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19. Oktober 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Das kalte Herz (Johannes Naber)


Das kalte Herz
(Johannes Naber)

Deutschland 2016, Buch: Johannes Naber, Christian Zipperle, Steffen Reuter, Andreas Marshall, Lit. Vorlage: Wilhelm Hauff, Kamera: Pascal Schmit, Schnitt: Ben von Grafenstein, Musik: Oli Biehler, Szenenbild: Julian R. Wagner, mit Frederick Lau (Peter Munk), Henriette Confurius (Lisbeth), Moritz Bleibtreu (Holländer-Michel), David Schütter (Bastian), Milan Peschel (Glasmännchen), Sebastian Blomberg (Löbl), Roeland Wiesnekker (Etzel), Jule Böwe (Barbara Munk), André M. Hennicke (Jakob Munk), Lars Rudolph (Schui-Franz), 119 Min., Kinostart: 20. Oktober 2016

Deutschland hat ja eine reiche Tradition an Märchenfilmen, nicht nur bei der DEFA. Aber wenn man mal Michael Ende (mit dem ich nie richtig warm wurde) außen vor lässt, dürfte diese Wilhelm-Hauff-Verfilmung der erste eigenständige Versuch für ein deutsches Fantasy-Kino sein, dass auf seine Art fast gegenüber den Peter-Jackson-Filmen bestehen kann. Einzig Krabat ging vor einigen Jahren in eine ähnliche Richtung, war aber dabei viel zu sehr einigen Young-Adult-Mustern verpflichtet, die man hier nicht ganz so deutlich wiederfindet.

Mit der DEFA-Verfilmung von Paul Verhoeven (nicht der Showgirls-Holländer) teilt sich der Film von Johannes Naber (Zeit der Kannibalen) zwar noch das Handlungsgerüst, aber die Prioritäten sind gänzlich anders verteilt. Keine bunten Trachten, keine verhärmte Kapitalismuskritik, keine Special-Effects in der alten UFA-Tradition. Stattdessen eine Menge Psychologisierung der Figuren und eine deutliche Abkehr vom Märchenkino hin zu etwas, was irgendwie »cooler« und »hipper« wirken soll und Fantasy-Freunde aktivieren könnte, die sich vielleicht auch auf Mittelalter-Märkten herumtreiben könnten (Tätowierungen, ein Blackface-Schamane im Schwarzwald, ein Volkstanz, der wie eine Art martial arts reinterpretiert wird).

Das kalte Herz (Johannes Naber)

Bildmaterial: © Weltkino

Ungeachtet seiner Spielfreude ist es ausgerechnet Frederick Lau in der Hauptrolle, der eine mittelgroße Fehlbesetzung ist, weil er (vgl. Richy Müller in Poll oder David Kross in Angelique) einfach nicht in solch ein, wenn auch semi-, historisches Setting passen will. Aber womöglich liegt das auch an mir, weil ich zu viele Frederick-Lau-Filme gesehen habe - und andere Zuschauer können da ohne Altlasten an einer anderen Stelle einsteigen und sich einhaken.

Manches anderes, was durchaus seltsam wirkt, nimmt man indes hin. Etwa Sebastian Blomberg, der im I am the Walrus-Gedächtnisschnäuzer trotz absolut lächerlichem Aussehen genug Gravitas mitbringt, um seine Rolle auszufüllen. Milan Peschel als ziemlich aufgedrehtes Glasmännchen ist mir immer noch lieber als seine Ausflüge ins Schweighöfer-Kino, und Moritz Bleibtreu hatte auch schon absurdere Rollen als den Holländer-Michel hier.

Das kalte Herz (Johannes Naber)

Bildmaterial: © Weltkino

Trotz der vielen - euphemistisch ausgedrückt - »Ecken und Kanten« wirkt der Film dennoch wie aus einem Guss, man eröffnet quasi sein eigenes Fantasy-Universum. Und wirklich interessant wird es bei den Details, die sich ein wenig von Hauff und Verhoeven zu emanzipieren versuchen. Mit am Spannendsten finde ich hierbei die Rolle des Vaters (André M. Hennicke) vom Köhler Peter Munk (Lau). Dass man dessen Tod als aus den Rudern gelaufenes Mobbing unter der dunklen Dorfgemeinde thematisiert, ist die eine Sache. Aber das der Vater - wie später noch eine andere Figur - quasi (subtil, und mit ein klitzekleines bisschen Hang zur Interpretation) als Tier wiedergeboren wird, öffnet hier eine gänzlich neue Dose Würmer (Murphy's Law: If you open a can of worms, you always need a larger can to get them together again).

Das kalte Herz (Johannes Naber)

Bildmaterial: © Weltkino

Ein bezeichnendes Detail an der Geschichte ist, war und bleiben die »Shades of Grey« (oder eher »Shades of Black«), die der Köhler-Munk mit seinem für einen Stein eingetauschten Herz durchlebt, ehe ihm ein märchenhaftes Happy-End gestattet wird. In diesem Fall geht man um einiges weiter als im DEFA-Film von 1950. Und irgendwie auch als im Märchen, wenn man sich jetzt mal von den bloßen Buchstaben löst und mehr die Atmosphäre zum Ausschlag nimmt. Nabers Lösung ist jetzt nicht unbedingt perfekt, aber man merkt, wie sehr er und seine Co-Autoren über dieses Schlamassel nachgedacht haben - und die Herangehensweise ist so interessant, dass man deutlich länger über die Parallelen und Unterschiede dieser Aspekte der Handlung nachdenken kann, als ich es je erwartet hätte (aus Spoilergründen möchte ich dies aber nicht an dieser Stelle durchexerzieren, sondern eher die Leser motivieren, sich den leicht zugänglichen DEFA-Film und die als E-Text verfügbare Hauff-Story (verteilt auf Kapitel 4 und 10 eines »Märchenalmanachs«) bei Gefallen oder weitergehendem Interesse ruhig mal zu Gemüte zu führen.

Was alles für ein modernes Publikum geändert wurde - insbesondere in Bezug darauf, wie man einen Helden definiert und was man als Held wiederum nicht tun darf - ist genau jener Mehraufwand des Films, der ihn über bloßes Fantasy-Kino hinweghebt. Der Köhler-Munk steckt eigentlich tief drin in einem sehr ähnlichen moralischen Dilemma, dass anderswo Gollum und Frodo zu zwei gegensätzlichen (aber doch ähnlichen) Figuren trennt.

Das kalte Herz (Johannes Naber)

Bildmaterial: © Weltkino

Und auch, wenn Johannes Nabers Version des Schwarzwalds eher an Mittelerde erinnert als an vergangene Tourismus-Fotografien mit Bollenhüten - schon durch die Sprache und die Darsteller bringt der Film auch eine Art Heimatgefühl mit sich, das eben nicht idealisiert und abfeiert, sondern eher suspekte Tendenzen noch betont. Mit dieser Nation der Totschläger, Opportunisten und - nennen wir es mal "Parteifreunde" - fühlte ich mich vertrauter, als mir lieb war ...