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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




25. Februar 2020
Thomas Vorwerk
für satt.org


Cinemania-Logo 207:
Return of the Procrastinator (Vol. 1)


Seit Weihnachten hängt der Film-Red. zunehmend mit seinen Kritiken den Filmstarts hinterher ... mit diesem Cinemania ist er zwischendurch mal fast »schuldenfrei«


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  Die Kunst der Nächstenliebe (Gilles Legrand)

Die Kunst der
Nächstenliebe
(Gilles Legrand)

Originaltitel: Les bonnes intentiones, Frankreich 2018, Buch: Léonore Confino, Gilles Legrand, Kamera: Pierre Cottereau, Schnitt: Andrea Sedlácková, Musik: Armand Amar, Kostüme: Anne Schotte, Szenenbild: Riton Dupire-Clément, mit Agnès Jaoui (Isabelle), Alban Ivanov (Attila), Tim Seyfi (Ajdin), Michèle Moretti (Jacqueline), Claire Sermonne (Elke), Philippe Torreton (Cyrano), Eric Vielllard (Christian), Marie-Julie Baup (Agnes), Didier Benutreau (Direktor), Martine Schambacher (Francine), Chantal Yam (Chuang Mu), Romeo Hustiac (Radu), Giedré (Miroslava), Saliha Bala (Souad), Nuno Roque (Thiago), Bass Dhem (Bah), Lucy Ryan (Zoé), Théo Gross (Paul), Jenny Bellay (Mamita), Tatiana Rojo (Arwa), Daria Pachenko (Tatiana), 103 Min., Kinostart: 30. Januar 2020

Als Regisseurin hat Agnès Jaoui es zu einer kleinen Individual-Kunst erhoben, die Absurditäten der Gesellschaft in bissigen Ensemble-Komödien vorzuführen, natürlich verzichtet sie da auch mal auf die Last der Verantwortung, besinnt sich auf ihre Schauspielwurzeln und tritt in einer Rolle auf, die im Ansatz auch in einem ihrer Regiearbeiten oder der Drehbücher, die sie über die Jahre mit Jean-Pierre Bacri schrieb, auftauchen könnte.

Hier spielt sie die Familienmutter Isabelle, eine »bourgeoise engagée«, die am liebsten allen irgendwie benachteiligten Menschen helfen würde (ein bisschen wie Senta Berger in Willkommen bei den Hartmanns), wobei es ihr aber immer mal wieder passiert, dass sie die eigene Familie darüber beeinträchtigt («Rettet euch ein Stück Kuchen, sonst geht der in die Volksküche!»). Da die aber ihre hehren Ziele nicht bis zum gleichen Extrem verfolgen, gibt es Zwietracht.

Ein besonderes Pulverfass dabei ist, dass Isabelles Mann Ajdin (Tim Seyfi), den sie einst auch als Flüchtling rettete, sich inzwischen - mittlerweile fest in der französischen Gesellschaft verwurzelt - zunehmend nicht als gleich gewichteter Partner fühlt, sondern wie eine Art charity case, der zum »Dauerzustand« wurde (ich überspitze das Problem, aber es nagt schon sehr an ihm, während sie das Problem kaum wahrnimmt und sich die beiden zu entfremden drohen).

Bei der gemeinsamen Paartherapie nennt sie ihn etwa mal »mein schöner Flüchtling« - Isabelle lässt schon kaum ein Fettnäpfchen aus, aber Agnès Jaoui schafft es dabei, die Figur liebenswert zu erhalten - was schon ein gewisser Drahtseilakt ist, an dem andere Darstellerinnen vermutlich hätten scheitern können.

Neben den distinkten Problemen der Teenager-Kinder geht es im Film aber auch - eigentlich als Haupthandlung, was die reine screentime angeht - um eine Art Volkshochschulkurs voller Migranten, um den sich Isabelle kümmert. Etwa ein Dutzend sehr unterschiedlicher Figuren aus aller Herren Länder - auch eine waschechte Französin ist dabei - für deren persönliche Vorstellung der Film sich erstaunlich viel Zeit nimmt (und das meine ich positiv!).

Auch wenn man sich Klischeefiguren wie die »bulgarische Schlampe« (vergleichsweise subtil vermittelt) nicht verkneifen konnte. Während Isabelle mit ihrer Gruppe und ihrem Boss viele Probleme hat und dann auch noch die erschreckend korrekte Deutsche (!) Elke als pädagogische Konkurrenz auftaucht (sie hat einen Master in Analphabetismus an der Sorbonne gemacht), wird der Film aufgehängt an Isabelles Idee, zusammen mit einem ziemlich erfolglosen Fahrlehrer (erinnerte mich in nicht geringem Maße an Eddie Marsans Rolle in Happy-Go-Lucky) einen gemeinsamen Kurs aufzubauen, bei dem die Kursteilnehmer dann nebenbei auch gleich noch den Führerschein machen können.

Dieser nicht geringe Fundus an Aufgabenstellungen und möglichen Konflikten (es gibt noch mehr!) führt dann auch zu einer Menge amüsanter Situationen, die man aber mit verstreichender Lauflänge etwas sehr auf die Spitze treibt, bis man dann in typischer Komödienmanier gegen Ende doch schnurstracks in Richtung Happy End marschiert, was in seiner Unterschiedlichkeit unnötig stark an der Authentizität und Glaubwürdigkeit des Films zerrt.

Ein animierter Alptraum mit Verkehrsschildern und manche Montagesequenz mit kleinen Sparwitzen im Stakkato-Tempo führten weiterhin dazu, dass der Film sein volles Potential nicht erreichen konnte und ich mich dann im Nachhinein doch gefragt habe, wie viel mehr Jaoui daraus gemacht hätte, wenn sie selbst federführend gewesen wäre.

Aber ich gönne ihr die »Verschnaufpause«. Und hoffe, dass sie sich nicht über die selben Szenen geärgert hat wie ich...


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  La Gomera (Corneliu Porumboiu)

La Gomera
(Corneliu Porumboiu)

Rumänien / Frankreich / Deutschland 2019, Intern. Titel: The Whistlers, Buch: Corneliu Porumboiu, Kamera: Tudor Mircea, Schnitt: Roxana Szel, Kostüme: Dana Paparuz, Szenenbild: Simona Paduretu, mit Vlad Ivanov (Cristi), Catrinel Marlon (Gilda), Rodica Lazar (Magda), Sabin Tambrea (Zsolt), Antonio Buil (Kiko), Agustí Villaronga (Paco), George Pistereanu (Alin), Julieta Szonyi (Cristis Mutter), Cristobal Pinto (Carlito), Kico Correa (Felipe), David Agranov (Denis), Andrei Popescu (Liviu), Ioan Coman (Pater Daniel), 98 Min., Kinostart: 13. Februar 2020

Corneliu Porumboiu ist aktuell vermutlich der bekannteste rumänische Filmregisseur und hat sich - nicht zuletzt durch seine Starrköpfigkeit - eine Menge credibility auf internationalen Festivals erarbeitet. Schon sein zweiter Langfilm Politist, Adjectiv (2009) machte international viel Furore, für mich persönlich prägend waren jedoch seine zwei seltsamen »Fußball-Dokumentationen« Al doilea joc (2014) und Fotbal infinit (2018), die beide im Forum liefen.

Gerade in Al doilea joc / Das zweite Spiel, wo er sich zusammen mit seinem Vater, einem ehemaligen Schiedsrichter, ein politisch brisantes altes Fußballspiel anschaut (und der Zuschauer durchgehend nur den vergrisselten alte Live-Mitschnitt des Spiels zu sehen bekommt), sperrt er sich gegen Konzepte, was man von einem Film zu erwarten hat, faszinierte damals aber zumindest durch die persönliche Perspektive auf politische Nebenschauplätze.

In La Gomera dekonstruiert er jetzt genüsslich den Kriminalfilm. Der Polizist Cristi steht zwischen den Fronten und wird von verschiedenen Parteien überwacht. Bevor er sich nach La Gomera, »die Perle der kanarischen Inseln« aufmacht, täuscht er in einem mit Kameras überwachten Raum eine Beziehung mit Gilda vor (man pimpert für die Kameras), die offenbar zu gewissen Gefühlen führt.

Auf La Gomera lernt er dann die Pfeifsprache El Silbo, mit der man später geheim kommunizieren will. Da ein Großteil der Handlung ungefähr so viel Sinn ergibt wie ein Jerry-Cotton-Roman (alles Vorurteile, habe nie einen gelesen), und man den Film meines Erachtens entweder intuitiv erleben muss - oder sich gleich ganz darauf konstruiert, wie er Genreklischees auseinander nimmt, macht es wenig Sinn zu versuchen, die Handlung nachzuerzählen.

Der letzte Satz aus dem »Kurzinhalt« im Presseheft demonstriert auch sehr schön, was mich an dem Film immens frustriert hat: »Doch alle Beteiligten spielen ein doppeltes Spiel und bald geraten die Ereignisse außer Kontrolle.«

Das Problem hierbei: selten hat ein Kriminalfilm einem so wenig Gelegenheit gegeben, sich auch nur für irgendeine der Figuren zu interessieren. Wenn alle ein doppeltes Spiel spielen, fällt es besonders schwer, die vermeintlichen Gefühle auszuloten (seit Urzeiten belegte Rollennamen wie Gilda erleichtern dies auch nicht), und wenn dann irgendwann der Bodycount hochgefahren wird, wird auch das Handlungskonzept narrativ dekonstruiert.

Zwischenzeitig gibt es einige Momente, die entweder innerhalb des Genrekonzepts überzeugen (der Motelinhaber inkl. überhöhter Hitchcock-Hommage) oder zumindest amüsant das ganze Filmkonzept hinterfragen (der Location-Scout). Obligatorisch wirken die Filmausschnitte bei konspirativen Treffen in Kinosälen (John Fords The Searchers und ein rumänischer Krimi, der den Regisseur stark beeindruckt zu haben scheint), denen dann entsprechende Szenen Folgen (ein abgedrehter Showdown in einer Studio-Westernstadt).

An nahezu jeder Stelle des Films kann man mit Leichtigkeit einen Subtext ausmachen, wenn auch nicht immer entschlüsseln, auch in das Musik-Konzept (prominent eingebaut: Iggy Pop und Ute Lemper) wurde wohl viel investiert, aber genau so einfach fällt es einem als Betrachter, diesen Film in der Luft zu zerreißen, wenn beispielsweise das zentrale Motiv, per Pfeifsprache »Stille Post« über den Dächern der Stadt zu spielen, keiner logischen Überprüfung standhält.

Kino für Menschen, die das Kino lieben - aber durch diesen Film auch dazu gebracht werden können, es zu hassen.


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  Das Vorspiel (Ina Weisse)

Das Vorspiel
(Ina Weisse)

Deutschland 2019, Buch: Daphne Charizani, Ina Weisse, Kamera: Judith Kaufmann, Schnitt: Hansjörg Weißbrich, Kostüme: Petra Kray, Szenenbild: Susanne Hopf, mit Nina Hoss (Anna Bronsky), Simon Abkarian (Philippe Bronsky), Ilja Monti (Alexander Paraskevas), Serafin Mishiev (Jonas Bronsky), Jens Albinus (Christian Wels), Sophie Rois (Frau Köhler), Thomas Thiema (Walter), Winnie Böwe (Alexanders Mutter), Thorsten Merten (Herr Schupelius), Ruth Bickelhaupt (Tante Hilde), 99 Min., Kinostart: 23. Januar 2020

Anna (Nina Hoss) ist Geigenlehrerin mit hohen Ansprüchen an sich selbst, aber auch an ihr Umfeld. Dass sie selbst es als Musikerin nicht so weit geschafft hat, wie sie wollte, gibt sie (mit besten Absichten) weiter an ihren Sohn und einen Geigenschüler, den sie gegen die Ansichten anderer Jurymitglieder bei der Aufnahmeprüfung durchgesetzt hat.

Das Vorspiel ähnelt zum Teil an das Ensemblestück Les bonnes intentiones (Kritik weiter oben), insbesondere, was die Einarbeitung einer im Scheitern begriffenen Beziehung angeht. Anna und ihr Mann Philippe (Simon Abkarian) zerreiben sich an ihren Gemütern, den Ansichten zur Kindererziehung, und Annas Kampf um einen Platz in einem Streichquintett gibt zusätzliches Streitpotential, nicht zuletzt, weil sie nebenbei auch noch eine Affäre mit ihrem Kollegen hat.

Wo man bei Les bonnes intentiones viel Humor aus diesen Situationen schlägt, muss es in einem deutschen Film leider oft alles ungleich fatalistischer ausfallen. Gleichzeitig fallen die Auflösungen der Konflikte oft viel geradliniger aus. Wobei »geradlinig« hier oft mit dem selben Fatalismus durchgespielt wird. Was anderswo arg gebogen wird, bricht hier eher. Das muss ja nicht immer schlechter sein, aber leider fällt es schwer, diese Haneke-Atmosphäre (Paradebeispiel: seine Klavierspielerin, mittlerweile fast zwei Jahrzehnte her) hier wirklich ernst zu nehmen.

Auch in den Filmen von Christian Petzold wird Nina Hoss ja gerne in solchen überhöhten Rollen besetzt, und man merkt ihr auch an, dass sie eine entsprechende Intensität einbringt. Nur muss das Drehbuch dann die entsprechende Fallhöhe bieten, und daran mangelt es.

Es gibt zwar viele gut beobachtete, gut gespielte und auch gut geschriebene Szenen in dem Film, aber als Ganzes fehlt einfach etwas Entscheidendes, manche Momente wie der Streit mit dem Großvater, wirken dann wieder over-the-top und küchenpsychologisch, mich persönlich (ich habe Musiker als Nachbarn) nervte auch tierisch, wie oft Anna immer mitten in der Nacht übte. Gibt visuell vermutlich mehr her, aber man hatte keineswegs das Gefühl, dass sie am Tag nicht genügend Zeit dafür gehabt hätte.

Ich will's diesmal mal kurz machen, selbst, wenn ich ungerecht werden muss, damit die Pointe sitzt. Früh im Film besuchen Anna und Philippe mal ein Restaurant, wo vorgeführt wird, wie viele Extrawünsche Anna so äußert. Das Beste an der Szene: ein Kellner, der die besten Textzeilen zugeschachert bekommt (»Was heißt empfehlen? Bis jetzt hat sie noch jeder aufgegessen.«) Im Zuge seiner Bemühungen, den Wünschen seiner Gäste gerecht zu werden, gibt er auch folgenden Ratschlag: »Trinken sie gerne Weißwein?« - (Zwischenantwort: Ja) - »Dann nehmen sie lieber die Apfelschorle.«

Das entsprechende Äquivalent des Kritikers muss da natürlich mit der Frage »Lieben sie Kino?« beginnen...


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  Congo Murder (Marius Holst)

Congo Murder
(Marius Holst)

Originaltitel: Mordene i Kongo, Norwegen / Dänemark / Schweden / Deutschland 2018, Buch: Stephen Uhlander, Nikolaj Frobenius, Kamera: John Andreas Andersen, Schnitt: Olivier Bugge Coutté, Søren B. Ebbe, Vidar Flataukan, Sverrir Kristjánsson, Musik: Johan Söderqvist, Johannes Ringen, mit Tobias Sattelmann (Tjostolv Moland), Aksel Hennie (Joshua French), Ine Jansen (Ane Strom Olsen), Anthony Oseyemi (General Kazumba), Tone Danielsen (Kari Hilde), Dennis Storhoi (Morten Furuholmen), 128 Min., Kinostart: 6. Februar 2020

Ich lehne Synchronfassungen ab, weil selbst bei Sprachen, die ich nicht beherrsche, durch deutsche Sprecher mehr an herkunftsspezifischer Atmosphäre verloren geht als durch den Mehraufwand, den man fürs Lesen von Untertiteln benötigt (und wenn man sich darauf versteht, die Untertitel mehr so »nebenbei« wahrzunehmen, gehen einem auch längst nicht so viele Bildinhalte abhanden wie manche annehmen - allerdings sollte man keine dialoglastigen finnischen Komödien aus der ersten Reihe schauen - davon habe ich viel gelernt).

Im Jahr 2019 habe ich zwei Filme in Synchro gesehen (ich rede hier von Kinobesuchen, beim Fernsehprogramm wird einem ja nur selten überhaupt die Wahl gelassen, weil da das Publikum noch älter und phlegmatischer ist). Das eine war ein Animationsfilm von den Lauenstein-Brüdern, bei dem die deutsche und englischsprachige Fassung ziemlich parallel entstanden, u.U. gibt es da keine wirkliche »Originalfassung«. Der andere Film war einer, zu dem ich eine Begleitung schon eingeladen hatte, bevor ich genau wusste, welche Fassung gezeigt wird. Und deshalb habe ich dann mal eine Ausnahme gemacht. Der Film hat davon in meiner Bewertung nicht profitiert, aber ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, ob ich ihn im Original so viel besser gefunden hätte.

Weil ich mittlerweile was für meine Rentenversorgung machen muss und einen Brotjob habe, verpasse ich mitunter viele Pressevorführungen, aber 2019 gab es auch viele Filme, die ich wegen Synchro-PV konsequent boykottiert habe. Beispielsweise folgende [nur eine Auswahl von Filmen, die ich mir unter günstigen Umständen gerne angesehen hätte]: Au poste!, La belle époque, Boy Erased, Breakthrough, Escher: Het oneindige Zoeken, Hellboy - Call of Darkness, The Hustle, I am Mother (2x in Synchro gezeigt), Kursk (2x Synchro), Last Christmas, Mercy, The Silence, Smuggling Hendrix, Terminator: Dark Fate und Yesterday, sowie aus meiner sehr favorisierten, aber schlimm mit Synchros abgestraften Kategorie Animationsfilme u.a. Abominable, The Addams Family, How to Train Dragons 3, The Lego Movie: The Second Part, The Secret Life of Pets 2, UglyDolls und Dayu haitang [letzterer wurde drei mal gezeigt, jedes Mal in Synchro... WTF?].

Bei Mordene i Kongo muss ich zugeben, dass ich mir die Einladung wohl nicht aufmerksam genug durchgelesen habe und durch die Synchro überrascht wurde. Oft verlasse ich dann demonstrativ das Kino (insbesondere, wenn man das Original ankündigt und dann einfach was anderes zeigt), aber in diesem Fall sah ich nach kurzer Rücksprache mit dem Sitzpartner auch eine Teilschuld bei mir und außerdem hätte ich dann knapp zweieinhalb Stunden bis zum nächsten Termin totschlagen müssen und, was man diesen Winter nur selten sagen konnte, es war kalt draußen.

Also biss ich in den sauren Apfel und schrieb zunächst mal ganze Passagen von »Erklärungstexten« mit, die vermutlich auch als Untertitel seltsam gewirkt hätten, aber auf Deutsch eingesprochen schon gleich so richtig abtörnten.

»Es gibt Männer, die haben eine Tendenz zu Gewalt. Nicht, dass sie Frauen schlagen oder nicht die Kontrolle behalten können. Ich meine Männer, die einen Beruf haben, der mit Abenteuer zusammenhängt.«
...
»Du kannst Leute umbringen und trotzdem okay sein.«

Die sich im Kontext des Films schnell aus diesen beiden Statements ergebende Kernaussage: Die Arbeit als Söldner ist ein Abenteuer.

Auf Grund dieser Basis wird jetzt ein echtes »Männer-Abenteuer« geschildert, bei dem es um den in Norwegen heftig diskutierten »Kongo-Fall« geht, eine wahre Begebenheit, bei der zwei junge Norweger die Landesgrenze im Ost-Kongo überqueren und im Knast landen, weil ein von ihnen engagierter Chauffeur erschossen wurde.

Ich bin mir nicht sicher, inwiefern der genaue Verlauf des Verbrechens inzwischen als erwiesen bezeichnet werden kann, die vermeintlichen Filmhelden wollten jedenfalls einen Söldnerjob ausführen, und im Verlauf des Films, der ihre Perspektive einnimmt, den Todesfall aber in unterschiedlichen Versionen visualisiert, nahmen sie für mich nie die Rolle von Identifikationsfiguren ein, denn für mich muss man für ein Abenteuer, so wird es ja impliziert, kein gewalttätiger Mörderer sein. Man kann ja auch einen Berg besteigen oder mit einem Segelboot einen Ozean überqueren.

Ein Detail, dass es mir zusätzlich erschwerte, in den Film »hineinzukommen«: Während man die Gespräche auf Norwegisch ins Deutsche übersetzt hat, gab es bei Dialogen auf Englisch oder in afrikanischen Landessprachen meist Untertitel. Und einer der beiden Hauptdarsteller erhielt eine Synchronstimme, die sich meilenweit von seiner Stimme bei englischen Sätzen unterscheidet. Wohlgemerkt geht es hier nicht um Jahrzehnte lang etablierte Synchronsprecher, die sich bei unerwarteten Gesangspassagen von meinethalben Meryl Streep oder Tom Hanks mit einem Problem konfrontiert sehen, sondern um vergleichsweise unbekanntere Darsteller, bei denen nicht gleich Heerscharen deutscher Fans Zeter und Mordio schreien, wenn man sich für einen anderen Synchronsprecher entscheidet. Kann ich einfach komplett nicht nachvollziehen, wie man hier vorgegangen ist.

Ohne Einbindung ließ ich den Film eher so an mir vorbeiziehen. Es folgen dann mehrere erstaunlich lockere Knastjahre, dann dreht einer der Knaben durch, und bei den hochpolitischen Verhandlungen um die Zurückführung der norwegischen Landsmänner sowie seltsamen Gerichtsverhandlungen soll sich laut Presseheft das jeweils »tiefste Innerste« der beiden Angeklagten offenbaren. Ich als etwas unwirscher Zuschauer wurde dabei aber nicht eingeweiht. Und es hat mich ja auch relativ schnell nicht mehr wirklich interessiert.

Ich konnte zwar trotzdem einige Parallelen des Films zu Joseph Conrads Heart of Darkness sehen (wo man auch nicht immer 1:1 nachvollziehen kann, warum bestimmte Figuren wie agieren), aber mein Fazit bei dem Film ist, dass man sich vermutlich umfassend mit dem realen Fall befasst haben muss, um dann der angebotenen Handlungsversion etwas abgewinnen zu können.

Übrigens: es passiert öfters mal, dass bei den Stabangaben im Presseheft die Montage weggelassen wird, obwohl es die filmimmanente, das Besondere des Mediums ausmachende neue Einzeldisziplin ist. Das ist aus der Perspektive eines Filmfreundes kaum zu entschuldigen. Wenn sich dann aber herausstellt, dass es gleich vier Cutter gab, was oft ein Hinweis darauf ist, dass man verzweifelt versucht hat, den Film zu retten (der von mir zu Beginn beschriebene Voice-Over-Kommentar muss ja auch nicht immer schon so im Drehbuch gestanden haben, sondern kann auch eine späte Entscheidung sein, um die seltsame Kombination »Suche nach Abenteuer« / »Neigung zur Gewalt« früh zu etablieren). Dann erklärt sich auch, warum man dieses Detail lieber aus dem Presseheft heraus lässt. Und es zeigt sich: schon ein Minimum an Recherche kann erstaunliches hervorbringen.


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  Der marktgerechte Mensch (Leslie Franke)

Der marktgerechte Mensch
(Leslie Franke)

Deutschland 2020, Regie Äthiopien: Alexander Grasseck, Laura Dean, Buch: Herdolor Lorenz, Kamera: Hermann Lorenz, Stafan Corinth, Felix Nasser, Severin Renke, Christophe Orcand, Edie Laconie, Carmine Grimaldi, Schnitt: Herdolor Lorenz, Leslie Franke, Musik: O'Ton-Studio, Hinrich Dageför, Stefan Wulff, Dramaturgische Beratung: Stefan Corinth, 99 Min., Kinostart: 16. Januar 2020

Heutzutage kann man aufgrund geeigneter Themen zu einem erfolgreichen Dokumentarfilmer aufsteigen, das »Handwerk« spielt eine sehr untergeordnete Rolle. Leslie Franke und Herdolor Lorenz hatten vor diesem Film bereits ein Werk mit dem Titel Der marktgerechte Patient erstellt, der leicht veränderte Fokus nimmt zwar etwas Brisanz, das Thema gewinnt so aber an Relevanz für ein fast universelles Zielpublikum.

Ob H&M-Angestellte, Pizza-Kuriere, wissenschaftliche Mitarbeiter, Crowdworker - auf dem heutigen Arbeitsmarkt werden gerade im Dumping-Lohnbereich viele Menschen ausgenutzt, wie auch zu Beginn des Films teilweise überzeugend vorgeführt wird.

Das ist durchaus interessant und auch selbst in meiner eigenen Arbeitswelt (sei es der Journalismus oder das Fundraising) von hoher Relevanz.

Doch die Art und Weise, wie das hier aufbereitet wird, ist schlichtweg unterirdisch. Zunächst mal verliert der Film rein dramaturgisch und thematisch immer stärker die Konsistenz. Wenn es in der zweiten Hälfte um eine Sport-App geht, die die Menschen ähnlich wie der Arbeitsmarkt mit Algorithmen an seine Grenzen führt, ist noch ansatzweise ein Bezug gegeben, wenn aber eine »Erfolgsautorin« ihr Prinzip »Heirate dich selbst« vorführt - und dabei vor allem die Protagonisten des Films vorgeführt werden, hat das zwar den Unterhaltungswert einer absurden RTL-Castingshow, aber mit dem Thema des Films gar nichts mehr zu tun.

Füllmaterial gibt es generell eine Menge. Alles, was irgendwie vage die Problematik vor Augen führen kann und billig als Bildmaterial generiert werden kann, wird benutzt: pixelige Ausschnitte aus dem Werbefernsehen, Archivaufnahmen oder sogar zwei vermeintliche Symbolkraft ausdrückende Aufnahmen von Zigarettenkippen und einem Kronkorken, die wohl für die Wegwerfgesellschaft stehen sollen.

Und immer wieder ein fetter Klatsch Musiksauce, die man womöglich als »generisches Doku-Geklimper« irgendwo runterladen kann.

Als visuellen Zusammenhalt nutzt man immer wieder Aufnahmen von einer Kunstaktion, die im Zusammenhang mit einem G20-Gipfel 2017 entstand. Unzählige ausgemerkelt wirkende Statisten mit darstellerischem Basistalent stolpern wie Zeitlupe-Zombies in grauen Pappmaché-Anzügen durch Straßenzüge, ehe sich irgendwann von ihrer grauen Bekleidung befreien und darunter ziemlich bunt und quasi »befreit« sind. Hat aber im Kern auch wenig mit dem eigentlichen Thema zu tun, alles wird in einen Topf geschmissen und ein bisschen umgerührt.

Was mich als Filmwissenschaftler mit gewissen Ansprüchen an Dokumentarfilme besonders nervte: immer wieder benutzte man Greenscreen-Hintergründe bei den interviewten Protagonisten. Wenn ein Arzt im weißen Kittel vor dahintergeschalteten Krankenhausfluren auftritt, mag das noch mit komplizierten Drehvorschriften zusammenhängen, aber wenn eine ehemalige Arbeiterin aus einem Containerhafen vor einem Quasi-Arbeitsplatz mit Aktenordnern und einem Kaffeebecher gezeigt wird, grenzt das schon an Irreführung des (unaufmerksamen) Betrachters.

Mit dem selben Prinzip nutzt man etwa ein Standbild von Nähmaschinen oder eine Wand mit unscharfen Kinderbildern, die für die Kompetenz eines interviewten Professors stehen soll.

Zugegeben, das sind ganz persönliche Antipathien, die ein Großteil des Publikums gar nicht als »Problem« wahrnehmen wird, aber für mich hat ein Dokumentarfilm einfach damit zusammen, dass auf wissenschaftliche Weise wie in der Geschichtswissenschaft Quellenstudium geleistet werden soll. Heutzutage werden diese Quellen aber immer mehr gefälscht (etwa durch animierte Fotos), und diese Tendenz, das Publikum zu »unterhalten« und sich dabei gewollt von den zu dokumentierenden Quellen zu entfernen, nervt mich tierisch.

Wobei diese aus Appetithäppchen zusammengeschnittenen Themen-Anthologien (teilweise von komplett anderen Teams gedreht) aber noch das schlimmere Übel sind. Und das Schlimmste dabei: diese Art von Infotainment ist offenbar erfolgreicher als das, was ich präferiere - und das ganze Doku-»Genre« scheint sich daran zu orientieren.


Demnächst in Cinemania 208:
Ein bisschen Berlinale, geplant sind: Death of Nintendo (Raya Martin, Generation Kplus), Los Lobos (Samuel Kishi Leopo, Generation Kplus), Paradise Drifters (Mees Pejnenburg, Generation 14plus), Ruby Gentry (King Vidor, Retrospektive), Sune - Best Man (Jon Holmberg, Generation Kplus) und Sweet Thing (Alexandre Rockwell, Generation Kplus).