Der Nachtmahr
(Akiz)
Deutschland 2015, Buch: Akiz, Kamera: Clemens Baumeister, Schnitt: Akiz, Philipp Virus, Anna-Kristin Nekarda, Musik: Steffen Kahles, Christoph Blaser, Sound Design: Leo Brunnsteiner, Manfred Mvié Bauche, mit Carolyn Genzkow (Tina), Sina Tkotsch (Barbara), Julika Jenkins (Tinas Mutter), Arnd Klawitter (Tinas Vater), Wilson Gonzalez Ochsenknecht (Adam), Alexander Scheer (Psychologe), Kim Gordon (Lehrerin), 88 Min., Kinostart: 26. Mai 2016
Vieles an diesem Film (nicht nur der Titel) deutet daraufhin, dass man mit dem Genre Horror zumindest kokettiert. Immerhin geht es um eine Art Monster, Todesfälle usw., die Protagonisten sind größtenteils junge Menschen und vieles spielt in der Nacht. Das Ganze ist auch irgendwie gruselig, auf so eine Art wie die abgedrehteren David-Lynch-Filme oder Wenn die Gondeln Trauer tragen.
Tina (Carolyn Genzkow) ist ein junges Techno-Mädel, das sich auf abgefahrenen Partys rumtreibt. Lange Zeit sind der wummernde Beat und die Strobo-Effekte stilbildend für den Film und ein junges Lebensgefühl. Aber schnell gesellen sich dazu unheimliche Vorboten einer mysteriösen Geschichte. »Der Biolehrer hat uns Embryos gezeigt. Missgeburten im Glas.« Wenn man auch noch per Handy-App Fotos einiger Mädels zu Embryos verfremdet, deutet sich schnell eine naheliegende Interpretation des weiteren Geschehens an. Der kleine Nachtmahr, der Tina im Verlauf des Films erst verfolgen wird wie eine Halluzination und dann irgendwie eine Bindung zu der jungen Frau (und umgedreht) aufbaut, wirkt irgendwie wie eine fleischgewordene Angst, vielleicht auch wie ein Hinweis auf eine nicht verarbeitete Abtreibung. Aber Der Nachtmahr entzieht sich einer langläufigen Interpretation, weil man einfach zu viele Lesarten eröffnet - und das mit voller Absicht.
Bildmaterial: © Koch Films
Regisseur Akiz hat zwar ein Regiestudium abgeschlossen, war aber zunächst auch Bildhauer. Und das Design der Nachtmahr-Figur, das in nicht geringem Maße an die Gemälde von Johann Heinrich F¨ssli erinnert, stand am Anfang des Films. Daraus entwickelte sich ein Drehbuch, und man erkennt durchaus den Einfluss vieler Vorbilder des Regisseurs, von Sigmund Freud über William Blake (ich war zu faul, die von Blake übernommenen Songtexte zu recherchieren) bis hin zum expressionistischen Kino der Weimarer Republik, das ja aktuell viele deutsche Filmemacher fasziniert.
Was ziemlich geil bei dem Film ist: die Vermischung der unterschiedlichen Einflüsse. Etwas altes, etwas neues, auf blau und geliehen verzichten wir mal. Nicht nur die Party-Szene steht natürlich im klaren Widerspruch zum Gothic-Novel-Ambiente, an jeder Ecke wird der Film mit einer Art Frischzellenkur vollgepumpt. Das heutige Kinopublikum kann halt mehr mit Apps und Social Media anfangen als mit alten Goethe-Gedichten. Und so beginnt eine der geheimnisvollsten Szenen des Films mit dem Statement »Etwas, was ich nicht gebrauchen kann: dass mich jemand auf Facebook beim Pissen postet«. Denn nach zuviel Champagner muss man manchmal Wasser lassen, und wenn man sich als Frau dabei hinhockt, wirkt man immer sehr angreifbar. In Der Nachtmahr wird eine solche Szene zu einem durchaus schockenden Autounfall mit Fahrerflucht ausgeweitet, aber das Erschreckendste dabei ist, dass man zu einem frühen Zeitpunkt des Films schon nicht mehr unterscheiden kann, was Realität und was Vision ist. Denn nachdem man sich zuvor feixend ein Youtube-Video angeschaut hat, wiederholt sich die fast deckungsgleiche Szene - und kurz darauf spielt sich die Situation erneut ab, aber mit anderem Ausgang. Das ist so eine David-Lynch-Szene, die nie im Film wirklich aufgelöst wird und einen unruhig auf dem Kinostuhl hin- und herrutschen lässt.
Bildmaterial: © Koch Films
Im Großen und Ganzen erinnert die Handlung des Films auch eher an ein Gedicht als an eine Kurzgeschichte. Alle Nase lang gibt es Momente, die zum Assoziieren einladen, zum Knüpfen von Verbindungen - aber nicht unbedingt, um eine stringente, nachvollziehbare Handlung zu verfolgen. Und das sehe ich in diesem Fall durchaus als Vorteil, weil der Film auch so interessant genug dabei bleibt.
Man ist irgendwann ziemlich überrascht darüber, wie viel man von dem »Nachtmahr« zu sehen bekommt. Der Film nutzt hierbei die alte Regel, dass das, was man nicht sieht, meist Erschreckender ist als das, was man zu sehen bekommt (ziemlich tolles Sounddesign übrigens, dieses Gurren, Keuchen und Knarzen). Aber die Regel wird auf die umgekehrte Art angewendet. Denn zusammen mit Tina entdecken wir die Fragilität, die Schutzlosigkeit des vermeintlichen »Monsters« - und, ob Halluzination oder nicht, stellen uns auf dessen Seite. Im Grunde funktioniert Der Nachtmahr wie eine Art »E.T. für Erwachsene«. Die Parallele geht ja sogar so weit, dass es wie damals bei Gertie und der Topfblume eine erkennbare gesundheitliche Verbindung gibt (was auch zu meiner Schwangerschafts-Theorie passt, aber dennoch jede Menge Raum für andere Erklärungen freilässt). Mit der heilen Vorort-Welt von Spielberg hat das allerdings nur wenig zu tun, denn dort gibt es keine bedrohlichen Szenen mit einem Lady-Shave, einen Soundtrack, der sich manchmal eine Mischung aus Kirchenorgel und Koyaanisqatsi anhört, oder so hübsche fatalistisch-depressive schwarzweiß-gekachelte Küchenfußböden (Eraserhead lässt grüßen!).
Bildmaterial: © Koch Films
Als die »Wucht in Tüten«, den Beginn eines »neuen deutschen fantastischen Kinos« oder ähnliche Superlative würde ich den Film zwar keineswegs einstufen (dazu ist vieles noch zu holprig, aber nicht immer im positiven Sinne holprig), und auch die Einbindung von Sonic-Youth-Frontfrau Kim Gordon und Wilson Gonzalez Ochsenknecht (mit putziger Haarfarbe, die so oft wechselt wie bei Ramona Flowers) wirkt auf mich wie ein Name-Dropping, eine selbstgefällige Poser-Geste - aber immerhin probiert Akiz mal was Neues und dafür sollte man dem Film unbedingt eine Chance geben.
Bildmaterial: © Koch Films