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11. Juni 2014 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||
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»Best of Arab Cinema«
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Dubai International Film Festival presents: Best of Arab Cinema
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Die Filmreihe »Best of Arab Cinema« basiert auf einer Bestenliste des arabischen Kinos, die mit der Hilfe von 475 Experten (Regisseure und Filmschaffende, Kritiker, Autoren etc.) im Auftrag des Dubai International Film Festivals (DIFF) 2013 zusammengetragen wurde.
Von den neun Bestplazierten werden nun im Berliner Kino Arsenal acht Filme vorgeführt, wobei der Presse bereits die ersten drei Filme der Reihe gezeigt wurden.
Dt. Titel: West Beirut, Frankreich / Norwegen / Libanon / Belgien 1998, Buch: Ziad Doueri, Kamera: Ricardo Jacques Gale, Schnitt: Dominique Marcombe, Musik: Stewart Copeland, mit Rami Doueiri (Tarek Noueri), Mouhidine Guerra (Omar), Rolande Amin (May), Carmen Loubbos (Hala Noureri), Joseph Nassar (Riad Noueri), Liliane Nemry (Nachbarin), Leila Karam (Oum Walid), Mahmoud Mabsout (Bäcker Hassan), Aïda Sabra (Rektorin), Hassan Farhat, Fadi Abi Samra, Naamar Sahli, 105 Min.
Aus der Sicht des Teenagers Tarek (Rami Doueiri) schildert der Film den Ausbruch des Bürgerkriegs im April 1975. Zunächst wirken die Vorkommnisse für ihn wie ein aufregendes Spiel: Aus dem Fenster des Klassenzimmers beobachtet er Bewaffnete, die durch die Straßen ziehen, er und sein bester Freund Omar (Mouhidine Guerra) dokumentieren eine Demonstration mit der Super-8-Kamera und dann gibt es mit der neuen Schülerin May (Rolande Amin) auch noch neue Aufregungen in seiner Pubertät. Dass er Moslem und sie Christin ist, birgt angesichts der plötzlich geteilten Stadt natürlich Probleme, aber Tarek geht lange Zeit reichlich unerschrocken durchs Leben (wenn er in Bezug auf May auch eher schüchtern bleibt) und gerät so im Verlauf des Films auch in ein berüchtigtes Freudenhaus in der anderen Hälfte der Stadt, Abenteuer beinhaltet der Film einige.
Nebenbei wird aber Tareks Blick (und damit auch der des Betrachters) geschulter für die absurden Umstände, wobei die äußeren, teilweise gefährlichen Konflikte, sich auch übertragen auf seine zuvor sehr glücklichen Eltern. Mutter Hala (Carmen Loubbos) will mehrfach die Stadt verlassen, während Vater Riad (Joseph Nassar) nicht seine Wohnung und das bisher erreichte aufgeben will und den Konflikt verharmlost (er hat schon diverse Bürgerkriege erlebt, die er im Nachhinein als »Hundekämpfe« bezeichnet).
Stilistisch ist der Film von Beginn an geprägt vom Formatwechsel zu den Super-8-Aufnahmen und dem zwischenzeitig eingeschobenen Archivmaterial, das die historischen Veränderungen zumindest ansatzweise verdeutlicht.
Der von Anfang an rebellisch wirkende Tarek erinnert zu Beginn fast an Bart Simpson, wenn er sich bei einem Schulalarm wegschleicht, ein Megaphon organisiert und seine eigene politische Meinung kundtut (die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass ihm die Pflichtsprache Französisch nicht behagt). Das führt schon in einer frühen Szene zu einem Wettstreit der Nationalhymnen wie einst in Casablanca, nur dass diesmal die Marseillaise nicht ganz so gut wegkommt.
Omar könnte entsprechend Tareks Milhouse sein, nur besser aussehend und intelligenter / unabhängiger, und während die Jungs anfänglich noch gemeinsam die Aufregungen der Pubertät erkunden (durch die Super-8-Kamera immer auch in »cineastischer« Hinsicht), birgt das Mädchen May, das plötzlich zwischen ihnen steht, noch zusätzliches Konfliktpotential.
Die Streitbereitschaft ist im Film allgegenwärtig, etwa in Form einer dicken Nachbarin, die sich jeden Morgen über einen krähenden Hahn aufregt, was umso absurder dadurch wird, dass der muslimische »Weckruf« jeweils schon früher ertönt und ebenso wie das Gezeter der Frau viel lauter ist als der Hahn, der quasi nur als Prügelknabe und Zielscheibe der allgemeinen Unzufriedenheit herhalten muss.
Sowohl die historische (Filmplakate spielen in der Zimmerdekoration der beiden Jungs eine große Rolle) als auch die räumliche Verortung einer für den Regisseur natürlich autobiographisch beladenen Lebensphase funktioniert sehr gut, nur verliert der Film im letzten Drittel leider ein wenig die dramaturgische Geschlossenheit.
Was aber gut verdeutlicht wird, ist die Blödsinnigkeit von Kriegen, die sich nur anhand von Sprachen oder Religionen eine mühsame Rechfertigung zusammenbasteln. Nicht nur die junge Generation sieht offensichtlich kein Problem in solchen Unterscheidungen (solange man nicht gezwungen wird, Französisch zu sprechen), auch Tareks Eltern demonstrieren, das sie vor allem Beiruter sind. Sie: »Which Beirut do we live in?«, er: »West, I guess ...«
Ein schönes Symbol (und Geheimzeichen) ermöglicht übrigens den Bordellbesuchern die ungehinderte Passage durch die neue Stadtgrenze: Man hängt einfach einen BH an die Autoantenne. Ein wenig kommerzialisiert im Kontext, aber im Grunde genommen »Make Love not War«.
Intern. Titel: Cairo Station, Dt. Titel: Tatort Hauptbahnhof Kairo, Ägypten 1958, Buch: Abdel Hai Adib, Dialoge: Mohamed Abu Youssef, Kamera: Alvise (d.i. Alevise Orfanelli), Schnitt: Kamal Abul Ela, Musik: Fouad El Zahiri, mit Youssef Chahine (Kinawi), Hind Rostom (Hanuma), Farid Chawki (Abu Sri), Hassan el Baroudy, Abdel Aziz Khalil, Naima Wasfi, Said Khalil, Abdel Ghani Nagdi, Loutfi El Hakim, Hana Abdel Fattah, Safia Sarwat, Sherine, Soheir u.v.a., 77 Min.
Laut Votum der arabischen Fachleute nur auf Platz 2, ist Cairo Station (hatte beim westdeutschen Kinostart 1962 den etwas reißerisch klingenden Titel Tatort Hauptbahnhof Kairo) aus meiner Sicht die wahre Entdeckung der Filmreihe. Rein aus filmhistorischem Interesse muss man diesen Klassiker gesehen hat, der einfach seiner Zeit (und dem Weltkino) einige Jahre voraus ist.
Zunächst schildert der Film anhand eines klar umrissenen Spielorts die Wünsche und Träume der kleinen Menschen, der Zeitungsverkäufer, Kofferträger und halblegalen »Limo-Mädel« (vielleicht hat auch Billy Wilder diesen Film gesehen). Dies geschieht in einer seltsamen Mischung aus Neorealismus und Melodramatik, wobei der »Hinkefuß« Kinawi (Regisseur Youssef Chahine selbst) sich in die aufreizende Hanuma (Hind Rostom) verliebt, die es aber selbst auf den stattlichen, und finanziell geringfügig besser gestellten Abu Sri (Farid Chawki) abgesehen hat, dabei aber einige Vorzeichen übersieht oder nicht zu realisieren bereit ist. Diese Grundkonstellation könnte 1:1 aus dem Glöckner von Notre Dame übernommen sein (nur dass der Verkauf von Erfrischungsgetränken die Lebensumstände von Esmeralda geringfügig euphemisiert), und auch das Schicksal Kinawis wirkt ähnlich tragisch und ausweglos. Doch dann verändert der Film (der auch nebenbei hübsche kleine Vignetten zu erzählen hat) etwas unerwartet die Richtung (durch eine Rahmenhandlung weiß man eigentlich von Anfang an, dass das dicke Ende noch kommt) und erzählt dann von einer sexuellen Obsession, die auch vor symbolkräftigen Bildern nicht zurückschreckt und entwickelt sich plötzlich in einen echten Psycho-Thriller – wohlgemerkt historisch vor Peeping Tom und Psycho, aber in den Spannungsmomenten Hitchcock durchaus ebenbürtig (nur dass Sir Alfred sich selten so liebevoll und irgendwie auch »beschützend« um fast alle seiner Figuren gekümmert hat).
Cairo Station hat viele Ecken und Kanten, und auch einige Momente, bei denen man sich an den Kopf fasst, aber filmhistorisch hätte zumindest ich ein solches Juwel vermutlich zuletzt in Ägypten vermutet. Voller inszenatorischer Ideen (die riesige Uhr im Vordergrund!), mit einer beispiellosen Unerschrockenheit (die laszive Hind Rostum), aber dennoch mit einer Eleganz, die man einfach nur als »klassisch« bezeichnen kann. Selten sah man Nostalgie und Avantgarde so Hand in Hand, und bereits nach einem Film würde ich Youssef Chahines Rolle für das Weltkino etwa in die Kategorie von Akira Kurosawa einordnen. Und wer von dem nie einen Film sah, ist für mich genauso indiskutabel wie jeder, der sich dieses Filmjuwel entgehen lässt. Insbesondere, wenn dann auch noch die 35mm-Kopie angekommen ist (die Presse bekam leider nur eine auf BluRay gezogene VHS oder etwas ähnliches zu sehen).
Intern. Titel: The Mummy / The Night of Counting the Years, Ägypten 1969, Buch: Chadi Abdel Salam, Kamera: Abdel Aziz Fahmy, Schnitt: Kamal Abou-El-Ella, Musik: Mario Nascimbene, Production Design: Salah Marei, mit Ahmed Marei (Wanniss), Mohamed Khairi (Kamal), Ahmad Hegazi (Brother), Mohamed Nabih (Murad), Shafik Noureddin (Ayoub), Ahmad Anan (Badawi), Nadia Lutfi (Zeena), Zouzou El-Hakim (Mother), Gaby Karraz (Maspero), Abdelazim Abdelhack (Uncle), Abdelmonen Aboulfoutouh (Uncle), Ahmed Khalil (First cousin), Helmi Halali (Second cousin), Mohamed Abdel Rahman (Third cousin), Mohamed Morshed (Stranger), 102 Min.
Der Film, der mit großem Abstand auf Platz 1 der Liste landete, wurde seinerzeit vom Ägyptischen Ministerium für Kultur ebenso wie von Roberto Rosselini unterstützt und vor einigen Jahren unter der Schirmherrschaft von Martin Scorsese aufwendig restauriert.
Die Geschichte basiert auf der realen Entdeckung einer Berghöhle mit historisch unschätzbaren Fundstücken im Jahr 1881. Involviert in diesen Fund war »Ägyptens erster Archäologe« Ahmed Kamal und es ging unter anderem um 40 Mumien aus fünf verschiedenen Dynastien (dies erklärt den alternativen internationalen Titel The Night of Counting the Years, der nicht unbedingt fehlgeleitete Fans von Boris Karloff oder Brendan Fraser ins Kino lockt).
Der Regisseur Chadi Abeld Salam hat zuvor Literatur und Architektur studiert und kommt aus einem kunstgeschichtlichen Background, was im Film allesamt evident ist. Einige Errungenschaften erschließen sich dem ungeübten Auge (und Ohr) aber nicht unbedingt, etwa, dass man im Film »klassisches« Arabisch spricht oder die Entdeckung der Höhle im Film ausschließlich mit zeitgenössischen Gaslaternen aus dem 19. Jahrhundert beleuchtet wurde. Bei diesen Details muss man sich dann schon auf Expertenmeinungen verlassen, und es nicht eben abwegig, dass ausgerechnet diese Details dazu führten, dass die »Wahlberechtigten« diesen Film abfeiern, wo man als unvoreingenommener westlicher Betrachter fast schon mit der eigentlichen Handlung (zumindest einigen subtilen Nuancen) etwas überfordert ist.
Im Film wird zwar als erstes über eine hochwissenschaftliche Delegation Kamal (Mohamed Khairi) eingeführt, der Artifakte der 21. Dynastie vor Grabräubern retten soll (und das im Sommer, wo die Archäologen traditionell Urlaub haben), und dafür in Theben auf die Unterstützung von »Wächtern des Bergs der Toten« hoffen kann. Doch dann geht es vor allem um Wanniss (Ahmed Marai), der nach dem Tod seines Vaters vor dem Zwiespalt steht, ob er weiterhin durch Grabraub die Angehörigen seines am Existenzminimum knapsenden Wüstenstammes unterstützen soll, oder ihm das historisch-kulturelle Erbe seines Landes (das aber keine Kohle bringt) wichtiger ist. Er gerät dabei mit seinem Bruder aufeinander, und irgendein Älterer spricht Todesurteile aus, die in shakespearehaften Exekutionen ausgeführt werden, aber ich muss zugeben, dass ich mich schnell mehr für die inszenatorischen Mittel des Films als für die eigentliche Geschichte interessiert habe.
Die Dialoge klingen auch noch in den Untertiteln sehr poetisch (»Let him cry his childhood away«) und zeugen von einer bildgewaltigen Sprache (analog zu manchen abgefilmten Hieroglyphen), die aber das Verständnis nicht immer unterstützen (man stelle sich einen im Deutschen nicht ganz sattelfesten Menschen in einer Faustaufführung vor). Der Film selbst erinnert manchmal eine hochtheatralische Fassung vom Schatz im Silbersee, aber mit undurchschaubaren Gestalten in schwarzen Roben, Attentätern und auch ein paar MacGuffins angereichert. Teilaspekte dieses sehr ungewohnten Mixes könnte etwa eine Bibelverfilmung des frühen Hitchcock verbildlichen. Einerseits sieht man viele Einflüsse des westlichen Kinos, aber manches ist auch komplett anders aufgelöst. So gibt es bei Dialogen etwa nicht die typische Schuss/Gegenschuss-Montage, gern kombiniert mit dem Kamerablick über die Schulter, sondern meistens sieht man eine Person im Zentrum des Bildes, und vor oder hinter ihm geht ein anderer auf und ab (von links nach rechts oder andersrum), wobei beide zumeist in einem 45-Grad-Winkel an der Kamera vorbeisprechen. Es ist also wie im klassischen Theater (ohne Mikros), wo die Darsteller auch immer in Richtung des Publikums sprechen mussten. Das wirkt gleichzeitig sehr veraltet, aber auch immens faszinierend, als wenn Person A so Person B mitteilen würde, was diese vom Tengelmann mitbringen soll (man als Zuschauer aber die Sprache nicht versteht), so würde das trotzdem so wirken, als versuche der Teufel in Menschengestalt, jemandem seine Seele abzuschwatzen (um beim Faust-Vergleich zu bleiben). Es ist recht naheliegend, dass diese Auflösung einfach damit zusammen hing, dass man nur eine Kamera zur Verfügung hatte (Wüstensand ist ja auch nicht ganz so pfleglich für das Equipment wie ein hübsch klimatisiertes Studio), aber was man hier teilweise mit einer Kamera geschafft hat, ist schon großes Tennis. Lange Kamerafahrten mit ausgefeilter Kadrierung, Rauminszenierung oder Desorientierung durch minimalste Montageentscheidungen, und das Ganze mit einem Stilbewusstsein, als hätte Bergman einst Stummfilme gedreht.
Und dann ist da der Ton (die Presse bekam leider nicht die restaurierte Fassung zu sehen, sondern eine eher übersteuert wirkende Konserve) mit einer »Musik«, die oft wie eine auf- und abschwellende »Atmo« wirkt. Unheilsschwanger hallt alles in den heiligen und manchmal weniger heiligen Hallen. Vieles verstört, aber es zieht einen in den Bann. Und dann diese Bildgewalt, ich kann sie nicht oft genug herausstellen. Und diese zutiefst cineastischen Momente, die unzählige Assoziationen aufflammen lassen wie bengalische Fackeln in einer Besenkammer. Zwei Händler / Hehler wie Variationen von Shylock und Don Corleone, ein herumgerissener Kopf mit vor dem Mund gerissener Hand wie Norman Bates nach dem Duschmord, zwei Handabdrücke wie ein blutiger Rorschachtest, der aber von den Protagonisten als »Schmetterling« gedeutet wird. Dann wieder eine lange Grabprozession und zwischendurch mal ein Knüppel mitten auf die Kamera, das ist Kino voll auf die Fresse, und selbst, wenn man gar keine Untertitel hätte und keine Handlungsansätze, wäre dieser Film ein Erlebnis.
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