Jüdisches
Filmfestival
Berlin Brandenburg
(8.-17. September 2019)
Mit nicht geringem Stolz berichtet Festivalleiterin Nicola Galliner davon, dass das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg in diesem Jahr 50 Filme in 14 verschiedenen Spielstätten vorführen wird. Bei den bescheidenen Anfängen vor 25 Jahren waren es nur acht Filme in einem Kino.
Dass die Wucherung bis nach Brandenburg faktisch auch bedeutet, dass man sich hier und da entscheiden muss und ggfs. Reisewege auf sich nehmen muss, wo man einst fast im Kino sitzen bleiben konnte und das gesamte Angebot an sich vorbei rieseln lassen konnte, wird nicht thematisiert. Offenbar will man weg von einem Spartenprogramm und stattdessen mehr Außenwirkung erreichen. Und das nicht nur in der vergleichsweise aufgeschlossenen Bundeshauptstadt.
(Ich habe aber das Programm eingehend genug studiert, um konstatieren zu können, dass bis auf die Eröffnungsgala in Potsdam in den Brandenburger Spielstätten nur ältere Dokumentarfilme wiederaufgeführt werden und der bald seinen regulären Kinostart feiernde Frau Stern herumgereicht wird.)
Die vier Filme, die vorab der Presse präsentiert wurden (beim unangekündigten Kurzfilme habe ich den Anfang verpasst), waren durch die Bank interessant, und normalerweise halte ich mich auch an das ungeschriebene Gesetz, positiv über das Festival zu berichten, doch diesmal muss ich auch mal meinen Frust über ein Detail loswerden, das für normale Festivalbesucher keinerlei Bedeutung spielt.
Wenn man den nicht geringen Aufwand bedenkt, mit dem die Pressemokel umgarnt wurden, hätte ich es ungleich cleverer gefunden, wenn man bei der betreuenden Presseagentur auf Anfrage auch mal Bildmaterial zu den der Presse bekannten Filmen erhalten hätte. Im üppig gestalteten Presseheft gab es zu jedem Film ein Bild, meine Aufgabe bei der Berichterstattung wurde aber quasi sabotiert, denn ich berichte bevorzugt, über Filme, die ich auch gesehen habe, statt nur abzuspulen, was alles »auch interessant sein soll«. Und somit verzichte ich diesmal auf Bildmaterial, abgesehen vom Festivalplakat, das zwar hübsch bunt ist und eine »Festivalpatin« namens Shani Leiderman zeigt, die mir zuvor komplett unbekannt war.
Falls sich meine Leserschaft durch die geballte Textwucht abgeschreckt fühlt, tut es mir leid. Aber ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, die Versäumnisse anderer Stellen auszugleichen. Vielleicht hätte ich die üppigen und gutschmeckenden Brötchen, die man zwischen den Vorführungen reichte, ablichten sollen. Aber ich führe halt keinen Foodblog, sondern schreibe über Filme.
◊ ◊ ◊
Fig Tree
(Aäläm-Wärque Davidian)
Israel / Frankreich / Äthiopien / Deutschland 2018, Buch: Aäläm-Wärque Davidian, Kamera: Daniel Miller, Schnitt: Arik Leibovitch, Kostüme: Marine Galliano, Production Design: Dani Avshalom, mit Betalehem Asmamawe (Mina), Yohanes Muse (Eli), Rodas Gizaw, Mitiku Haylu, Mareta Getachew, Weyenshiet Belachew, 93 Min.
Vorführung am Donnerstag, den 12.9., um 19 Uhr im Delphi Lux
Bei Fig Tree fand ich persönlich eine Einstellung am interessantesten, die vermutlich mal wieder niemandem besonders auffallen wird. Gerade am Vortag wurde bei meiner Bezahltätigkeit thematisiert, wie schwer es in manchen Gebieten von Äthiopien ist, unbeschadetes Trinkwasser zu bekommen. Im Film beugt sich die Hauptfigur Mina über einen Bach, die Kamera fixiert quasi ihren Hinterkopf, und es wird über Geräusche impliziert, dass sie aus dem Bach trinkt. Da man aber das Wasser links und rechts von ihrem Kopf sieht und der Bach sich durch eine gewisse Strömung auszeichnet, kann man bei einer gewissen Aufmerksamkeit für Details erkennen, dass Minas Lippen offensichtlich nicht die Wasseroberfläche stören, denn die Verwirbelungen würde man dann sehen. Aus nachvollziehbaren Gründen also eine Art Spezialeffekt, den kaum jemand wahrnehmen wird.
In meiner eigenen bescheidenen Karriere als Filmemacher habe ich übrigens mal einen ähnlichen Trick angewandt. In der zehnten Klasse spielte ich in einem Kurzfilm den reichen »Ferdinand Kaufhalle«, der im Verlauf der Handlung eine gewisse »Gabi Kleingeld« ehelicht (man beachte die immens subtil erdachten Rollennamen!). Da ich nicht darauf versessen war, mit meiner Darsteller-Kollegin rumzuknutschen, kam ich auf die Idee, bei der Hochzeitszeremonie die Kamera so aufzustellen, dass man diesen Moment aus der subjektiven Sicht des Pfarrers sieht, über den Rand seiner aufgeschlagenen Bibel hinweg. Und als der dann sagt »Ihr dürft euch jetzt küssen«, wird die Bibel etwas angehoben und die harmlose Form der Zensur hat mich »gerettet«. (Grüße an Birgit Müller, die sich vermutlich ähnlich »gerettet« fühlte...)
Das kleine biographische Zwischenspiel kann ich übrigens insofern für meine Filmkritik ausschlachten, dass der »kirchliche Hintergrund« unseres Schulprojekts in meinen Augen weitaus deutlicher herausgearbeitet wurde (auch, wenn wir uns kein Stück darum gekümmert haben) als in Fig Tree das scheinbar hochwichtige Detail, dass die 16jährige Mina Jüdin ist. Man sieht zwar hin und wieder, dass sie an einer Kette einen kleinen Davidstern trägt, aber ansonsten spielt dieses Detail abgesehen von einigen Anfeindungen, deren Gründe man auch eher intuitiv aus dem Kontext erschließen muss, keinerlei Rolle für ihr tägliches Leben.
Bis zu dem Zeitpunkt, als der Bürgerkrieg 1989 ausbricht und Minas Familie, vor allem aber ihr Freund Eli in die Feindseligkeiten hineingezogen zu drohen werden (man wohnt etwas außerhalb von Addis Abeba). Die Zusammenhänge in Minas Familie, mit dem angenommenen Kind einer Nachbarin und einer nach Israel gegangenen Mutter, sind - zumindest für ein westliches Publikum - relativ schwierig auseinanderzuklamüsern.
Weil beispielsweise die Teenager-Freundschaft / -Liebe zwischen Mina und Eli unglaublich harmlos und platonisch vonstatten geht, nahm ich längere Zeit, es könne sich bei den beiden, die oft in der Nähe eines Feigenbaums abhängen, um Geschwister oder Halbgeschwister handeln. Der titelgebende Fig Tree wird auch zum Schauplatz der wohl dramatischsten Szene, weil sich unterhalb des Baums ein alter Kriegsversehrter erhängen wollte (wie so vieles in dem Film sind die Sachverhalte lange Zeit nicht klar). Minas Bruder (oder Halbbruder?) Retta war auch mal in einem Krieg, hatte einen Arm eingebüßt, würde aber sofort wieder zurück zum Militär gehen.
Eli indes schwebt in der Gefahr, einfach zum Kriegsdienst »gekidnappt« zu werden, und weil Minas Großmutter mit der Familie nach Israel fliehen will, möchte Mina am besten möglichst schnell für Eli ein jüdische Familie finden, die den »Christen« adoptiert, so dass er mit ihr zusammen fliehen könnte.
Naive Vorstellungen und eine teilweise auch naive Inszenierung kollidieren mit der harten Realität des Krieges, die aber eher im Hintergrund vonstatten geht. Die Filmemacherin, die hier ihr Langfilmdebüt vorlegt, verarbeitete ihre eigenen Erfahrungen, vermutlich erkennt man, wenn man stärker mit den Grundfesten der Situation vertraut ist, dass sie absichtlich ihren »jugendlichen« Blick auf die komplizierten Zusammenhänge reflektiert (allerdings macht es auch schon einen Riesenunterschied, ob die Protagonistin wie im Film 16 ist oder wie in der Biografie der Filmemacherin nur elf Jahre alt - dann versteht man auch einfacher, wie stark das Band zwischen Mina und Eli ist). Doch wie hier teilweise in anderthalb angerissenen Szenen Prinzipien von Minas täglichem Leben mehr verschleiert als verdeutlicht werden, trägt nicht zum Verständnis einer im Kern recht simplen Geschichte bei.
Ich kann verstehen, dass die zahlreich vorhandenen Produzenten aus mehreren Ländern der Stimme der Regisseurin Raum geben wollten, sich eigenständig zu entwickeln, aber in den allermeisten Fällen haben Filme, deren Handlung man sich erst im Nachhinein zusammenbasteln muss, einen klaren Vorteil, ein Publikum zu erreichen.
Die Kameraarbeit von Daniel Miller (bilde mir ein, diesen Namen schon mal in dieser Funktion gesehen zu haben) wird oft grob, hat aber eine unzuverleugnende Schönheit beim Einfangen einer ganz anderen Welt. Leider wird es aber etwas übertrieben, wenn es um die wacklige Handkamera in »ungestümen« Szenen geht - das wirkt mitunter etwas überzogen, zu sehr auf der Suche nach einem exotischen Arthouse-Look.
◊ ◊ ◊
The Last Resort
(Dennis Scholl & Kareem Tabsch)
USA 2018, Kamera: Joey Daoud, Schnitt: Kareem Tabsch, Joey Daoud, mit Gary Monroe, Edna Buchanan, Susan Gladstone, Stan Hughes, Mitchell Kaplan, Ellen Sweet Moss, Kelly Reichardt, 70 Min.
Vorführung am Freitag, den 13.9., um 18 Uhr im filmkunst66
In dieser Doku geht es um die Fotografen Andy Sweet und Gary Monroe, die mit sehr unterschiedlicher ästhetischer Herangehensweise in den 1970ern die jüdische Rentner-community vom South Beach von Miami zu ihrem Thema machten. Der schon länger verstorbene Andy Sweet arbeitete mit knalligen Farben und eher intuitiv, während der im Film interviewte Gary Monroe die artifizieller wirkende Schwarzweiß-Fotografie bevorzugte und sich immer viel um die Kadrierung kümmerte.
Andy Sweet wurde aber zum mittlerweile fast vergessenen Liebling der Kunstszene und der Film benutzt eine gemeinsame Ausstellung der beiden Künstler, um (mit viel altem Material) eine verlorene Welt wiederzubeleben.
Erstaunlich gut klappt dabei die Kombination an die historische Herangehensweise an die Zeitperiode, als das Aushilfs-Las-Vegas am sonnigen Meer von lebenshungrigen Rentner (»What do you do for fun?« - »Nothing. I sit on the porch.«) geradezu überfallen wurde. Und die Auseinandersetzung mit dem fotografischen Werk, wobei auch die Wiederentdeckung der größtenteils als verschollen geltenden Fotos von Sweet eine Rolle spielen in dieser ganz individuellen Narration.
Ich habe so meine ganz speziellen Vorlieben im Bereich Dokumentarfilm (Sachbücher mit bewegten Bildern reichen mir nicht, mir ist das Medium Film mit seinen eigenen Merkmalen wichtiger als nur eine Geschichte, die man womöglich mit anderen Mitteln viel besser hätte erzählen können) und habe auch einen gewissen Anspruch an die möglichst unverfälschte Dokumentation, den Respekt vor dem Quellmaterial. Leider ist es seit dem Boom der Dokus, die ganze Spartensender bevölkern, immer mehr zum Standard geworden, dass bloßes Fotomaterial einigen Zuschauern nicht zu reichen scheint, weshalb man es animiert - und damit in meinen Augen auf völlig überflüssige Weise verfälscht.
In The Last Resort beginnt man auch mit einigen solchen Bildern, die quasi dafür sorgen sollen, die Zuschauer in die Geschichte »hineinzuziehen« (ich gehe gern unvorbereitet in Filme und wusste so gar nicht, was mich erwartet). Doch dann besinnt man sich darauf, dass die Fotos als Kunstform erhalten bleiben müssen, was mir den Film schon mal schnell viel sympathischer machte.
In 70 Minuten gelingt es, zwei Haupthemen, die nicht automatisch jeden Zuschauer ansprechen, fast unmerkbar miteinander verwachsen zu lassen. Und selbst, wenn man sich nie für diese eigentümliche, längst ausgestorbene community interessiert hat, fordern diese einzigartigen Charakterköpfe die Aufmerksamkeit. Man erlebt es selten, dass eine Doku auf solch stimmige Weise nicht irgendwelchen Trends oder »sicher« zu vermarktenden Themen hinterherläuft, sondern sich seine Einzigartigkeit bewahrt und gerade dadurch besticht. Und das klappt ihm Kino ganz sicher besser als wenn man eine Fernbedienung auf dem Schenkel liegen hat und dadurch daran gehindert wird, sich auf diesen Film einzulassen.
Lohnt sich, auch wenn ich als old-school-Purist mich natürlich darüber aufgeregt habe, wie sehr einiges Material übelst verpixelt war, weil es ja immer wieder Leute gibt, die glauben, man müsse alles auf kompatible Formate herunterbrechen.
Der Film hat übrigens auch einen einzigartigen Humor, ob es um Holocaust-Überlebende geht (»Our matchmaker was Adolf Hitler.«) oder um alte Damen und Herren, die aus einem Schlussverkauf ein Spektakel machen, das mit dem Wagenrennen aus Ben Hur mithalten kann (und das damals ganz ohne Rollatoren).
◊ ◊ ◊
To Dust
(Shawn Snyder)
USA 2018, Buch: Jason Begue, Shawn Snyder, Kamera: Xavi Giménez, Schnitt: Allyson C. Johnson, Musik: Ariel Marx, Kostüme: Evren Catlin, Production Design: Ali Jazayeri, Alexandra Kaucher, mit Géza Röhrig (Shmuel), Matthew Broderick (Albert), Sammy Voit (Naftali), Ben Hammer (Rebbe), Natalie Carter (Security Guard), Leo Heller (Noam), Marceline Hugot (Carol), Jill Marie Lawrence (Judy), Larry Owens (Stanley), Isabelle Phillips (Shprintzel), Bern Cohen (Reb Goshen), Andrew Keenan-Bolger (Doctor), Zalman Raksin (Brother-In-Law), Janet Sarno (Faigy), Joseph Siprut (Undertaker), Leanne Michelle Watson (Rivkah), Ziv Zaifman (Moishe), Sarah Jes Austell (Lab Receptionist), Stephanie Kurtzuba (Receptionist), Linda Frieser (Wake Goer), 105 Min.
Vorführungen am Samstag, den 14.9., um 21 Uhr im Delphi Lux
und am Sonntag, den 15.9., um 20 Uhr im Filmtheater am Friedrichshain
Der Witwer (und orthodoxe Kantor) Shmuel (Géza Röhrig aus Son of Saul) offenbart sich seinem Rabbi: »I feel for her, Rebbe, how she suffers now...« Der Rat des Geistlichen ist ihm zu unspezifisch (»I don't know how, but get through these 30 days«) und pragmatisch (»you got two boys to think about«) - und so macht er sich auf den Weg, eigene Recherchen einzuziehen, was genau jetzt mit dem Körper seiner Frau passiert. Denn er ist davon überzeugt, dass die Seele der Verstorbenen erst Ruhe finden kann, wenn sich ihr Körper (vgl. Filmtitel) zersetzt hat.
Ein Bestatter bleibt erst gelassen (»we don't really check up on their progress«), fühlt sich dann aber doch bedrängt (»I'm just a coffin salesman, I'm not a fucking scientist!«).
Ein Wissenschaftler, natürlich! Dummerweise gerät Shmuel an den unsicheren Lehrer Albert (»It's not doctor, just professor!«), der keinerlei Ahnung von Shmuels Religion hat und sich nicht einmal dessen Namen merken kann. Lange war Matthew Broderick nicht mehr so gut, und im weiteren Film geht es vor allem darum, wie aus einem kleinen Gefallen und einem missverstandenen Rat ein gemeinsamer Weg in die Unterwelt wird, mit sich summierenden Straftaten von der illegalen Verscharrung eines Schweinekadavers über den Umgang mit lebendem Anschauungsmaterial und schließlich natürlich versuchtem Leichenraub.
»If you brought me a pig more like your wife - no offense! - and we'd buried her liek a jew - no offense! - we probably would be cooking...«
Langsam, aber unaufhaltsam mäandert diese schwarze Komödie in Richtung immer dunklerer Gefilde... und dass Shmuels halbwüchsige Söhne davon ausgehen, er hätte einen dybbuk gegessen, ist noch die harmloseste Komplikation.
Regisseur Snyder lässt sich kaum eine Pointe entgehen, bleibt aber immer subtil und unterschwellig (auch, wenn das Publikum schnell mal in einen Lachwahn gerät), und die tollen Darsteller sowie der manchmal geniale Soundtrack (u.a. mit Tom Waits und Jethro Tull) sorgen für einen etwas polarisierenden, aber durchweg unterhaltsamen Kinoabend.
Mein Favorit.