Wir beschlossen, auf allem Musik zu machen, auf
dem man nicht Musik machen kann - Sägen, Autoreifen, Fußleisten,
Stahlträgern, Kartons, Eimern mit Glasscherben. Ich höre jetzt schon alle
schreien: DAS HABEN DIE NEUBAUTEN DOCH GEMACHT! Das stimmt, allerdings
kannten wir diese Band zu der Zeit noch nicht. Ist mir aber auch egal, wenn
jetzt alle schreien, denn ich weiß es schließlich besser. Jedenfalls hatten
wir keinen Proberaum - und das hieß: Ab an den Busen der Natur. Im Winter, im
Sommer, im Regen, bei Schnee und Hagel (naja, vielleicht nicht bei Hagel …)
versteckten wir uns an irgendwelchen unmöglichen Orten, um unser
Instrumentarium und uns zu quälen. Einmal musizierten wir wildes Zeug unter
einer alten Eisenbahnbrücke; und alle hatten Paranoia, daß doch ein Zug
kommt, obwohl zwischen den Bahnschwellen das Gras Meter hoch stand. Das lag
aber auch daran, daß in uns das Gras Meter hoch stand! Wir machten eigentlich
keine Lieder oder Songs, wir spielten stundenlang irgendwelchen Jam und
rezitierten seltsame Texte dabei. Fast alles handelte von Liebe, Sex und
Versagensängsten; aber auch heikle Themen waren dabei: Zum Beispiel
Leberwurstbrote. Eins unserer echten ersten Lieder hieß "Buddha vom Bau" und
handelte von meiner Zeit als Aushilfsgerüstbauhelfer. Das Stück ging so:
Krachmachen, dann Pause, LEBERWURSTBROT singen, Krach machen. Der Sinn war,
daß es eben in der Pause auf der Arbeit Leberwurstbrot gab. Musik muß nicht
immer kompliziert sein.
Unser erstes Konzert gaben wir auf dem Heinrich-Heine-Platz in Düsseldorf;
übrigens einer vollkommen überflüssigen Stadt. Erstens, weil CAMPINO daher
kommt und ich ihn furchtbar finde, und zweitens, weil diese Stadt in
Selbstgefälligkeit erstickt. Das Konzert war sensationell: Wir trugen Schuhe,
die in der Mitte durchgeschnitten waren und unsere Zehen rausgucken ließen;
das war unsere Idee vom klassischen HALBSCHUH. Nach ca. 12 Minuten kam die
Polizei, denn Musizieren ohne Genehmigung ist verboten - ein Grund mehr, sich
mit Underground zu beschäftigen. Wir wurden unter dem Jubel einer Gruppe
Punker vom Platz verwiesen. Das war ein Schlag ins Gesicht, so sah also in
unserem Land der Talentsupport aus! Dennoch fanden wir einen Proberaum,
schlossen uns ein und beschäftigten uns weiter mit der Materie; in der
Kleinstadt, aus der wir stammten, wuchsen wir dank unserer heftigen Konzerte
zum Kult und verdienten zwar kein Geld, hatten aber endlich ein paar
Groupies. Das Schicksal nahm seinen Lauf, "Anderssein" war gut; Leute kamen
in unsere Band und gingen wieder, wir spielten in jeder Pommesbude und
irgendwann unterschrieben wir unseren ersten Plattenvertrag. Ich werde jetzt
hier nicht erzählen, was für eine geile Band STENDAL BLAST geworden ist, denn
es macht sich nicht gut, für sich selbst Werbung zu machen. Jedenfalls
funktionieren wir seit Jahren, wir können Musik machen, wir kommen durch das
Land, wir sind nicht reich geworden, es gibt Leute, die uns mögen, es gibt
Leute, die uns unglaublich schlecht finden, es gibt Leute, die an uns glauben
und alles tun, damit wir noch bekannter werden, wir werden bejubelt, wir
werden ignoriert, wir werden ausgepfiffen, wir haben jährlich 30000 Kilometer
zu fahren, wir schlafen schlecht, wenn es schlecht läuft, wir kriegen
Hotelzimmer im ETAP, wir können uns keine neuen Instrumente leisten, wir
essen keine Kaviar-Schnittchen, wir scheißen nicht in goldene Toiletten, wir
sind nicht eingebildet, wir machen Musik mit deutschen Texten, wir geben
Interviews, wir streiten uns, wir lieben uns, wir lachen und schreien rum,
wir finden BURGER KING besser als McDONALDS, wir müssen den Flur putzen, wir
müssen arbeiten wie alle anderen, um was zu Beißen zu haben, wir haben
überzogene Dispos auf unseren Girokonten, wir haben Schimmel im Proberaum,
wir gucken genau hin, wir kennen viele Leute, wir kriegen Post, wir haben
Angst an dunklen S-Bahn-Haltestellen, wir beschäftigen uns mit dem Tod, wir
haben Spaß am Leben, manchmal sind wir witzig, meistens sind wir zynisch,
machmal sind wir verzweifelt, wenn wir die TAGESSCHAU sehen - aber vor allem
freuen wir uns, wenn wir auf der Bühne stehen und die Leute gehen mit. Wir
sind eben eine Independent-Band.
III.
Könnten wir die Schwerkraft überwinden, wäre alles viel besser. Schon morgens
kämen wir leichter aus dem Bett, wir könnten endlich Orangensaft kopfstehend
trinken, Krampfadern wären kein Thema mehr und ständig könnten wir überall
sein. Doch leider wird das wohl nicht funktionieren; aber funktionieren wird
es auch nicht, wenn wir stehenbleiben und uns dem allgemeinen Stillstand
ergeben; Hände hoch und versacken! Wenn Herr Matzke bei mir anruft und sagt:
"Schreib was über Dein Independent-Lebensgefühl!", dann wird mir zunächst
ganz übel und ich kriege Angst. Ich habe keine Lust, genau die Schublade zu
öffnen, die die sogenannte "Independent-Szene" ja nicht haben will. Für mich
sind nur wenige Minuten am Tag wirklich "independent": Es sind die Minuten,
in denen ich außer der Reihe laufe, in denen mich jemand blöd anglotzt, in
denen ich die Bäckereiverkäuferin damit überrasche, daß ich mit ihr REDE und
nicht bloß zwei Brötchen bestelle, in denen ich mitten in der Stadt an die
Hauswand pinkele, in denen mich die Euphorie überkommt, in denen ich mich
über alte Industrieanlagen freuen kann, in denen mir jemand sagt, daß ich
außergewöhnlich bin, in denen ich nicht bei IKEA kaufe, in denen ich morgens
um 6.00 Uhr vom Tanzen komme. "Independent sein" heißt: Ein Doppelleben
führen, Nischen finden, das Nötigste in der "geraden" Welt tun, um das
Wesentliche in der "krummen" zu erreichen. Und das geht letztendlich jedem so.
Wenn mir also jemals eine Forderung zu dem Thema eingefallen ist, dann lautet
sie so: Wir wollen lieben, wen wir wollen! Wir wollen küssen, wen wir wollen;
und nicht fühlen, was wir sollen, vor allem lieben was wir wollen! Mehr will
ich letztendlich nicht.
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