Tangerine L.A.
(Sean Baker)
Originaltitel: Tangerine, USA 2015, Buch: Sean Baker, Chris Bergoch, Kamera: Sean Baker, Radium Cheung, Schnitt: Sean Baker, Kostüme: Shi-Ching Tsou, mit Kitana Kiki Rodriguez (Sin-Dee Rella), Mya Taylor (Alexandra), Karren Karagulian (Razmik), Mickey O'Hagan (Dinah), James Ransone (Chester), Alla Tumanian (Ashken), Luiza Nersisyan (Yeva), Arsen Grigoryan (Karo), Ian Edwards (Nash), Ana Foxx (Selena), Shi-Ching Tsou (Mama-san), 88 Min., Kinostart: 7. Juli 2016
Die Weihnachtsnacht auf dem Straßenstrich von Los Angeles, einige afroamerikanische Drag Queens, ein durchtriebener Zuhälter und ein aus Armenien stammender Taxifahrer, der neben dem Lebensunterhalt seiner kleinen Familie noch andere Ziele im Leben hat. Die »Minneapolis Star Tribune« behauptet, Tangerine sei »The wildest screwball transgender comedy since Tony Curtis and Jack Lemmon donned lipstick, mascara and full-tilt female get-ups in Some like it hot.« Einige meiner KritikerkollegInnen sehen den Film eher als zu Herzen gehende Tragödie.
Meine Einschätzung ist die, dass Tangerine durchaus sehr komisch ist (ungeachtet einiger nicht unbedingt erheiternder Schicksale), aber »screwball comedy« trifft den Kern des Films ebenso wenig, wie ich Some like it hot als »transgender«-Film beschreiben würde (und auch meine Definition einer screwball comedy hat nur einige Schnittmengen mit Billy Wilders Geschichte von Curtis und Lemmon, die nun wirklich nicht in Frauenklamotten steigen, weil das irgendwas mit ihrer Sexualität zu tun hat).
Bildmaterial: © Magnolia Pictures / Koolfilm
Wenn ich schon ein Genre benennen müsste, in das Tangerine gut hinein passt, wäre das (inspiriert durch die Produzenten Jay und Mark Duplass) der Mumblecore, jene zumeist aus improvisierten Dialogen bestehende Betrachtung alltäglicher Probleme. Zwar kann ich nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor, die beiden Laiendarstellerinnen, die hier quasi sich selbst spielen, die in gehörigem Tempo ausgestoßenen Schimpftiraden nicht artig aus einem detaillierten Drehbuch auswendig gelernt haben, aber es macht einfach nicht den Eindruck. Es gibt ja so manche Komödie, die an Weihnachten oder zu Thanksgiving spielt und die gesammelten Familienklischees pulverisiert (ein persönlicher Favorit von mir ist hier Chris Hedges' Pieces of April) - aber Tangerine ist da schon eine Klasse für sich. Und auch, wenn die teilweise absurden Situationen, die die beiden Bordsteinschwalben hier durchspielen, ganz klar auf die Pointe hin inszeniert sind (und diese auch meistens treffen!), so geht es hier nicht zuletzt doch um das alltägliche Schicksal dieser aufgedonnerten und überkandidelten Vollblutzicken, die hier nicht zur Schau gestellt werden, sondern sich trotz einer möglichen Distanz des Kinogängers doch zu Protagonisten entwickeln, deren Schicksal (egal, wie geskriptet) einen doch irgendwie nicht loslässt.
Irgendwie wirkt das Ganze wie Mumblecore auf Highspeed, um so manche Nuance lauter und schriller, als man dieses down-to-earth-Genre, in dem es gern um so filmuntypische Lappalien wie Mietzahlungen geht, sonst kennt.
Bildmaterial: © Magnolia Pictures / Koolfilm
Kongenial dazu passend ist auch der Umstand, dass der Film komplett mit einem iPhone gedreht wurde, was neben der Standard-Wackelkamera mit ihrem dokumentarischen Duktus durch diverse Aufsätze und Filter zu knallbunten Bildern führt, die trotz einer gewissen Qualitätseinschränkung (für den Zuschauer, der nebenbei Zeit hat, Pixel zu zählen) ein High-Definition-Feeling erzeugen, bei dem man trotz der übersteuerten Farben tatsächlich fast von Hyperrealismus sprechen möchte.
Sin-Dee Rella (Kitana Kiki Rodriguez) und ihre gute Freundin Alexandra (Mya Taylor) sind einfach so bunte krakeelende Paradiesvögel, dass die Filmbilder wie das Make-Up oder die Perücke larger-than-life sein müssen. Dass insbesondere Sin-Dee für lange Strecken des Films nicht wirklich positiv gezeichnet ist (sie ist einfach eine riesige Nervensäge, aber das ist ihr innerstes Wesen und man spürt dabei ihr Herzblut pochen - Vergleiche mit einigen Dschungelcamp-C-Promis sind nicht abwegig), zeichnet den Film durchaus aus.
Bildmaterial: © Magnolia Pictures / Koolfilm
Und angesichts der Hauptfiguren des Films sieht man sogar darüber hinweg, wie negativ »echte« Frauen im Film wegkommen - also solche mit allen entsprechenden Organen wie jener »Fish« (auch so ein Slangwort, das mir vor dem Film nicht bekannt war), mit dem Sin-Dees Zuhälter Chester sich während ihrer kurzen Abwesenheit (auf Staatskosten) verlustiert haben soll. Dieser Nebenbuhlerin jagt Sin-Dee wie ein seltsamer Privatdetektiv mit Rachegelüsten am Heiligabend hinterher, während der Film nebenbei die Wege von Alexandra und Razmik (den bereits erwähnten Taxi-Fahrer) verfolgt, bis es zu so mancher Eskalation und Konfrontation kommt.
Wie viele Zuschauer der Film mitten im Sommer ins Kino locken wird, ist eine Sache, aber es ist eigentlich unabkömmlich, dass daraus ein Kultfilm fürs Weihnachtsprogramm werden muss. Und das nicht nur in irgendwelchen winzigen Programmkinos, sondern statt der trillionsten Ausstrahlung von Little Lord Fauntleroy und Konsorten vielleicht auch mal bei einigen Fernsehsendern, die etwas mehr Mut zeigen, beispielsweise Arte oder Tele 5.
Bildmaterial: © Magnolia Pictures / Koolfilm
Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass Tangerine einer dieser Filme ist, der einem mit jeder erneuten Sichtung besser gefallen wird. So was wie Napoleon Dynamite, wo man beim ersten Mal noch etwas befremdlich reagiert, sich dann aber beim zweiten Mal auf die Situation eingestellt hat und ganz auf die Details achten kann. Mein liebster »Gag am Rande« ist übrigens ein Herr, bei dem Sin-Dee Informationen herausprökelt und nebenbei Zigaretten schnorrt. Wenn sie zum zweiten Mal bei ihm auftaucht, sieht man, wie er ganz unauffällig seine restlichen Kippen aus ihrem Sichtkreis entfernt.
Aber nichtsdestotrotz geht es in Tangerine nicht nur um Humor, sondern auch um veritable Emotionen. Die muss man als Zuschauer nicht unbedingt teilen oder auch nur nachvollziehen können, aber sie sind - auf ihre Art - rein und klar. Und manchmal wie eine Langspielplatte, die auf 78 Umdrehungen und Höchstlautstärke abgespielt wird. Wer bevorzugt Filme von Eric Rohmer schaut, wird vermutlich nicht zu den größten Fans dieses abgedrehten Zickenterrors werden.