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21. April 2024
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Es sind die kleinen Dinge (Mélanie Auffret)


Es sind die
kleinen Dinge
(Mélanie Auffret)

Originaltitel: Les Petites Victoires, Frankreich 2022, Buch: Mélanie Auffret, Michaël Souhaité, Kamera: Laurent Dailland, Schnitt: Jeanne Kef, Stéphane Couturier, Musik: Julien Glabs, Kostüme: Amandine Cros, Szenenbild: Mila Preli, Casting: Tamara Kozo, mit Julia Piaton (Alice Le Guennic), Michel Blanc (Émile Menoux), Eliot Bouger Van Goethem (Eliot), Adrien Guïonnet (Adrien), Lionel Abelanski (Saturnin), India Hair (Pauline), Marie Bunel (Claudine), Marie-Pierre Casey (Jeannine), Sébastienne Chassagne (Patrick), Lila Coraïllon (Lila), Marie Podeur (Marie), Soën Abenon (Soën), Benoîot Moret (Rudy), Daphné Richard (Daphné), Romain Brosseau (Younès), Awen Gratia Lemonnier (Pablo), Romane Laurard Vancraeynest (Lou), Philippe Pura (Philippe), Odette Simoneau (Audette), 90 Min., Kinostart: 18. April 2024

Kerguen ist ein kleiner Ort in der Bretagne mit gerade mal 400 Einwohnern. Bei einem crane shot (oder wahrscheinlicher: einer Drohnenaufnahme) vom Marktplatz sieht man: nach zwei eher lückenhaften Häuserreihen ist man schon wieder außerhalb. Die Bürgermeisterin namens Alice (Julia Piaton, Monsieur Claude und seine Töchter) will einen neuen Betreiber für die leerstehende Bäckerei finden. Doch das ist nicht ihre einzige Aufgabe. Alice ist auch die einzige Lehrerin der Grundschule (nur 10 Schüler, wenn die Behörden das wüssten...). Und sie ist als (inoffizielle) Sozialarbeiterin, Paartherapeutin und Schlichterin von Streitigkeiten reichlich beschäftigt. Sie bessert sogar Schlaglöcher höchstpersönlich aus. Selbst ist die Frau.

Während rund um sie herum der Ort droht auszusterben...

Wie der Filmtitel (original wie deutsche Version) gut illustriert, geht es in diesem Film um keine riesigen Probleme. Höchstens aus der Sicht der Individuen. Das zentrale Problem des Films, das sich mir recht schnell erschloss (ein älterer Herr, der sich mit fadenscheinigen Ausreden weigert, ein Unfallprotokoll zu erstellen -> vermutlich ein Analphabet oder jemand mit Lese- / Rechtschreibschwäche) wird auch zu Alice' vielleicht größtem Dilemma, als der mürrische Émile (Michel Blanc, Abendanzug, Die Verlobung des Monsieur Hire) sich einfach mit ins Klassenzimmer setzt, an seinen früheren Platz.

Rechenaufgabe: Wenn von zehn Kindern der älteste Schüler 11 Jahre alt ist und die jüngste Schülerin 6 (Altersverteilung ohne Auffälligkeiten, ziemlich regelmäßig), um wie viele Jahre erhöht sich der Altersschnitt durch den 65jährigen Émile in etwa?

Es sind die kleinen Dinge (Mélanie Auffret)

Foto: Stephanie Branchu © Happy Entertainment

Das Beste am Film sind ganz klar die Kinder. Ähnlich wie einst bei Truffaut sind die so gecastet, dass sie sich quasi selbst spielen können. Und sie können sich dadurch mit viel Authentizität sympathisch einbringen. Émile agiert vor allem mit dem schüchternen Eliot und dem etwas zu sehr von sich eingenommenen Adrien, der von Émile erst reichlich Kontra bekommt, aber letztlich werden alle drei zu Freunden. Dass die Namen der Kinder (Rollen) größtenteils auch die der Darsteller sind, zeugt auch von der Herangehensweise.

Wenn der Film sich gänzlich auf die Kinder fokussiert hätte (und vielleicht noch auf Émile, Alice und das Kaninchen Mbappé), so hätte das sicherlich nicht geschadet. Aber es geht auch um viele andere Dorfbewohner und deren Probleme. Sogar bereits verstorbene Dorfbewohner wie Émiles Bruder oder Alice' Vater spielen eine große Rolle, weil das halt in einem kleinen Ort so ist: wenn man da Jahrzehnte lang eine wichtige Figur war, vergisst man Dich nicht so einfach, und selbst die Kinder, die erst nach dem Tod dieser Leitfiguren geboren sind, bekommen immer wieder deren Geschichten erzählt (keine Beobachtung aus dem Film, sondern aus dem kleinen Nest, in dem ich seit meinem zwölften Geburstag ausfgewachsen bin).

Es sind die kleinen Dinge (Mélanie Auffret)

Foto: Stephanie Branchu © Happy Entertainment

Les Petites Victoires bemüht sich, die Geschichte des Ortes authentisch einzufangen. Das ist sogar wichtiger als eine typische Dramaturgie des Drehbuchs, wo die Hauptfiguren meist die Geschichte vorantreiben. Hier geschieht auch vieles ohne das Wissen von Émile und Alice, und wenn Alice mal einen Ausflug ins Internetdating macht (also einen erzählerischen Ausflug, der nicht direkt zur Entwicklung des Ortes beiträgt), dann wirkt ihr Liebesleben trotz der üblichen filmischen Ellipse (was passierte nach dem Kuss?) weniger aufregend als das von Eliot, dem eine Charme-Offensive nicht genügt...

Sehr beispielhaft für den Film ist etwa die Geschichte mit dem Schulinspektor. Gleich mehrere Details müssen vor ihm geheim gehalten werden, und zunächst löst man das wie im Ohnsorg-Theater (nur mit mehr Darstellern). Das gerade progressive ist aber, dass so eine Schwank-Geschichte, wenn sie mal nicht so funktioniert wie geplant, zu positiven Veränderungen führen kann...

Es sind die kleinen Dinge (Mélanie Auffret)

Foto: Stephanie Branchu © Happy Entertainment

Was mich neben den Kindern verzückt hat, war der leise Humor. Émile bietet sich an, als Schwimmlehrer zu fungieren. Immerhin hatte er mal einen Erste-Hilfe-Kurs ... und seinen Rettungsring hat er auch dabei! Meine vielleicht größte Schwäche als Filmkritiker ist es, dass ich mir einen Ast freue, wenn ich mal etwas bemerke, was nicht jedem auffallen wird (manchmal werden dann meine Kritiken zu ausgeprägten Exkursionen über Farbdramaturgie oder ähnliches). In diesem Fall habe ich trotz meines eher rudimentären Wissens der französischen Sprache kapiert, dass Alice' Erklärungen an Émile, dass man den Laut »O« auch anders schreiben kann, sich dann abermals zeigen, als der notorische Raucher Émile (mit künstlerischer Unterstützung der MitschülerInnen) ein Schild angebracht hat, auf dem »zaune fumeur« steht. Den Gag habe ich ausnahmsweise auch ohne Untertitel verstanden!

Es sind die kleinen Dinge (Mélanie Auffret)

Foto: Stephanie Branchu © Happy Entertainment

Aber ich bin nicht nur begeistert vom Film. Die unterschiedlichen Entscheidungen, welche Geschichte man »zuende erzählt« und welche man eher so im Sande verlaufen lässt, waren nicht immer auf meiner persönlichen Wellenlänge. Auch missfiel mir die Musik, wenn sie mal wieder zu sehr in Richtung »Feelgood« oder »Hauruck« driftete. Und der Schlussgag des Films lässt viel vom Fingerspitzengefühl davor vermissen.

Der eine Gag des Films, an den ich mich vermutlich noch Jahrzehnte erinnern werde, ist mir auch in Variation aus der deutschen Krimiserie Mord mit Ausblick bekannt: in Hengasch ist öfters eine Alte Dame mit Rollator unterwegs, die oft dafür sorgt, dass beschauliche kleine Autofahrten deutlich mehr Drehzeit benötigen. In Kerguen sitzt eine alte Dame mit Namen Audette eher fast apathisch auf einer Holzbank, wird aber immer von allen gegrüßt. Und in einer Szene sogar dazu genötigt, auf ähnliche Weise wie in Hengasch zur Verkehrberuhigung beizutragen. Und wer jetzt in den Credits nachschaut, wie die Darstellerin heißt, erkennt sicher eine Art Markenzeichen des Films wieder...