Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




12. Februar 2019
Friederike Kapp
& Thomas Vorwerk
für satt.org
Berlinale 2019



Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet (bei mehreren Titeln ist das der erste).


Cinemania-Logo 198:
Berlinale 2019, Teil 2:
Generation plus Polly Jean



◊ ◊ ◊

A Dog called Money (Seamus Murphy, Panorama)

 
Ausstehende Vorführungen:
  • Donnerstag, den 14. Februar
    um 14 Uhr im International
  • Samstag, den 16. Februar
    um 17 Uhr im International
  • Sonntag, den 17. Februar
    um 20 Uhr im CineStar 7


UK / Irland 2019, Buch, Kamera: Seamus Murphy, Schnitt: Sebastian Gollek, mit PJ Harvey, John Parish, Terry Edwards, Mick Harvey, Seamus Murphy, Kenrick Rowe, Flood, James Johnston, Lil Paun, Linton Kwesi Johnston, Mike Smith, Alain Johannes u.v.a., 94 Min. (laut Katalog 90)

[Rezension von Thomas Vorwerk]

Ich könnte mich beinahe als PJ-Harvey-Fan der ersten Stunde bezeichnen (ihr Debüt-Album Dry und ihre Zusammenarbeit mit der Band The Family Cat habe ich mir erst im darauffolgenden Jahr besorgt) und abgesehen von Beck und einigen Bands, in denen Damon Albarn mitwirkt, habe ich wohl keinem Musiker bis heute die Treue gehalten. Bis auf eine Ausnahme (und die unmöglich aufzufindende Demo-Bonus-Disc, die man mittlerweile immerhin auf youtube findet) habe ich jede ihrer Platten auf CD, was heutzutage ja schon etwas Besonderes ist.

Über ihre anderen Aktivitäten, ihre Theaterarbeit und einen Gedichtband habe ich allerdings erst jetzt aus dem Presseheft zu diesem Doku-Projekt erfahren, dass sie gemeinsam mit Fotograf und Filmemacher Seamus Murphy realisierte, der auch schon die Videos zu Let England Shake (2011) beisteuerte.

Um mal die Kerndaten des Films zu liefern: Zusammen mit Murphy besuchte Polly Harvey Kabul, Afghanistan und Washington. »Er hat Bilder gesucht, sie Worte.«

A Dog called Money (Seamus Murphy, Panorama)

© Seamus Murphy

Insbesondere die Reise nach Washington lieferte die Inspirationen zu Pollys letztem Album The Hope Six Demolition Project (das war 2016 tatsächlich die einzige CD, die ich mir das ganze Jahr über gönnte), die Studio-Aufnahmen wurden aber in einem »especially designed room in Somerset« durchgeführt, der als Kunstinstallation interessierten Zuschauern die Möglichkeit eröffnete, die Aufnahmen durch nur in eine Richtung zu durchschauende Spiegel zu beobachten. Eine Art musikalische Peepshow, bei der man auch Songs wie A Dog called Money, Homo Sappy Blues, I'll be waiting, The Boy, The Age of the Dollar oder Sex, Sex, Money vernimmt, die es allesamt nicht auf das fertige Album schafften.

Das beides reicht ja schon als Anreiz, sich den Film anzuschauen, aber zudem sieht man sie auf den Reisen mit Einheimischen jammen und sonstwie interagieren - und ein nicht zu unterschätzender Teil des Films besteht darin, dass Polly im Nachhinein viele Aufnahmen Murphys mit eigens eingesprochenden Texten kommentiert, was wie die Lesung von kleinen Alltagsgedichten wirkt, durch Pollys Stimme einen ganz besonderen Reiz erhält - und mich Zeter und Mordio schimpfen lässt, dass sie dafür nicht wenigstens einen Co-Drehbuch-Credit erhalten hat.

In den Privaträumen eines Kriegsschauspielplatzes resümiert Polly etwa: »these were country people and I'm stepping on their things in my expensive leather sandals«. In Kabul verständigt sie sich mit Händen und Füßen: »London? Me Dorset! South!« (mit einer Handbewegung nach unten, um die Himmelsrichtung in Relation zur britischen Hauptstadt zu erklären).

Polly, die für ihr Album White Chalk (2007) auch mal autodidaktisch das Klavier erkundete, probiert exotische Instrumente aus, macht im Kunstraum klar, dass sie keine Kaffeebecher und Wasserflaschen duldet (»it looks shabby«) und ist einfach nur ein normaler Mensch, nur eben mit ihrer charismatischen Faszination.

Ein PJ-Harvey-Song wird mit Bildern aus Afghanistan unterlegt, ist dabei aber deutlich mehr als ein sich anbiederndes und sein Produkt vermarktendes Musikvideo. In den besten Momenten des Films entsteht etwas wie eine Musikreportage als Äquivalent von Comics von Joe Sacco (Safe Area Gorazde) oder Paula Bulling (Im Land der Frühaufsteher). Oder gar eine »musikalische Cine-Lyrik«. Seit Peter Sempels Dandy hat mich keine essayistische Musik-Doku mehr derart angesprochen, der Film hat - so abgeranzt das auch klingen mag - eine Saite in mir zum Erklingen gebracht (freie Assoziation ist hier ein Muss), was mich daran erinnerte, wie sehr ich einst bei der Rid-of-Me-Tour vor der Bühne abgegangen bin.

Und wäre nicht zum Schluss ein überflüssiges Donald-Trump-Füllsel (quasi die Gegenbewegung zur Hoffnung) zur politischen Standpunktverortung gewesen, hätte ich mir das Ganze auch drei oder vier Stunden lang gebannt angeschaut. Wobei ich aber den Beitrag von Seamus Murphy auch nicht schmälern will, der hier und da auch echte Genialität durchscheinen lässt, wenn etwa eine einzelne Wolke durch den blauen Himmel schneidet wie die Rasierklinge in Un chien andalou. Und Polly evoziert mit einer kleinen Handbewegung das Rudern von Galeerensklaven, das den musikalischen Impetus unterstützt.

Es gibt Texte zu Bildern, Bilder zu Songs, eine Fotoreportage, die zu einem Album wird, das als Happening Teil der Doku wird - die zahlreichen Synergien und Wechselwirkungen sind schon beeindruckend - und den Gedichtband muss ich mir jetzt wohl auch kaufen.

Was mich nur ein wenig wundert: warum hat dieser Film seine Weltpremiere im Jahr 2019, wenn das Album, dessen Vorgeschichte man zum Teil hier erlebt, schon 2016 erschien?


◊ ◊ ◊

Cleo
(Erik Schmitt, Generation Kplus)

 
Ausstehende Vorführungen:
  • Mittwoch, den 13. Februar
    um 15 Uhr 30 im Haus der Kulturen der Welt
  • Freitag, den 15. Februar
    um 9 Uhr 30 im Zoo-Palast 1
  • Sonntag, den 17. Februar
    um 20 Uhr 15 im Cubix 8


Deutschland 2019, Buch: Stefanie Ren, Erik Schmitt, Kamera: Johannes Louis, Schnitt: David J. Rauschning, Musik: Johannes Repka, mit Marleen Lohse (Cleo), Jeremy Mockridge (Paul), Heiko Pinkowski (Günni), Max Mauff (Zille), Gwendolyn Göbel (Cleo als Kind), 99 Min., empfohlen ab 9 Jahren

[Rezension von Thomas Vorwerk]

Kollege Rochus Wolff vom Kinderfilmblog wirkte fast verzückt, als er auf Twitter verkündigte, dass Cleo, der Eröffnungsfilm der diesjährigen Generation Kplus, gerade einen deutschen Verleiher gefunden hat - für mich wirkte es fast befremdlich, dass ein solches Projekt nicht längst schon in der Preproduction abgegriffen wurde. Wo sonst soll man deutsche Filme im Kino zeigen, wenn nicht in Deutschland? Und in Sachen Stadtfilm ist der in Berlin spielende Cleo eine kleine Offenbarung. Titelheldin Cleo, die über Flashback auch die Kinderperspektive bietet, ist gemeinsam mit ihrem Film so verspielt wie einst Tykwers Lola oder Am√©lie und Zazie für die Nachbarhauptstadt Paris..

Der Film beginnt mit einem aufgesetzten Heraklit-Zitat (»Man kann nicht zweimal in den selben Fluss springen«), das dann gemeinsam mit seiner Rolle für den Film karikiert wird. Innerhalb kürzester Zeit folgt dann der viel bessere Einstiegssatz: »Das Besondere an dieser Stadt ist ihre Seele« - die Floskel könnte lapidar oder esoterisch aufgemotzt wirken, würde man nicht direkt im Anschluss ein nicht unbedingt als Kommentar zu verstehendes Geräusch vernehmen, das tatsächlich mit einem schwer zu erklärenden Charme wirklich viel über die Stadt Berlin sagt. In Comics würde man es mit einem von Herzen kommenden »Kotz!« umschreiben.

Bei so einem Einstieg ist man als Wahlberliner besonders empfänglich für den spielerischen Charme des Films. Erik Schmitt soll sich schon mit seinen Kurzfilmen den Titel eines »deutschen Michel Gondry« verdient haben, crowd pleaser Cleo wird dies nur fundamentieren. Ich persönlich hatte ein kleines Problem mit der nicht völlig überzeugenden Chemie zwischen dem Paar Cleo & Paul, einige Elemente der Zeitreise-Schnitzeljagd wirkten wie aus einem Jörg-Buttgereit-Comic, aber so durchweg unterhaltsam wie Cleo waren nur sehr wenige Filme im Generation-Programm (vom Erzähltempo her konnte man sogar einen erklärten Liebling Månelyst i Flåklypa ausstechen).

Cleo (Erik Schmitt, Generation Kplus

© Janine Marold

Selbst die überzogene Security-Dame, die immer mal wieder auftauchte, passte »wie Arsch auf Eimer« in dieses Potpourri von Ideen, dem man abermals einige Kleinigkeiten gern verzeiht. Einfach, weil der Film so einen Spaß macht.

Nur ein Detail will ich hier noch mal kritisch hinterfragen, weil ich zwar in Mathe begabter bin als der Durchschnittmensch, mich es aber dennoch ärgert, wenn man sein Drehbuch nicht ausreichend durchdenkt. Wir werden im Film Zeuge der Umstände von Cleos Geburt, die man ganz klar auf den Herbst 1989 datieren kann. Weil mich und meinen Sitznachbarn solche Details interessierten, behielten wir im Auge, dass Cleo etwa 30 sein muss (oder genauer 29, weil wir 2019 noch keinen Herbst hatten und der Film auch im Sommer spielt). Allerdings erfährt man im Verlauf des Films auch, das Cleo zehn Jahre alt war, als ihr Vater starb (das muss also zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 gewesen sein). Und dass dieses Ereignis mittlerweile 20 Jahre her sei. Nun ist es so, dass man nicht behaupte, man sei zum Zeitpunkt des Todes des Vaters zehn gewesen, wenn man neun oder elf war. Aber bei »zwanzig Jahre her« kann man durchaus mal auf- oder abrunden. Mitrechner und Erbsenzähler Thomas fragte sich also während des Films, ob dieser womöglich sogar in der »Zukunft« (Herbst 2019 bis Herbst 2020) spielt, als ein winziges Detail seine ganzen Zahlenkolonnen in sich zusammenbrechen ließ. Denn bei einem Begräbnis in der »Jetztzeit« des Films (keine Angst, ist nicht so dramatisch, wie es klingen mag) kann man doch tatsächlich auf dem Grabstein zweifelsfrei das Jahr 2017 erkennen, und da durchfuhr mich doch ein WTF, was das gedankenlose Autorenteam angeht. 1989 + 10 + 20 dürften die meisten Drittklässler hinbekommen. So toll der Film ansonsten war, dafür gibt's Nachsitzen!


◊ ◊ ◊

By the Name of Tania
(Bénédicte Liénard, Mary Jiménez, Generation 14plus)

 
Ausstehende Vorführungen:
  • Dienstag, den 12. Februar
    um 20 Uhr 15 im Cubix 8
  • Donnerstag, den 14. Februar
    um 13 Uhr im Zoo-Palast 2
  • Sonntag, den 17. Februar
    um 16 Uhr im CinemaxX 3


Belgien / Niederlande 2019, Buch: Bénédicte Liénard, Mary Jiménez, Kamera: Virginie Surdej, Schnitt: Marie-Hélène Dozo, Sound Design: David Vranken, Ton: Kwinten Van Laethem, Mischung: Peter Warnier, mit Tanit Lidia Coquinche Cenepo (Tania), Ismael Vasquez Colchado (Polizist), Fiorella J. Aguila (Chuya Chaki), Yossimar Vietto Omnia (Ruben), 84 Min.

[Rezension von Friederike Kapp]

»Ich arbeite jeden Tag, und meine Schulden wachsen.«

Sie (Tanit Lidia Coquinche Cenepo) lebt irgendwo in der peruanischen Provinz, mit ihren beiden jüngeren Schwestern und der strengen Großmutter. Als die Großmutter stirbt, wird das Überleben noch schwieriger. Bis eine schöne junge Frau (Fiorella J. Aguila) ins Dorf kommt, die ihr Geld leiht für einen Grabstein und ihr einen Job in einer Bar verspricht. Die 15-Jährige willigt ein, gemeinsam mit anderen besteigt sie ein Boot, einen Bus, ein Motorschiff, das sie zum Ziel bringen soll. Unterwegs nimmt ihr die Werberin erst den Pass und dann das Handy weg. Der Weg in die Prostitution ist beschritten und wird mit kontinuierlich zunehmender, blanker Gewalt erzwungen.

Die lückenlose Erzählung stammt von »Tania« - so heißt sie ab nun - selbst, in Form eines durchgängigen Voice-overs. Gewalt wird nicht gezeigt, nur berichtet. Umso unwirklicher scheinen die Bilder der Kamera. Atemberaubend schöne Flusslandschaften, üppig grüne Natur in intensiven Farben bewegt sich entlang der Ufer. Selbst das schäbige Goldgräberdorf voller Matsch und Staub, wo Tania in einem ärmlichen Puff ihr gequältes Dasein fristet, wirkt kunstvoll komponiert wie eine farblich abgestimmte Designer-Landschaft. Der Kontrast der Bilder lässt die nüchtern vorgetragene Schilderung deutlich hervortreten; er erinnert an eine ganz ähnliche Erzähltechnik in dem Antikriegsfilm The Thin Red Line (dt.: Der schmale Grat) von Terrence Malick (USA 1998).

(Bénédicte Liénard, Mary Jiménez, Generation 14plus)

© Clin d'oeil Films

Wie sich nach und nach Bilder, Sätze, Szenen zu einer narrativen Einheit zusammenfügen, einander ergänzen, wie die Erzählung ihr eigenes Gerüst transparent und zugänglich macht und damit den Zuschauer nur umso tiefer in die Geschichte hineinzieht, das ist meisterlich geplant und ausgeführt. By the Name of Tania ist spannend, eindrucksvoll, sehenswert - und auch für die Generation 14plus unbedingt geeignet. Schließlich sehen die Jugendlichen in unmittelbarer Nähe zu den Spielstätten der Berlinale und andernorts viele »Tanias« täglich bei der Arbeit, auch wenn diese meist aus Osteuropa kommen.


◊ ◊ ◊

Mijn bijzonder rare week met Tess
/ My Extraordinary Summer with Tess
(Steven Wouterlood, Generation Kplus)

 
Ausstehende Vorführungen:
  • Donnerstag, den 14. Februar
    um 13 Uhr 30 im Haus der Kulturen der Welt
  • Freitag, den 15. Februar
    um 15 Uhr 30 im Filmtheater am Friedrichshain


Niederlande / Deutschland 2019, Intern. Titel: My Extraordinary Summer with Tess, Dt. Titel: Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess, Buch: Laura van Dijk, Lit. Vorlage: Anna Woltz, Kamera: Sal Kronenberg, Schnitt: Christine Houbiers, mit Sonny van Utteren (Sam), Josephine Arendsen (Tess), Julian Ras (Jorre), Tjebbo Gerritsma (Gijs), Suzan Boogaerdt (Mara), Jennifer Hoffman (Ida), Johannes Kienast (Hugo), Terence Schreurs (Elise), Hans Dagelet (Hille), Guido Pollemans (Sil), 82 Min., empfohlen ab 9 Jahren

[Rezension von Thomas Vorwerk]

Im Extra-Programmheft zur Generation Kplus stehen neben den Szenenfotos jeweils Zitate (oft winzige Dialogschnipsel) aus den entsprechenden Filmen. In zwei Fällen (Une colonie, Kinder) finden sich Teile dieser Zitate auch in meinen Notizen von der Filmsichtung, nur in einem Fall habe ich das Zitat komplett niedergeschrieben (Where we belong). In Mijn bijzonder rare week met Tess könnte das Zitat jedoch kaum weiter weg sein von dem, was ich so als interessant im Film erachtet habe. Die Weisheit, im Verlauf des Lebens Erinnerungen anzusammeln, ist ja durchaus hilfreich, aber das in einen Bezug zu Überraschungseiern zu bringen, fühlt sich für mich so an, als hätten sich die Gestalter des Programmheftes besonders viel Mühe gegeben zu versuchen, sowohl die Kinder als auch deren Eltern oder Lehrer (die öfters etwas mit der Filmentscheidung zu tun haben) einzuwickeln.

Das hat der Film nicht nötig. Als Langfilm-Regiedebüt und Kinderbuch-Adaption wirkt Tess erstaunlich durchdacht und fast schon routiniert. Als Kritiker sieht man zwar kleine inszenatorische Schwächen, die aber nur detailversessenen Korinthenkackern wie mir auffallen (und ausnahmsweise gehe ich darauf nicht genauer ein).

Mijn bijzonder rare week met Tess / My Extraordinary Summer with Tess (Steven Wouterlood, Generation Kplus)

© Sal Kroonenberg

Obwohl man viele (fast obligatorische) narrative Standards erkennt (der Urlaubsflirt, die Asterix-mäßige Feier am Schluss), hat der Film diese »besonderen« Akzente, die einen an die Geschichte anbinden (ich fand zum Beispiel bei einer Autofahrt den implizierten Blick - von unten, mit der aufgenommenen Bewegung des Autos - auf eine Straßenlaterne, auf der eine Möwe sitzt, ziemlich toll, weil dieses kleine Detail ungeheuer zur Atmosphäre beiträgt).

Was mich ebenfalls besonders angesprochen hat, war der sanfte feministische Anstrich. Die zwölfjährige Tess übernimmt nicht nur den Filmtitel à la My Week with Marilyn, sie bremst in Sachen mysteriöser Faszination die eigentliche Hauptfigur Sam (der auch als Erzähler fungiert) mit Leichtigkeit aus. Während Sam teilweise seine Gedankengänge (z.B. über den Tod, ein Thema, das ihn aktuell beschäftigt) und »Taktiken« als voice-over formuliert, werden er und das Publikum durch Tess immer wieder überrascht, bis sich langsam herausschält, worum es der eigentlich geht (und das werde ich hier auch mit keinem Wort vorwegnehmen).

Und Tess hat bei aller Kindlichkeit diese Selbstbestimmtheit, die aktuell so überpräsent im Medium Film ist wie nie zuvor. Aber hier wirkt sie nicht aufgesetzt oder einer Marketingstrategie geschuldet. Das Drehbuch und die Buchvorlage stammen von Frauen, und die wissen scheinbar genau, wie man Mädchen bestärken kann ohne Jungs auf der Suche nach ihrem Platz im Universum zu beschränken. Und das ist als sanfte politische Botschaft in so einem Kinderfilm extrem erfrischend.

Das vielleicht großartigste Zitat der gesamten Generation (wenn nicht der Berlinale, aber mit zwei oder drei Filmen, die ich außerhalb der Generation gesehen habe, will ich mich nicht erdreisten, so etwas zu behaupten) ist eine humoristische Diagnose einer typischen Männerkrankheit, der »chronischen Anstelleritis« (wenn man nur auf die englischen Untertitel fixiert ist, statt nebenbei ein wenig Niederländisch aufzuschnappen, kann man den Moment schnell verpassen).

Und auf dem Level gibt es durch den Film immer wieder Stellen, die wie ein Diskurs auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern funktionieren. Und zwar so »nebenbei«, dass es vielen Betrachtern kaum auffallen wird. Aber der Subtext verstärkt den Film, ob man es merkt oder nicht. Und dafür übersieht man geflissentlich einige andere Holperer der Geschichte. Die Romanze von Sams älterem Bruder Jorre am Rande wirkt etwa vorhersehbar, hat aber einen gewissen Charme. Die etwas aufgesetzt wirkende Kernerzählung lebt durch die quirligen Figuren auf, und der Beruf von Tess' Mutter wird genial in die Geschichte eingearbeitet. Der Film hat so viele hübsche Details wie den Salsa-Tanzkurs oder Tess' Versuche, den Aufenthalt zweier deutscher Urlauber durch Aktivitäten aufzuwerten, dass der Gesamteindruck so viel gelungener ausfällt und Mijn bijzonder rare week met Tess gerade im Vergleich zu gängigen deutschen Kinderfilmen (insbesondere denen mit größerem Budget) klar die Nase vorn hat.


◊ ◊ ◊

Sune vs. Sune
(Jon Holmberg, Generation Kplus)

 
Ausstehende Vorführungen:
  • Donnerstag, den 14. Februar
    um 12 Uhr 30 im Zoo-Palast 1
  • Sonntag, den 17. Februar
    um 10 Uhr im Haus der Kulturen der Welt


Schweden / Dänemark 2018, Buch: Jon Holmberg, Daniella Mendel Enk, Kamera: Erik Persson, Montage: Fredrik Alneng, Musik: Joel Danell, Andreas Tengblad, Sound Design: Erik Guldager, Ton: Stefan Larsson, Wlodek Morawski, Production Design: Teresa Beale, Kostüme: Sara Pertmann, Maske: Johanna Eliason, Dramaturgische Beratung: Alicia Klang, mit Elis Gerdt (Sune), John Österlund (Neuer Sune), Lily Wahlsteen (Sophie), Baxter Renman (Håkan), Tea Stjärne (Anna), Fredrik Hallgren (Rudolf), Sissela Benn (Karin), Sven Björklund (Tobbe), Shima Niavarani (Mia), Marie Robertson (Gabbi), 84¬†Min.

[Rezension von Friederike Kapp]

»Day by day, nothing seems to change, but pretty soon ... everything's different.«
(Bill Watterson, Eingangszitat)

Sune Andersson (Elis Gerdt) führt ein herrliches Leben. Mit seiner Freundin Sophie (Lily Wahlsteen) und seinem jüngeren Bruder Håkan (Baxter Renman) durchstreift er Wälder, schlägt Ritterschlachten, kämpft gegen Außerirdische, bis, ja, bis die Sommerferien zu Ende sind und ein neues Schuljahr beginnt. In der vierten Klasse sitzt jetzt ein neuer Junge, der denselben Namen trägt. Die Lehrerin erklärt den alteingesessenen Sune kurzerhand zu »Sune 2«. Eine Demütigung. Der neue Sune (John Österlund) gibt an wie zehn Sack Sülze, »Sune 2« fürchtet, bei seinen Mitschülern - vor allem bei Sophie - ins Hintertreffen zu geraten. Seine ungeschickten Versuche, Boden gutzumachen, zeigen leider so deutliche Anzeichen von Missgunst, dass sie Mal um Mal krachend scheitern und er das Gegenteil erreicht.

Seine Eltern (Fredrik Hallgren, Sissela Benn) sind ihm keine Hilfe - sie sind mit ihren eigenen verletzten Eitelkeiten beschäftigt, denn auch des neuen Sune Mutter (Marie Robertson) protzt, dass sich die Balken biegen. Einzig seine große Schwester (Tea Stjärne) lässt gütig den altersweisen Rat ihrer 15 Jahre auf ihn herniederrieseln. Und Håkan glaubt ohnehin mit der unerschütterlichen Siegesgewissheit eines von pubertären Irritationen gänzlich unbelasteten Kindes felsenfest an seinen großen Bruder.

Sune vs. Sune (Jon Holmberg, Generation Kplus)

© Fianna Robijn

Während nun schon die Schwierigkeiten der drei Anderssons situationskomisch, hart an der Grenze zum Slapstick in Szene gesetzt werden, entführen Håkans Spielabenteuer als zusätzliche Comic Relieves die Zuschauer wiederholt in unwirtliche Fantasiewelten voller außerirdischer Gefahren, in denen der Held sich ein ums andere Mal glänzend bewähren kann - eine herrliche Hommage an Bill Watterson, den Schöpfer von Calvin and Hobbes. Jeden Moment meint man, Calvin als Spaceman Spiff aus seinem Raumschiff steigen zu sehen. Sune erkennt jedoch irgendwann, dass er eine eigene Lösung finden muss.

Mit Sune vs. Sune beehrt der jüngste Ausläufer des in Schweden beheimateten »Sune«-Kosmos deutsche Kinos. Anders als vorherige »Sune«-Filme geht das Drehbuch zwar auf die Figuren, nicht jedoch auf eine Vorlage der schwedischen Kinderbuch- und Radioserie von Anders Jacobsson und Sören Olsson zurück. Das Ergebnis ist höchst unterhaltsam, lustig und originell, dabei trotz Komik mit vollem Ernst bei der Sache.

Demnächst in Cinemania 199 (»gans und gEnder«):
Kinostarts Ende Februar / Anfang März, darunter Die Berufung - Ihr Kampf für die Gerechtigkeit (Mimi Leder), Ein königlicher Tausch (Marc Dugain) und The Sisters Brothers (Jacques Audiard).