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31. Dezember 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Sibel (Çagla Zencirci & Guillaume Giovanetti)


Sibel
(Çagla Zencirci &
Guillaume Giovanetti)

Frankreich / Deutschland / Luxemburg / Türkei 2018, Buch: Çagla Zencirci, Ramata Sy, Guillaume Giovanetti, Kamera: Eric Devin, Schnitt: Véronique Lange, Musik: Bassel Hallak & Pi, mit Damla Sönmenz (Sibel), Emin Gürsoy (Emin), Erkan Kolçak Köstendil (Ali), Elit Iscan (Fatma), Meral Çetinkaya (Narin), 95 Min., Kinostart: 27. Dezember 2018

Das größte Greuel des Mediums Film ist - und das weiß man seit mittlerweile etwa 90 Jahren! - dass zu viel gequatscht wird. Ich will nicht die alten Argumente der Tonfilmfeinde hervorkramen, aber nicht nur die dänische Dogma-Bewegung zeigte, dass man sich durch Beschränkung der Mittel herausfordert und jede Besinnung auf alternative Möglichkeiten jenseits der ausgetretenen Pfade bringt das Medium (wenn auch manchmal öber Umwege, die zunächst in die falsche Richtung föhren) voran.

Sibel ist so ein Film. Kein Meisterwerk ohne Makel, aber ein Film, der sich fordert und dadurch - trotz mancher Schwächen - sein Publikum reich beschenkt. die 25jährige Titelheldin Sibel (Damla Sönmenz) ist seit ihrer Geburt stumm (da schaut's her!) und verständigt sich mit einer so traditionellen wie eigentömlichen »Pfeifsprache«, die in den Bergen des Schwarzen Meeres einst die Kommunikation öber lange Strecken möglich machte. Über diese Sprache las das Regie-Paar einst in einem Buch, wie exakt man sich hier an der Realität orientiert, interessiert mich eigentlich gar nicht, ich sehe das Thema dieser Sprache als Startpunkt des Filmprojekts. Im Film geht die Exaktheit der Pfeifsprache so weit, dass etwa Gespräche darüber, ob man zum Abendbrot Linsensuppe essen will, möglich sind.

Sibel (Çagla Zencirci & Guillaume Giovanetti)

Bildmaterial: Arsenal Filmverleih GmbH

Auf dieser starken Idee baut der Film auf, und man macht viel daraus, obwohl es in der eigentlichen Geschichte um etwas ganz anderes geht. Aber Sibel als Heldin wird so zu etwas besonderem. und das gilt natürlich auch für den Film.

Etwas schade dabei ist, dass der Film, dem ich ja die Freiheit eingestehe und gönne, sich in Bezug auf die Pfeifsprache ganz eigene Gesetze zu entwickeln, im Drehbuch teilweise unausgegoren wirkt (falls ich nicht irgendetwas komplett missverstanden oder übersehen habe). Denn bei einem Gespräch über Sibels ganz individuelle Lebensproblematik sagt eine Frau aus dem Ort zu Sibels Vater »Diese Pfeifsprache! Wir beide verstehen sie. Aber wer sonst?« (zitiert aus dem synchronisierten Trailer, aber in den Untertiteln geht es ebenfalls nicht etwa um »die Leute der Region«, die als einzige mit ihr kommunizieren können, sondern ganz konkret nur um die beiden Gesprächspartner). Dummerweise erweckt der Film aber den Eindruck, dass durchaus mehrere Leute die Pfeifsprache benutzen. Ich kann keine linguistische Volkszählung aus den Filmszenen erheben, aber ich würde die Zahl der "Eingeweihten" eher auf zehn als auf fünf schätzen. Und dann nervt es mich, wenn man im Film quasi »sich selbst widerspricht« und mir auch keine naheliegende Erklärung einfiel, aus welchem Grund die Frau etwas sagt, was halt nicht zu dem passt, was man sonst so im Film sah (die Möglichkeit, den Vater durch eine Falschaussage zu manipulieren, ist definitiv nicht gegeben).

Sibel (Çagla Zencirci & Guillaume Giovanetti)

Bildmaterial: Arsenal Filmverleih GmbH

Mir hat Sibel trotz solcher Details ziemlich großartig gefallen. Eine Kollegin fühlte sich an einen Kitschroman erinnert (ich eher an Wuthering Heights), ein anderer Schreiberling mäkelte auch am Film rum. Und zwar nicht wie ich als positiv gestimmter Erbsenzähler, sondern mit einer eher negativen Grundstimmung. Da muss man sich einfach mal mehr von den positiven Aspekten leiten lassen und über Kleinigkeiten hinwegsehen. Wenn ein Fünfjähriger am Strand eine Sandburg bauen will, die wie der Eiffelturm aussehen soll, ahnt man, dass es ihm nicht gelingen wird - aber seine Erfahrungen werden ihn voranbringen und sind womöglich auch unterhaltsam anzuschauen. Das geht über das alte »Scheitern als Chance« hinaus, sondern kann das Strandburgenbauen als solches vielleicht mit zwanzig Jahren Verspätung revolutionieren!

Metaphern und Symbolismus spielen in Sibel auch eine große Rolle. Ähnlich wie bei meinem Sandburgen-Firlefanz aber nicht immer mit der Filigranität von Virtuosen. Sibel ist auf der Jagd nach einem Wolf, der sich in den Bergwäldern herumtreiben soll. Dabei werden sie und der Wolf als vermeintliche Unglücksbringer parallelisiert. Als Sibel dann anstelle eines Wolfes den vermeintlichen Terroristen Ali (Erkan Kolçak Köstendil) findet, verhält sich dieser anfänglich nicht nur höchst animalisch (er knurrt, beißt sie, sabbert oder bewegt sich auf allen vieren), es wird auch schnell überdeutlich, dass sein Außenseiterstatus dem von Sibel sehr ähnlich ist.

Sibel (Çagla Zencirci & Guillaume Giovanetti)

Bildmaterial: Arsenal Filmverleih GmbH

Eine andere Spiegelung betrifft die alte Narin, die wie Sibel außerhalb der Gesellschaft steht und geistig verwirrt auf ihren Bräutigam wartet. Die thematischen Paare kann man hübsch zuordnen, auch der Kampf zwischen den Geschlechtern (oder zwei Schwestern) spielt eine Rolle. Sibels Vater, nebenbei Bürgermeister, steht für das traditionelle, veraltete Patriarchat, steht aber auch mal für die Tochter ein. Noch ambivalenter und dadurch gefährlich wirken aber die anderen Frauen (inkl. Sibels Schwester), die sich durch die Mär von der Unglücksbringerin und andere Vorurteil zu seltsamen Verhaltensweisen bringen lassen.

Während Sibel Ali pflegen will (und die beiden sich näher kommen), wird sie nun ähnlich wie er gejagt und kann schnell niemandem mehr trauen. Der Konflikt verdichtet sich, und der Film jongliert sehr geschickt mit den unterschiedlichsten Handlungselementen. Der Film macht sehr viel daraus, gerade der Schluss (wo es am häufigsten passiert, dass etwas reichlich schief geht) hat mich wirklich überzeugt, man merkt zwar, dass der Film türkische Wurzeln hat und aus der Post-#MeToo-Phase stammt, aber das wird alles sehr gezielt und durchdacht umgesetzt. Selbst, wenn es dabei mal wieder um eine sehr seltsame Auffassung vom Begriff »Ehre« geht, die am »Brautfelsen« zu einer Eskalation führt...

Sibel (Çagla Zencirci & Guillaume Giovanetti)

Bildmaterial: Arsenal Filmverleih GmbH

Die Schauspielleistungen sind mehr als solide. Eigentlich funktioniert deutlich mehr (und dies teilweise grandios) als irgendwie in den Sand gesetzt wird. Und der Film unterhält, lässt einen als Betrachter neugierig bleiben (wenn man unvoreingenommen bleibt) und nimmt einen mit einfachen Mitteln auf eine wilde fahrt mit. Eben Kino im besten Sinne.

Ach ja, falls jemand die Info unbedingt benötigt: Einer der Monde des Jupiter heißt natürlich Europa. Das reicht aber auch nicht, um den Film für mich aufzuwerten.