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26. April 2009
Robert Mießner
für satt.org


Wenn die Trümmer sprechen

Brigitte Maria Mayers »Anatomie Titus Fall Of Rome« beunruhigt. Gerade deshalb sollten wir sehr genau hinsehen.

Im Februar 1913, Europa stand noch, erschien in Franz Pfemferts »Die Aktion« Gottfried Benns Zyklus »Alaska«. »Gesänge«, das sechste Gedicht, schließt: »Die Panther springen lautlos durch die Bäume / Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer«. Siebzig Jahre später, in Europa herrschte das Gleichgewicht des Schreckens und die Kriege fanden vor der Haustür statt, schrieb Heiner Müller »Anatomie Titus Fall Of Rome. Ein Shakespearekommentar« nach einem frühen Drama des Engländers. Einer dieser in den Text eingeschobenen Kommentare heißt »EXKURS ÜBER DEN SCHLAF DER METROPOLEN«, greift Benns Zeilen auf, verändert sie aber entscheidend: »DIE PANTHER SPRINGEN LAUTLOS DURCH DIE BANKEN / ALLES WIRD UFER WARTET AUF DAS MEER«. Hier wird deutlich, was Müller bezweckte, wenn er sich bei Texten anderer bediente. Er übernahm aus Benns Feier der Regression den Denkgestus, die Dynamik und verpasste der Vernunft einen belebenden Schuss Irrationalität.

  Brigitte Maria Mayer, Anatomie Titus Fall Of Rome
»DANN STEHT DER HUNGER IN DER TÜR«
Foto © Studio Brigitte Maria Mayer


Brigitte Maria Mayer, Anatomie Titus Fall Of Rome
v.l.n.r.: Anna Müller, Jeanne Moreau, Brigitte Maria Mayer
Foto © Daniel Wetzel

Jetzt hat Brigitte Maria Mayer, mit Müller bis zu seinem Tod 1995 verheiratet, nach dem »Titus«-Text eine filmische Installation erarbeitet, die auf die Sinne zielt und dabei das Denken beschleunigt. Sie interpretiert die Geschichte eines Imperiums, dessen Auflösung buchstäblich über die Körper der Betroffenen geht. Die Story: Während der römische Feldherr Titus Andronikus (Erdal Yildiz und Chief Gambagarana Wuni) Krieg gegen die Goten führt, kämpfen in Rom die Söhne des toten Kaisers um die Krone. Nach seiner siegreichen Rückkehr verhilft Titus, vom Volk als Kriegsheld verehrt und gefeiert, dem Kronprinzen Saturnin (Zhao Jia) zur Macht und bietet ihm seine Tochter Lavinia (Anna Müller, die Tochter Heiner Müllers und Brigitte Maria Mayers) zur Frau. Diese jedoch widersetzt sich und zieht den Bruder des neuen Kaisers Bassian (Khaled Ahmed Khalifa und Giacomo Bevilacque) vor. Anstelle Lavinias heiratet Saturnin die Gotenkönigin Tamora (Jeanne Moreau), Kriegsbeute des Titus, die auf Rache sinnt für ihren Erstgeborenen, den der Feldherr nach geltendem Brauch für die Gefallenen Roms opferte. Gemeinsam lässt das neue Kaiserpaar den Clan des letzten römischen Feldherrn Titus Andronikus gewaltsam zerbrechen: Lavinia wird geschändet, ihr Bräutigam und ihre Brüder ermordet. Titus treibt den einzigen ihm verbliebenen Sohn in die Reihen der Goten, ein Heer gegen Rom zu mobilisieren. Von dort und aus der aufbrechenden Peripherie verkündet Lucius (Zhang Lei und Abd El Rahman) den Untergang Roms und ein neues Zeitalter, das sich nicht mehr aufhalten lässt.

Die Bilder, die Mayer für diese grausam-wüste Geschichte findet, sind atemberaubend schön und schrecklich zugleich. Auf drei Leinwänden, im Heimkino auf dem Sofa wird dieser Film nicht funktionieren, laufen simultan Aufnahmen aus China, Dubai, Ägypten, Ghana und Syrien. Ein Großteil der Musik stammt von FM Einheit. Wir Europäer sehen die Bewohner geographischer Ränder, die ihre Rolle als globale Outcasts nicht mehr länger hinnehmen. Diese Menschen feiern Hochzeit und debattieren, haben selber die Trümmer vergangener Imperien vor Augen und sie arbeiten. Die Aufnahmen ihrer Schufterei sind ähnlich verstörend wie jene, die Michael Glawogger 2005 in »Workingman’s Death« zeigte. So muss über Globalisierung gesprochen werden: »ROM WARTET AUF DIE BEUTE SKLAVEN FÜR / DEN ARBEITSMARKT FÜR DIE BORDELLE FRISCHFLEISCH / GOLD FÜR DIE BANKEN WAFFEN FÜR DAS ZEUGHAUS / DAS VOLK AN WÜRSTCHENBUDEN UND IM BIERZELT«. Wenn es brennt, ist der Markt für Zerstreuung groß: »IM GOLDNEN ABEND ROMS BLÜHT DAS THEATER / MIT LUST UND SCHRECKEN DER VERWANDLUNG TOD / DIE LETZTE MIT DEM FARBFILM DER VERWESUNG«. Man sollte sich »Anatomie Titus Fall Of Rome« sehr genau ansehen. Wie seine Textvorlage romantisiert der Film an keiner Stelle und ist doch auch eine ästhetische Wucht. Er zeigt Welten in der Welt, bei denen die Nachrichtensprecher zugeben müssten, dass sie sich ihren Job nur noch schön trinken können.


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Brigitte Maria Mayer, Anatomie Titus Fall Of Rome (60 min):
Akademie der Künste, Pariser Platz 4, 10117 Berlin,
25. April - 24. Mai 2009

Begleitend: »Werkraum«, Ausstellung Hui Zhang

Katalog: Arbeitsbuch Theater der Zeit mit Film-Stills,
Notizen Heiner Müllers und Texten Gerald Wildgrubers,
Rose-Maria Gropps und Alexandra von Stoschs

INTERNATIONALE GESPRÄCHSREIHE
»FORMEN DER MODERNE – WO IST DAS NEUE ROM«
Das westliche Konzept von Modernität ist offensichtlich nicht mehr das einzig mögliche und wirtschaftlich erfolgreiche. Und doch scheint das Selbstverständnis des Westens als alleiniger Vertreter und Vorreiter der Moderne nahezu ungebrochen zu sein. Der Film »ANATOMIE TITUS FALL OF ROME« zeigt die Problematik eines eurozentrischen Weltbildes angesichts neuer und anders funktionierender Machtzentren. Wie aber stellt sich die westliche Weltordnung aus der Perspektive anderer Kulturräume, anderer Mächte dar, die ihre eigene Geschichte, Kultur, Tradition haben und aus dieser heraus und von dieser beeinflusst handeln. Ist neben der wirtschaftlichen auch die kulturelle Hegemonie, die Europa und Nordamerika implizit oder explizit für sich beanspruchen, gefährdet? Welche Wahrnehmungen gibt es in China und Ägypten auf die abendländische Kunst und Kultur? Wie positionieren sich diese Länder selbst? Was für Identitäten schreiben sie sich zu und mit welchen Mitteln?

I.
DIE WESTLICHE WELTORDNUNG
VON PEKING UND KAIRO AUS BETRACHTET
26. April 2009 | 18 Uhr Ausstellungsbegehung mit der Regisseurin Brigitte Maria Mayer und Filmvorführung; anschließend
Gespräch mit Prof. Ahmed Zayed (Dekan der philosophischen Fakultät der Cairo University), Prof. Zhao TingYang (Chinese Academy of Social Sciences, Beijing), Franziska Donner (ehem. Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, Berlin) und Dr. Manfred Osten (Generalsekretär a.D. der Alexander von Humboldt-Stiftung, Autor und Kulturwissenschaftler, Bonn). Begrüßung durch Randa Kourieh-Ranarivelo (Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, Berlin).

II.
WAS HÄLT GESELLSCHAFTEN ZUSAMMEN?
WAS GILT IHNEN ALS HEILIG?
10. Mai 2009 | 18 Uhr Ausstellungsbegehung mit der Regisseurin Brigitte Maria Mayer und Filmvorführung; anschließend
Gespräch mit Ohneba Adusei Poku (Vizekönig der Ashanti, Ghana), Prof. Dr. Thomas Macho (Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt Universität Berlin), Gerald Wildgruber (NCCR, Iconic Criticism, Universität Basel) und der Regisseurin Brigitte Maria Mayer (Berlin).
Kartenvorverkauf in der Akademie der Künste und telefonische Reservierung unter 030.20057-1000. Abendkasse 5 EUR



» anatomie-titus.net
» brigitte-maria-mayer.de