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14. November 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Reise nach Jerusalem (Lucia Chiarla)


Reise nach Jerusalem
(Lucia Chiarla)

Deutschland 2018, Buch: Lucia Chiarla, Kamera: Ralf Noack, Schnitt: Aletta von Vietinghoff, Musik: Tobias Vethake, mit Eva Löbau (Alice), Benjamino Brogi (Luca), Veronika Nowag-Jones (Mutter), Axel Werner (Vater), Julia Sophie Mink (Ingrid), Constanze Priester (Sandra), Christian Schmidt (Klaus), Nils Schulz (Ingrids Verlobter), Bettina Lohmeyer (Sophie Berger), Jan Henrik Stahlberg (Andreas Bauchlage), Madlen Meyer (Kassiererin), 118 Min., Kinostart: 15. November 2018

Eva Löbau spielt zwar auf der Leinwand meist im Ansatz ähnliche Figuren, die nicht unbedingt Scharen von Menschen in die Filmtheater pilgern lassen, aber je deutlicher die RegisseurInnen den Mut haben, sie den Film fast im Alleingang stemmen zu lassen, umso erfreulicher fällt das Ergebnis aus. Paradebeispiel: der Film, mit dem Löbau in Deutschland bekannt wurde, Der Wald vor lauter Bäumen! Bei Filmen wie Worst Case Scenario oder Hotel Very Welcome bilde ich mir mitunter ein, dass sie mit mehr mit einer größeren Rolle für Frau Löbau eigentlich nur hätten besser werden können...

In Reise nach Jerusalem sprach mich besonders an, dass ich mit den Lebensumständen der Hauptfigur Alice durchaus vertraut bin. Mit der schier aussichtslosen Suche nach einer Redaktions-Stelle, dem Umgang mit dem Job-Center oder teilweise absurden »Maßnahmen«, mit denen man dabei traktiert wird. Aus der Sicht von Alice erlebt man diesen teilweise sehr frustrierenden Trott.

Um einen Job zu ergattern, soll sie etwa am besten behaupten, sie habe ein »leidenschaftliches Interesse an Beauty-Themen«. Sie führt einen besonderen Stundenplan »zum Durchstarten«, bei dem ihr Tag mit dem Baustein »8-10: Joggen« beginnt. Was durch ihr Aufwachen um 9:12 Uhr geringfügig korrumpiert wird.

Reise nach Jerusalem (Lucia Chiarla)

© Filmperlen

Natürlich legt man im Film Wert darauf, die komödiantischen Aspekte des Lebens von Alice zu betonen, und Eva Löbau als (bisher) ungekrönte »Queen of Peinlich« kann diese Herangehensweise auch empathisch unterstützen, aber bei aller Freude dabei, sich von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen durchs Leben zu bewegen, hat dieser Alltag auch eine prekäre Authentizität.

Ich persönlich habe nie eine Bewerbungsgespräch über Skype geführt, aber wie Alice sich bei einer suboptimalen Verbindung verhält, bei der sie kaum etwas versteht, was ihre Gesprächspartnerin sagt, ihre Antworten sich bei aller langsamen Fragmentierung der Kommunikation und vielen kleinen Fehlverhalten auf Alice' Seite immer dezidiert euphorisch anbiedern (übrigens für eine Stelle im abgelegenen Ort »Gundelfingen«, der für mich fast donaldisch klingt) - das ist ebenso amüsant wie irgendwie schmerzhaft, je vertrauter einem diese Situation ist.

Reise nach Jerusalem (Lucia Chiarla)

© Filmperlen

Gleich zu Beginn des Films wird schon die Warteschleifenmusik, bevor man abgewimmelt wird, implizit zum Soundtrack Berlins erkoren, und diese Momente der (auch inszenatorischen) Genialität blitzen bei Reise nach Jerusalem immer mal wieder durch. Der Film leidet nur ein wenig darunter, das sich das Verhältnis zwischen durchweg gelungenen und eher nur im Ansatz ansprechenden Szenen im Verlauf des mit zwei Stunden etwas langen Films gegen Ende immer mehr zum Unvorteilhaften bewegen. Eine etwas erbarmungslosere Schnittfassung (»kill your darlings!«) von 80 bis 100 Minuten hätte hier durchaus die Stärken des Films besser akzentuieren können.

Wie gesagt, die ganz persönliche Anbindung an das Thema hat hier viel zu meiner Begeisterung beigetragen. Zu den wichtigsten Begünstigungen des HartzIV-Lebens gehört etwa der Berlin-Pass, mit dem man die Monatskarte bei der BVG schon für etwa ein Drittel bekommt und mit dem es jeweils ein Vergnügen ist, sich eine Vorführung im Kino Arsenal zu »gönnen« (der Berlin-Pass allein ist m.E. schon Grund genug, Wohnungsgeld zu beantragen, selbst, falls sich dieses nur auf zwanzig Euro oder so belaufen würde).

Reise nach Jerusalem (Lucia Chiarla)

© Filmperlen

Wenn Alice, reichlich beschämt von ihrer veränderten Lebenssituation, sich mit alten Arbeitskollegen fürs Kino verabredet und dann im Foyer darum kämpfen muss, ob der verringerte Eintritt nun sieben Euro beträgt (»Nein, siebenfuffzich!«), dann ist das genauso eine nur um eine Winzigkeit übertriebene Beobachtung wie die Bewerbungsmaßnahme, bei der fünf Piepels vor 40 Computermonitoren sitzen. Wie Alice könnte auch ich behaupten »Ich hab' Online-Redakteur!«, wie weit diese vom Job-Center bewilligte und bezahlte »Urkunde« von der Realität entfernt ist, wird nicht jedem Zuschauer auf Anhieb bewusst sein. Doch auch ohne persönliche Anbindung sitzen die Pointen.

Etwa die Dialoge beim Bewerbungstraining: »Wichtig ist, dass sie immer die selbe Schriftart nehmen!« (eine mich betreuende Angestellte beim Job-Center war sich auch immens sicher, dass Bewerbungen nur dann überhaupt zu Erfolg führen können, wenn sie in Tahoma und Blocktext abgefasst wurden). Oder, noch absurder: »Bewerben ist wie Tanzen gehen, nur anders!«

Sicher, wenn Alice wie Bart Simpson vor einer Tafel steht und immer wieder schreibt »In Zukunft werde ich mich bemühen, jeden Tag 100 Bewerbungen zu schreiben«, dann schießt das geringfügig übers Ziel hinaus. Aber im Verlauf einer Komödie muss man halt alle Register von schleichender Subtilität bis eklatanter Übertreibung bedienen, um alle Untergruppen des Publikums zu erreichen.

Reise nach Jerusalem (Lucia Chiarla)

© Filmperlen

Mich persönlich (der Filmwissenschaftler in mir) hat etwa angesprochen, dass die Montage sich hier und da nicht einer chronologischen Abfolge unterwirft, sondern den Film etwas experimenteller strukturiert, mit Traumpassagen auch mal ins Kafkaeske abdriftet. Ich habe mich gefreut, als Jan Henrik Stahlberg in einer kleinen Rolle auftauchte, der Grammatik-Nazi in mir frohlockte, als der Bewerbungscoach Alice abwatschte, weil sie »Peter-Müller-Str.« ohne Bindestriche schrieb. Sogar bei ihren Auftritten als »halbkoschere« Teilnehmerin bei einem Meinungsforschungs-Treffen konnte ich mich wiedererkennen, auch wenn ihre Bestrebungen, Benzin-Gutscheine in Bargeld zu verwandeln mal wieder etwas zu lange auf das selbe Fettnäpfchen eintraten.

Meine kaum zu zähmende Begeisterung für den Film ging sogar soweit, dass ich mir beim Wohnmobil von Alice' Eltern den Kopf darüber zerbrach, ob die (Firmen-?)Bezeichnung »Rimor« womöglich eine Abkürzung für »rigor mortis« sein könnte. Dass ich mich (bisher) nie vor meinen Vermietern verleugnen lassen musste oder in einem Supermarkt nicht genügend Kupfergeld für den Einkauf mitgeführt habe (»Mama, was ist eine Storno?«, der Blick der Kassiererin ist auch göttlich!), sehe ich fast als eine gewisse Gnade, die der armen Alice leider nicht widerfährt, weil sie im Film wie ein Märtyrer für Millionen Deutsche mit Geldproblemen auftritt, quasi als »weiblicher HartzIV-Jesus«. Und Eva Löbau gehört ganz sicher zum besten Drittel aller Jesus-Darsteller der Filmgeschichte, selbst, wenn sie nicht ans Kreuz genagelt wird und statt einer Dornenkrone nur selbstgemachte Strähnchen trägt.